Prä­zi­se be­rech­net

Die Bauten von Ingenieur Hans-Heini Gasser (1932–2022) zeichnen sich durch eine exakte Berechnung aus. Seine Bethanienkirche bei Kerns OW inspirierte Holzbauingenieur Thomas Rimer, als er den Zauberhut in Rapperswil konstruierte.

Publikationsdatum
10-05-2023

Die Suche nach Pionieren im Ingenieur­holzbau führte in den Kanton Obwalden. Dort steht seit 1971 mit der Kirche Betha­nien ein wenig bekanntes Kleinod, das auch heute noch als Vorbild für Holzkonstruktionen dient. Entwickelt hat die Dachkonstruktion der Ingenieur Hans-Heini Gasser aus Lungern. Zeitgleich mit den Betonschalenbauern Ulrich Münther oder Heinz Isler erstellte er mehrere Schalentragwerke mithilfe von gekreuzten Bretterlagen. Gasser war nicht der Erste: Bereits ab ca. 1956 wuren vor allem in England erste HP-Schalen (Hyperbolische Paraboloide) aus Holz erstellt.

Doppelt gekrümmte Dachschale aus Holz

1971 erhielt die neue Kapelle des Bethanienheims in St. Niklausen bei Kerns OW ein Schalendach. Es war zu diesem Zeitpunkt das einzige Bauwerk dieser Art in der Schweiz, wie Hansjakob Strässler 1976 in der Schweizerischen Bauzeitung schrieb.¹ Der 22.5 m×22.5m grosse Kirchenraum wird von einer sattelförmig geschwungenen, doppelt gekrümmten Dachschale überspannt. Die aus Holz konstruierte Schale – Gasser genügten zwei Lagen verleimter Bretter – liegt nur auf zwei schräg platzierten, konisch zulaufenden Betonstützen auf und wird von der Fassade stabilisiert. Die Raumhülle besteht aus übereck aneinandergereihten Holzelementen. Die Aussenwände erzeugen Leichtigkeit, indem sie mit vertikalen Lichtschlitzen ausgeführt sind und auch zwischen Dach und Aussenwand sowie Aussenwand und Boden über durchgängige Lichtbänder verfügen.

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Texte von und über Dr. Hans-Heini Gasser, die in der Schweizerischen Bauzeitung ver­öf­fentlicht wurden.

Der Zusammenbau der Schale erfolgte ausserhalb der Kapelle auf einer Lehre, die aus direkt abgestützten, geraden Balken bestand. Die Randglieder verleimte man in der Werkstatt spiralförmig. Die untere Hälfte wurde mit der Lehre zusammen in die richtige Lage versetzt, um die erste Lamellenlage aufnehmen zu können. Die kraftschlüssige Verbindung erfolgte über fugenfüllenden Leim. Der Pressdruck wurde mit einer Nagelung erzeugt, die schon für sich allein eine ausreichende Verbindung gewährleisten würde. Die zweite Lage der Schalung wurde vollflächig mit der ersten Lage verleimt und an jeder Lamellenkreuzung mit zwei Schrauben verbunden. Über den Randträgern befindet sich eine Nagelverbindung. Die obere Hälfte der Randträger wurde mit der zweiten Lamellenlage verleimt. Für den Pressdruck sorgten durchgehende Bauschrauben M16 im Abstand von 50cm. Ein Montagezugband verband temporär die mit je einem Stahlschuh versehenen Fusspunkte, um eine Montage der Schale mit zwei Kranen zu ermöglichen. Die beiden Hochpunkte wurden je über ein Seil mit den Kranhaken verbunden, sodass die Schale während des Hebens und Verschiebens in ihrer labilen Lage ausbalanciert werden konnte.

Inspiration für Knies Zauberhut

Thomas Rimer, Bauingenieur und Projektleiter bei Pirmin Jung Schweiz, kennt die Bethanienkirche seit seiner Ausbildung: «Otto Schärli, der Architekt dieses Bauwerks, war mein Senior-Lehrmeister in der Hochbauzeichnerausbildung. Er war ein Exzentriker, eine wahnsinnig inspirierende Persönlichkeit und konnte mit Licht und Raum unglaubliche Stimmungen erzeugen – die ich ganz ehrlich auf dem Plan nie verstanden, vor Ort aber umso intensiver wahrgenommen habe. Er hat mich zur Bethanienkirche geführt, die nun als Inspiration für das Projekt Zauberhut diente.»

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Der Zauberhut steht seit 2020 in Knies Kinderzoo in Rapperswil. Der Entwurf stammt von Carlos Martinez Architekten. Die Form ergab sich aus der Vorgabe, das geringstmögliche zu beheizende Volumen mit gegebenem Raumprogramm, aber auch die nötige Höhe für Lichttechnik und Trapezkünstler zu erstellen. Zudem sollten möglichst alle Zugkräfte in den Untergurten, sprich Kehlbalken, durch das Eigengewicht des Daches überdrückt werden, um so insbesondere an den Elementstössen auf Zuganschlüsse verzichten zu können. Die Form ist demnach so gewählt, dass alle vorgefertigten Dachelemente ohne Verbindungsmittel auf Druck zu einem Ganzen gefügt werden konnten.

Thomas Rimer war verantwortlich für die Berechnung des Tragwerks und ging auf die Suche nach Bemessungsgrundlagen für Flächentragwerke: «Bei Knies Zauberhut kam mir dann sofort die Konstruktion von Gasser in den Sinn. Diese Art der Schalungsanordnung eignete sich perfekt für die Geometrie der zu projektierenden Dachform. Gasser dokumentierte seine Berechnungen in einer Lignatec-Publikation

Der Vergleich beider Dachaufbauten zeigt, dass die Konstruktion Gassers 1:1 in die heutige Zeit übernommen werden kann: zwei Lagen Schalungsbretter, darüber eine mineralisch gebundene Faserplatte, die heute auch als Brandschutzauflage benötigt wird, vor allem aber als Pufferschicht gegen die Feuchtigkeit, die sich unter der Eindeckung bilden kann. Abschliessend eine Dichtungsbahn und die Eindeckung – in Rapperswil sind das unregelmässig geformte Metallschuppen, im Fall der Bethanienkirche etwas weniger spektakulär eine einfarbige Blechabdeckung.

Rimer erläutert: «Der Vorteil ist, dass man die komplexen Geometrien der Gurte heute problemlos in Brettschichtholz herstellen kann. Der Austausch über digitale Modelle ist hier sehr hilfreich, sodass Statik, Architektur und Produktion effektiv übereinstimmen. Das war früher eine ungleich grössere Herausforderung.» Und weiter: «Doch auch heute muss eine geometrisch handhabbare Form gewählt werden, sodass zum Beispiel Brettschichtträger nur ein- und nicht zweiachsig gebogen werden müssen, um hohe Produktions­kosten zu vermeiden.» Deshalb war eine Bedingung bei Knies Zauberhut, dass Grat- und Kehlbalken im Grundriss als sich in einem Punkt schneidende Geraden abgebildet werden können. Ebenso wichtig ist eine absolut störungsfreie Schale, da Störzonen zu grossen Schwächungen der rotationssymmetrischen Struktur führen. Das gefaltete Dach besteht nun aus sich wiederholenden Segmenten, die jeweils aus zwei einachsig gebogenen Balken – den Grat und Kehlen – sowie dazwischenliegenden geraden Stäben als «Sparren» bestehen. Die Flächen sind windschief und mit einer diagonalen Nut- und Kamm-Schalung ausgefacht. Die erwünschte Akustik wurde mit einer zusätzlichen Konstruktionsschicht über die Perforationsdichte der Deckenplatten gesteuert. Die Platten sind auf der Rückseite leicht eingefräst, was eine Biegung ermöglichte. Die Haustechnik wurde in einem umlaufenden Bodenkanal unter der Tribüne installiert. Der Betonboden, auch für Elefanten dimensioniert, wird als Wärme- und Kühlmasse eingesetzt, was die Luftströmungen im Raum auf ein Minimum reduziert. Dem Zauberhut gelingt es ebenso wie der Bethanienkirche, im Inneren ein Gefühl von Leichtigkeit zu vermitteln.

Die ausführliche Version dieses Artikelsl ist erschienen in TEC21 15/2023 «Wegbereiter im Ingenieurholzbau».

Zauberhut, Rapperswil SG

 

Fertigstellung
2020

 

Planungszeit
2017–2018

 

Bauzeit
Oktober 2019 bis September 2020

 

Durchmesser Zeltdach
32 m

 

Höhe Turm
28 m

 

Hutspitze
7 m Durchmesser, 18 t Gewicht

 

Nutzung
Zirkusvorstellungen für Kinder und Erwachsene, abends auch Bankett­bestuhlung möglich

 

Bauherrschaft
Gebr. Knie Schweizer National-Circus

 

Architektur
Carlos Martinez Architekten

 

Generalplanung
Ghisleni Partner

 

Tragwerkplanung und Statik
Pirmin Jung Schweiz

 

Holzbau, Planung, Umsetzung
Blumer Lehmann

 

Metalldach
Beat Brönnimann

Die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst organisiert am 7. Oktober 2023 eine Exkursion zu Objekten von Hans-­Heini Gasser. Geplant ist u.a. die Besichtigung der Turnhalle Sarnen, der Bethanienkirche in Kerns und der Kirche St. Andreas Frauenkloster in Sarnen.

 

-> www.ingbaukunst.ch/de/veranstaltungen/index.html

Anmerkungen

 

1 Hansjakob Strässler, «Entwicklungen im Ingenieur-­Holzbau», in: Schweizerische Bauzeitung, Band 94, Heft 25, 17.6.1976.

 

a Hans-Heini Gasser, Skisprungschanzen. Bau-Norm 2028. Ausführungsbestimmungen zu Art. 411 IWO Skispringen, FIS.

 

b Thomas Hahn, «Verzwickte Mathematik des Fliegens», in: Süddeutsche Zeitung, 27.12.2013.

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