«Pa­ra­dig­men­wech­sel in der Pla­nung»

Welche Aufgaben stellen sich den Kantonen und Gemeinden, wenn es gilt, die neuen Siedlungsflächen zu begrenzen? Ein Gespräch mit der Thurgauer Kantonsplanerin Andrea Näf-Clasen.

Publikationsdatum
08-10-2015
Revision
10-11-2015

TEC21: Frau Näf-Clasen, die Begrenzung der Siedlungsfläche wird zur raumplanerischen Kernaufgabe. Wie weit ist der Kanton Thurgau?
Andrea Näf-Clasen: Wie in allen übrigen Kantonen stellt sich für die erste Etappe der RPG-Revision die Frage: Wie lässt sich das Siedlungswachstum beschränken? Wir haben bilaterale Gespräche mit allen 80 Gemeinden aufgenommen, um kommunal auf Ebene Bauparzelle Antworten zu finden. Der Kanton setzt auf transparent kommunizierte Rahmenbedingungen und lotet mit den Gemeinden Lösungsmöglichkeiten aus. Die Gespräche geben den Gemeinden aber auch Gelegenheit, die eigene Entwicklung zu reflektieren und die ortsspezifischen Perspektiven gemeinsam zu beurteilen. Der Kanton stellt dazu wichtige Informationen über Bauzonenreserven, demografische Daten oder Bevölkerungsentwicklung bereit. 

TEC21: Wie laufen die Gespräche mit den Gemeinden?
Näf-Clasen: Es treffen durchaus unterschiedliche Erwartungen und Vorstellungen aufeinander. Die Bauzonenreserven decken heute in etwa den Bedarf für die nächsten 15 Jahre ab. Daher haben wir einen gesamtkantonalen Rahmen gesetzt, der keinen grossen Spielraum für Erweiterungen zulässt. Aber wir bewegen uns erst im Behördenrahmen. Ziel ist, das kantonale Siedlungsgebiet neu festzulegen, zunächst auf Basis des kantonalen Richtplans und anschliessend auf der Stufe der Gemeinden. Sobald die Umsetzung aber Bauzonen und damit Grundeigentum betrifft, ist die Betroffenheit in der Bevölkerung ein wichtiger Aspekt. 

TEC21: Ein aktualisierter und vom Bund genehmigter Richtplan liegt nicht vor. Über welche Vorstellungen zur künftigen räumlichen Entwicklung verfügt der Kanton?
Näf-Clasen: Wir haben ein Zukunftsszenario für den Zeitraum 2030 bis 2040 entwickelt und die Zahlen vom Bundesamt für Raumentwicklung prüfen lassen. Gleichzeitig wurde ein kantonales Raumkonzept entworfen, das eine räumlich differenzierte Entwicklung und Struktur für die Regionen, Agglomerationen und urbanen Zentren enthält. 

TEC21: Auf nationaler Ebene sind die sogenannten XL-Reserven im Gespräch. Werden bei der anstehenden Korrektur nun wesentliche Teile der Bauzonen zurechtgestutzt?
Näf-Clasen: Es sind punktuelle Veränderungen zu erwarten, aber keine Rückzonungsoffensive im grossen Stil. Vorab im peripheren, ländlichen Raum zeichnen sich die grössten Reserven ab, was für die ganze Schweiz gilt. Unsere Datenlage beweist: Tendenziell sind die Volumen der Gemeinderucksäcke gross genug, um die Wachstumsperspektiven bewältigen zu können. Auf Ebene Richtplan wollen wir die auf den Bedarf massgeschneiderten Flächen ausweisen. 

TEC21: Also sind keine Zonenkontingente im Gespräch?
Näf-Clasen: Nein. Der aktuelle RPG-Vollzug bedeutet zwar einen eigentlichen Paradigmenwechsel zur Raumplanung der letzten 40 Jahre. Doch primär wird nun ein Lernprozess in Gang gesetzt, der massgebliche Korrekturen im Richtplan zur Folge hat. Die Anpassungen an den effektiven Flächenbedarf werden jedoch eine deutliche Zurückhaltung im künftigen Einzonungsverhalten bewirken. Wir haben zwar geringere Zersiedlungstendenzen als andere Kantone zu beklagen, müssen aber auf unser Tafelsilber, die attraktive Umgebung, achtgeben. Zudem sind die Perspektiven und Spielräume für die nächstfolgenden Generationen offen zu halten. Ich verstehe die RPG-Revision nicht als Mittel, um endlich Limiten zu setzen, sondern als positive Aufforderung für eine bescheidenere, massgeschneiderte räumliche Entwicklung. 

TEC21: Befürchten einzelne Gemeinden aber nicht, in ihrer Entwicklung abgehängt oder gebremst zu werden?
Näf-Clasen: Natürlich tauchen solche Bedenken auf. Dem können wir entgegenhalten: Der Kanton Thurgau hat in den letzten Jahren ein überproportionales Wachstum erlebt. Aber wenn die Kulturlandschaft wie bisher als Standortfaktor wichtig sein soll, müssen wir dafür etwas tun, ohne zum Ballenberg zu werden. Unsere räumliche Ausgangslage ist gut, verglichen mit anderen Kantonen. Gleichzeitig ergibt sich daraus ein geringer Leidensdruck, was das Verständnis für Veränderungen nicht unbedingt erhöht. Die Gespräche mit den Gemeinden werden aber dadurch erleichtert, dass wir zwei Instrumente zur Flächenbegrenzung bereits seit Jahrzehnten kennen: die rote Siedlungslinie und das Flächenausgleichsprinzip bei Einzonungen. Ausmass und Anwendung werden sich nun aber nach den neuen, weniger grosszügigen Vorgaben richten. Das heisst: weniger Einzonungen und eine Verlagerung von Bauzonenflächen.

TEC21: Einen Entwicklungsstillstand soll es also nicht geben. Was kann die Raumplanung den Gemeinden dafür anbieten?
Näf-Clasen: Die Entwicklung nach innen! Das ist für einmal eine positive Kehrseite der Medaille. Daher will der Kanton die Flexibilität für Veränderungen im Siedlungsgebiet erhöhen, etwa bei denkmalpflegerischen Fragestellungen. Doch die Entwicklung im Innern benötigt mehr Zeit in der Vorbereitung. Im Thurgau sind wir daran, die Grundlagen für eine massgeschneiderte Verdichtung vor Ort zu erstellen. Dazu gehört zum Beispiel eine Arbeitshilfe mit der Darstellung unterschiedlicher Gemeindetypen und des bestehenden Dichtespektrums anhand von Referenzbildern. Diese Bestandsaufnahme soll die Vorstellungskraft verbessern, damit Verdichtungsdiskussionen nicht technokratisch geführt werden müssen. Die Entwicklung nach innen benötigt zudem einen Konsens, welche Zentren sich zur Verdichtung eignen oder wo der Kulturgüterschutz im Vordergrund steht. 

TEC21: Welche weiteren Knacknüsse sind im laufenden raumplanerischen Lernprozess zu erwarten?
Näf-Clasen: Wichtig ist derzeit der Austausch mit den Gemeinden. Dieser beruht auf gegenseitigem Vertrauen und einer offenen Gesprächskultur. Gleichzeitig haben wir es mit einem sensiblen Bereich zu tun, was die Kommunikation anspruchsvoll macht. Daher legen wir grossen Wert darauf, nicht zu viele Diskussionen gleichzeitig zu führen. Jetzt werden die Behörden und Interessenvertreter beteiligt; die Pläne werden den Grundeigentümern und der Öffentlichkeit erst nach Abschluss der Vorgespräche präsentiert. Das wird etwa ab Frühjahr nächsten Jahres sein. Wir gehen auch diese Auseinandersetzung mit grossem Respekt an, denn das Eigentum hat nun mal einen hohen Stellenwert. Mit Konflikten ist zu rechnen. 

TEC21: Ist die Raumplanung als Fachgebiet für die neuen Herausforderungen gerüstet?
Näf-Clasen: Die zentrale Aufgabe ist die Vermittlung, dass die Ansprüche an den Raum grösser geworden sind, aber die Verfügbarkeit beschränkt bleibt. Es geht darum, die Zusammenhänge verständlich zu machen und die Auswirkungen vor Ort nachvollziehbar und glaubwürdig aufzuzeigen. Die Planenden selbst dürfen sich nicht hinter langwierigen Prozessen verstecken. Wir dürfen aber nicht den Fehler begehen, nun zu meinen, wir könnten alle Defizite vorangegangener Entwicklungen auf einen Schlag beheben. Auch wir sind nicht im Vollbesitz aller Weisheiten; der Umgang mit Ungewissheiten wird daher umso wichtiger. 

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