«Die­se Bau­ten be­rüh­ren mich»

Die Ingenieure Hans-Heini Gasser, Julius Natterer und Hermann Blumer gelten als Wegbereiter im Ingenieurholzbau. TEC21 hat mit Holzbauingenieur Pirmin Jung über die drei Pioniere und ihre Werke gesprochen.

Publikationsdatum
11-05-2023

TEC21: Herr Jung, Sie arbeiteten mit Julius Natterer und kennen auch Hans-­Heini Gasser und Hermann Blumer. Welche berufliche Bedeutung haben die drei Ingenieure für Sie?

Pirmin Jung: Die drei Herren verkörpern wichtige Komponenten des Ingenieurholzbaus: Hermann Blumer, der technisch schon früh sehr weit war, der die Stahldübelverbindung standardisierte oder die Hochfrequenzverleimung anwendete. Julius Natterer, der möglichst einfache und logische Tragwerke schuf, in denen so wenig bearbeitetes Holz wie möglich zum Einsatz kam. Und Hans-Heini Gasser, der durchdachte Tragwerke entwickelte, zugleich Politiker war und im Vorstand der Verbände mitwirkte. Ohne die drei Ingenieure, die so leidenschaftlich arbeiteten, stünde der Ingenieurholzbau nicht dort, wo er jetzt steht.

Gibt es auch einen persönlichen Bezug zur Entwicklung, für die der Holzbau damals stand?

Während der Lehre als Zimmermann durfte ich die ersten Lignatur-Hohlkästen aus dem Betrieb von Hermann Blumer, die das Unternehmen nicht selbst montierte, auf der Baustelle einbauen. Ich habe eine Menge BSB-Binder zusammengedübelt, und mein Lehrbetrieb schaffte sich am Ende meiner Lehrjahre einen Lignamatik-Abbundroboter an, den Blumer mitentwickelt hatte. Zudem wusste ich, dass HansHeini Gasser Regierungsrat und Präsident des SIA war. Was er an Öffentlichkeitsarbeit geleistet hat, darf nicht unterschätzt werden. Dabei trat Gasser nicht auf, wie man es von Politikern kennt, er wirkte eher introvertiert. Ein leiser Schaffer, der überlegt handelte. Seine Gebäude sind sorgfältig geplant, gerechnet und detailliert dokumentiert. Ihn zeichnete eine hohe Berufsethik aus.

In den ersten Jahren Ihrer beruflichen Karriere als Holzbauingenieur haben Sie mit Julius Natterer zusammengearbeitet. Was zeichnete ihn aus?

Er hatte eine unvergleichbare Intuition für Kräfteverläufe in einem Tragwerk und ein unfassbar gutes Gespür für stabile statische Systeme. Er sah ein Thema, ein Problem, nahm eine Serviette beim Mittagessen und skizzierte ein geniales Tragwerk. Er konnte begeistern und mit seinen Referaten alle in seinen Bann ziehen. Natterer war von seinem Charakter und in seiner Art eigentlich viel eher der Politiker, obwohl er gar nicht politisch tätig war. Er war der Kommunikator, der an der EPFL lehrte. Aber seine Tragwerkskonzepte zu berechnen, das überliess er gerne seinen Mitarbeitenden. Verformungsnachweise, Bemessungen oder detaillierte Berechnungen von Verbindungsmitteln gibt es kaum von ihm selbst. Er war überzeugt, dass ein richtig konstruiertes Tragwerk eine Berechnung überflüssig macht. Geniale Ideen von stabilen Tragwerken standen oft kaum zu berechnenden normspezifischen Aspekten gegenüber.

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Was bedeutet es denn, «richtig» zu konstruieren?

Für mich bedeutet es ganz allgemein, ein Tragwerk mit einem einfachen, logischen Kräfteverlauf zu entwickeln. Es bringt nichts, die vierte Stelle hinter dem Komma zu kennen, wenn man vorher nicht richtig konstruiert hat. Natterer suchte die Lösungen nicht über die eigentliche Bemessung, sondern über die konstruktiven Aspekte. So setzte er in der Recyc­ling­halle in Wien, die einen Durchmesser von 180 m aufwies, einen pragmatischen Ansatz durch. Damals verwendete man in seinem Münchner Büro erstmals den Computer, um Verformungsberechnungen durchzuführen. Aber man konnte nicht nachweisen, dass die Halle so formstabil ist, wie sie nach Norm mit Gefahrenbildern wie einseitiger Schneebelastung zu sein hatte. Natterer verhandelte mit der Bauaufsichtsbehörde und setzte durch, dass nach der Fertigstellung der Halle Wasserkübel ans Dach gehängt werden sollten, um so die einseitige Belastung durch den Schnee zu simulieren. Es stellte sich heraus, dass die errechneten Verformungen nur zur Hälfte eintraten. Das war für ihn erneut Beweis genug, dass ein gutes Tragwerkskonzept vor der eigentlichen Berechnung zu stehen hatte. Mit dieser ihm ganz eigenen Art konnte er gute Ingenieure um sich scharen. Sie halfen, seine Ideen in die Realität umzusetzen – abgesegnet von Prüfingenieuren und den aktuellen Normen entsprechend.

Insbesondere entwickelte er Holztragwerke, die mit möglichst wenig Verbindungen auskommen

Er hat immer darauf hingewiesen, dass es im Holzbau zentral ist, Stabtragwerke zu konstruieren und dabei Verbindungen zu reduzieren. Denn diese sind teuer in der Herstellung und wegen des Schlupfs verformungsanfällig. Bei der gedeckten Brücke Clos du Doubs in Saint-Ursanne im Jura konstruierte er mit wenigen Verbindungen ein Fachwerk, dessen grösster Knoten mit einem formverleimten Brettschichtholz gelöst ist. Das hatte ich in dieser Konsequenz vorher nie gesehen. Später liess er vermehrt von Brettschichtholz ab und wollte das Material möglichst in seiner Grundform als Rundholz und in der Form von Brettstapeln einsetzen. Hin zur konstruktiven Einfachheit. Nageln oder verdübeln reicht aus, es wird keine Leimfuge belastet. Dafür reichen sägeraue Bretter. Das spart Material und Zeit, denn beim Leimen muss jedes Brett erst gehobelt werden.

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Steht diese Generation nicht eher für den technischen Fortschritt? Widerspricht der Ansatz der Einfachheit nicht der fortschrittlichen Entwicklung?

So unterschiedlich die Protagonisten in ihrer Persönlichkeit waren, so unterschiedlich waren auch die einzelnen Interessen. Während Natterer die Ein­fachheit widerspiegelt, steht Blumer für den technischen Fortschritt. Er hat mit seiner Arbeit die grossen Dimensionen im Holzbau ermöglicht, und er hat in den 1980er-Jahren die Stabdübelverbindungen weiterentwickelt, den ersten fünfachsigen Abbundroboter geschaffen und die materialeffizienten verleimten Hohlkästen der Lignatur gemacht.

Schliesst dieser technische Fortschritt die rechner­gestützte Planung ein?

Ja. Die rechnergestützte Planung mit 2-D- und 3-D-CAD sowie der damit mögliche vollautomatisch gesteuerte, maschinelle CNC-Abbund zur exakten Fertigung von Brettschichtholz-Bauteilen fast jeder Dimension erlauben eine hocheffiziente Bauweise. Das CAD-Programm Cadwork gehört wie die Verbindungstechnik und die neuen Klebtechniken untrennbar  zum Ingenieurholzbau. Die frühen Ingenieur-­Holz­kon­struk­tionen waren noch fast vollständig auf handwerkliche Verbindungen angewiesen. Immer grösser werdende Spannweiten erforderten immer leistungs­fähigere Verbindungstechniken und Verbindungsmittel wie Nägel, Stabdübel, Sonderdübel oder Stahl­blech­formteile sowie eingeklebte Gewindestangen. Auch die systematische Untersuchung von Keilzinkenverbindungen trug wesentlich zur Weiterentwicklung des Ingenieurholzbaus bei. Der Brandschutz war übrigens ebenfalls ein Treiber. Reinhard Wiederkehr analy­sierte zum Beispiel die unterschiedlichen kantonalen Brandschutzvorschriften. Diese Arbeit war eine wichtige Grundlage, die 1995 zu den ersten vereinheitlichten Brandschutzvorschriften der Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen (VKF) führte. Eine «Revolution», die zum Konstruieren ebenso wichtig war wie die Ansätze von Gasser, Natterer und Blumer.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 15/2023 «Wegbereiter im Ingenieurholzbau».

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