«Es braucht ei­ne ge­sun­de Hart­nä­ckig­keit»

Hermann Blumer hat die Faszination des Baustoffs Holz und nicht zuletzt den Leistungsausweis des Schweizer Holzbaus in die Welt getragen. Im Gespräch berichtet er von bahnbrechenden Erfolgen und herben Rückschlägen.

Publikationsdatum
16-06-2023

TEC21: Wir schreiben das Jahr 1979 und fragen uns, wo Sie damals beruflich standen. Was geschah und welche Pläne und Ideen hatten Sie im Kopf?

Hermann Blumer: 1978 meldete ich das Patent für die Blumer-System-Binder (BSB) an, die noch heute als mechanisches Verbindungssystem auf dem Markt präsent sind. Der Wunsch nach einem solchen System entstand aus dem Mangel an vernünftigen Holzbauverbindungen für Fachwerke. Stabdübelverbindungen waren damals wissenschaftlich noch kaum abgesichert und führten zu zahlreichen Bauschäden. Es wurde noch von Hand bzw. mit Handmaschinen gearbeitet und lediglich luftgetrocknetes Schnittholz verwendet. Tragwerksysteme aus Holz hatten deshalb keine ausreichende Tragsicherheit, Schnittholz ist zu inhomogen und schwer kontrollierbar. Darunter litt der Holzbau.

Kaum gab es aber effiziente Verbindungssysteme, stellte man fest, dass das massive Schnittholz unzureichend war …

Deshalb kamen verleimte Hölzer – sprich Brettschichthölzer – zur Anwendung. Insbesondere initiiert von Professor Ernst Gehri, der an der ETH Zürich Versuche durchführte, woraus sehr viele Erkenntnisse gewonnen werden konnten (vgl. «Forschung und Praxis»). Das darf man durchaus als Revolution bezeichnen. Seine Erkenntnisse wurden über Publikationen gestreut und beeinflussten die europäische Normierung. Forschungsstätten wie Karlsruhe wurden informiert, und so begannen auch sie, das Wissen aufzugreifen und das Verbindungswesen mit wissenschaftlichen Absicherungen und präzisen mechanischen Verarbeitungen voranzutreiben.

Es war die Zeit, als Revolutionen im Holzbauwesen vor allem dank der Verbindungstechnik möglich wurden. Die Verleimung diskutierte man aber durchaus auch kontrovers. War das eine ideologische Diskussion – Massivholz contra verleimte Hölzer?

Die Verleimung wurde in der Tat auch kritisch betrachtet. Es sei nicht die Zukunft des Holzbaus, Holz zu verleimen. Obwohl man erkannte, dass es mit der energetischen Ertüchtigung der Gebäude schwierig wurde, Massivholz trocken einzubauen. Ausserdem befürchtete man, dass die Sägereien zugrunde gehen würden, wenn man mit Brettschichtholz statt mit Massivholz arbeitete – was in einem gewissen Sinne später auch eintrat. Aber den Weg allein mit Massivholz weiterzugehen, wäre aus heutiger Sicht ungünstig gewesen: Der Holzbau hätte nie diesen Aufschwung erfahren können, den er in den letzten Jahrzehnten erlebte. Während Entwicklungen gibt es immer wieder Phasen eines Paradigmenwechsels. Verunsicherungen oder gar Ängste entstehen, wenn man Bewährtes verlässt. Für diejenigen, die Neues versuchen, kann der Weg steinig werden.

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Durchhalten ist gefragt?

Im modernen Holzbau gilt für mich die Losung, dass wir sowohl bewegen als auch bewahren müssen. Dafür braucht es seit jeher verschiedene Protagonisten. Ernst Gehri ging es darum, das Verhalten von Verbindungen und Holztragwerken analytisch zu untersuchen und zu verstehen, homogenere Holzwerkstoffe wie Brettschichtholz einzubringen und ihre Zuverlässigkeit in Festigkeitsklassen festzuhalten. Diese analytische Denkweise war zum Beispiel bei Julius Natterer (TEC21 15/2023 «Weg­bereiter im Ingenieurholzbau») weniger ausgeprägt. Er sagte vielmehr, man solle architektonisch attraktive Bauwerke erstellen, die sichtbar und erkennbar sind, denn genau dies fördere den Holzbau. Die Bauten, die Julius Natterer erdachte, entwarf, entwickelte und ausführen liess, suchen ihresgleichen. Ernst Gehris Anliegen hingegen war vielmehr, dass Tragwerke statisch logisch und qualitätsgesichert geplant werden.

Was trieb den Paradigmenwechsel an?

Es waren sicherheitsspezifische Aspekte und die Industrialisierung mittels Maschinen, die über Computer angesteuert werden konnten. Sie halfen, Tragwerke aus Brettschichtholz konkurrenzfähig zu machen und frühere Nagelbinder oder Dübeltragwerke zu verdrängen. Wir bewegten uns zu Beginn der Entwicklung aber auf dünnem Eis. Dass wir die Computer selbst programmieren mussten, brachte unsere Firma an die Grenzen der Finanzierbarkeit. So mussten wir unsere anfänglich noch nach alten Normen konzipierten Fachwerke teilweise nachträglich verstärken. Versuche an der ETH in grossem Massstab hatten ihre Unzuverlässigkeit schonungslos aufgezeigt. Es gab Versagen in den Verbindungen, Instabilitäten im Verbindungsbereich und spröde Abrisse der Zugstäbe auf einem sehr tiefen Sicherheitsniveau.

Sie sind grosse Risiken eingegangen und mussten schwere Rückschläge erdulden. Nach dem Zusammenbruch der Appenzeller Kantonalbank zerschlug es ihre Unternehmensgruppe. Und doch stehen sie heute noch für den technischen Fortschritt und die damit zusammenhängende, offensichtliche Veränderung der Formensprache im Holzbau.

Zu einem gewissen Grad ist das so. Den Mut, den es dafür braucht, hatte damals niemand. Ich war immer extrem risikofreudig. Mein Weg war tatsächlich geprägt von Misserfolgen. Mein Vater, der das Unternehmen von seinem Vater, dem Gründer, übernommen hatte, war in Sorge. Aber ich hatte diesen ausgeprägten Drang, und ich hatte zum Glück die wertvolle Unterstützung von Professor Ernst Gehri. Ich war also überhaupt nicht alleine, sondern hatte ein Team um mich herum. Erst dadurch und vor allem dank Ernst Gehri konnten wir meine radikalen Ansätze verifizieren. Er ist eine wunderbare Persönlichkeit, die geholfen und alles getan hat, wenn man in Not war. Er ist in meinen Augen der grösste analytische Pionier im gesamten Holzbau. Dank seinem grossen erarbeiteten Wissen konnte er die Normierung im Bereich des Holzbaus strukturiert in die richtige Richtung lenken. Zuvor waren die Holzbaunormen wenig auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgebaut, sondern oftmals empirisch festgelegt gewesen. Ernst Gehri ging ganz systematisch vor – vermutlich geprägt vom Stahlbau, wo er ursprünglich herkam –, in einer beeindruckend didaktischen und höchst menschlichen Art und Weise. Natürlich haben auch andere Universitäten den Holzbau vorangetrieben – beispielsweise die Universität Karlsruhe, die viele Versuche durchgeführt und daraus Erkenntnisse gewonnen hat. Auch dieses Institut war bezüglich Holzbau auf einem sehr hohen Bildungsniveau – wenn nicht gar auf höchstem Level. Aber die Gründlichkeit kam durch Ernst Gehri.

War Ihre Zusammenarbeit mit Ernst Gehri von der Verknüpfung von Theorie und Praxis geprägt?

Das kann man durchaus so sehen. Man muss sich vorstellen, dass wir damals BSB für die Eishalle in St. Imier montierten und einer während der Mon­tage 1982 instabil wurde und einstürzte. Ich war am Boden zerstört. In diesem Moment ging ich zu Ernst Gehri. Er half mir, die Ursache für den Einsturz zu finden. Dank Versuchen kamen wir dem Versagen allmählich auf die Spur – ich hatte zu dünne Stifte und Bleche verwendet und diese zu nahe beieinander angeordnet. Daraus ergab sich die Instabilität in den Knoten. Die Verbindungsstelle knickte auf Druck aus. Das hatte bislang niemand so erfasst.

Mehr Beiträge zu Hermann Blumer finden Sie in unserem digitalen Dossier.

Die Folge: Das Vertrauen in den Holzbau war Ende der 1980er-Jahre kaum noch da. Mit unseren Erkenntnissen an der ETH schöpften wir aber wieder Mut und suchten nach Lösungen mit hunderten von Versuchen, die die notwendigen Sicherheitswerte erbringen konnten. Beim BSB-­System waren diese Werte nun da. Es konnten Theorien für dickere Stabdübel daraus abgeleitet und letztlich auch solche Tragwerke zuverlässiger genormt werden.

Insofern trug ein tragisches Ereignis viel zur Weiterentwicklung des Holzbaus bei?

Das stimmt. Der Druck auf mich war riesig. Die Umwelt fühlte sich damals bestätigt und sagte, dass dieses System ohnehin nicht funktionieren könne. Leider ereignete sich danach ein noch viel tragischerer Fall: der Bruch der hölzernen Olympiaringe in Barcelona 1992. Auch da half mir Ernst Gehri weiter. Diese wiederum neuen Erkenntnisse in Bezug auf das Einleimen von stählernen Gewindestangen legten das Fundament für die Säulenkonstruktion des Heliotrops – ein Baumhaus, das sich der Sonne entgegendreht. Die tragende Stütze, ein Polygonrohr mit 3 m Durchmesser, wurde als leichte Holzkon­struktion ausgeführt. Für die Eckverbindungen verwendeten wir Bewehrungseisen, die wir einleimten. Die einzelnen Bauteile wurden computergesteuert vollautomatisch auf der Lignamatic zugeschnitten.

Sie arbeiteten aber nicht nur mit der ETH zusammen, sondern suchten auch die Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Holz in Biel.

Ernst Gehri war nicht für jede architektonische Idee zu haben. Er vertrat, wie gesagt, konsequent die Meinung, dass ein Tragwerk statisch logisch sein muss. Bei Shigeru Ban hatte ich aber auf Entwurfsideen einzugehen, die manchmal von der statischen Logik abwichen. Ich musste einen anderen Partner suchen, der meine Konstruktionen mit Forschungen absicherte, auch wenn wir in unserem Ingenieurbüro ausgewiesene Experten hatten, die ähnlich analytisch denken konnten, wie es Ernst Gehri tat. Mitte der 2000er-Jahre entstand ein neuer Pool von Kompetenz, der sich den Freiformen widmete. Daraus ent­wickelten sich die Projekte Clubhaus des Golf Resorts im südkoreanischen Yeoju (2009) und Centre Pompidou in Metz (2010). Beides wegweisende Holzbauten.

Die wissenschaftliche Herangehensweise ebnete den Weg für eine neue Formensprache im Holzbau?

Ja. Dank diesen Projekten entstand sogar ein Multiplikationseffekt im Holzbau. Der Nachwuchs beschäftigte sich vermehrt damit, was zusätzlichen Schub generierte. Mein Versprechen an Shigeru Ban, in etwa zwei Wochen eine Lösung für das Projekt zu finden, das den Wettbewerb für das Centre Pompidou gewonnen hatte, konnte ich erst sieben Monate später einlösen. Dank hart­näckigem Dranbleiben, Denken, Tüfteln fand ich die ganz einfache, aber dennoch nicht naheliegende Lösung: Man musste die Träger über einen zentrierten dicken Nocken einfädeln. Beim Wisdome in Stockholm setzten wir das System erneut ein. So konnte auch dieses spektakuläre Projekt nach dem Bau von ersten Mockups umgesetzt werden. Mich freut das jeweils sehr, denn ich kann es nicht ertragen, wenn ich mein Versprechen nicht halten kann. Ich bringe mich so jeweils in einen grossen Zugzwang mit dem Vorteil, dass mein Kopf selbst im Schlaf nach Lösungen sucht. Es braucht Geduld, Lösungsansätze zu finden. Vor allem aber braucht es dafür eine gesunde Hartnäckigkeit.

Sie sind mit Ihren Erfindungen wohl oft Ihrer Zeit voraus.

Mir kommt da der Lattenträgerrost in den Sinn, für den ich 1979 die Idee hatte. Er soll künftig den Bau von Trägerrosten mit zweiseitiger Lastab­tragung ermöglichen. Brettsperrholz gab es damals noch nicht. Solche Roste benötigen dank der Hohlräume markant weniger Material. Und Hohlräume sind doppelt nützlich, sie können mit Zusatzstoffen für Zusatzfunktionen gefüllt werden. Die Zeit für dieses System wird noch kommen. Wenn man den aktuellen Markt anschaut, dann erkennt man durchaus, dass gerade solche feingliedrigen Systeme bald ihr Einsatzgebiet finden werden. Immerhin sind wir jetzt mit der Technologie so weit, dass wir solche auf den ersten Blick aufwendigen Systeme erstellen könnten. Die Finanzierbarkeit für die notwendige Entwicklung mit Versuchen auf maschinellen Anlagen liesse sich bestimmt bewerkstelligen, denn die ökologischen Aspekte haben mittlerweile ein höheres Gewicht und sprechen für eine solche Umsetzung, gestützt von gesellschaftlichen Priorisierungen.

Dann wäre jetzt die Zeit reif, die Idee wieder aus der Schublade zu nehmen?

Tja, wenn ich nochmals 40 wäre, würde ich in der Tat einige alte Ideen umsetzen. Den Jungen empfehle ich, hartnäckig nach kreativen Ansätzen zu suchen und diese ausdauernd umzusetzen. Ich bin bereit, sie zu unterstützen – im Wissen, dass es einen langen Atem braucht.

…und es braucht neben den mutigen Leuten auch eine Bauherrschaft, die sich auf solche Projekte einlässt. Oder Unternehmen, die das Risiko auf sich nehmen wollen.

Das ist absolut richtig. Es braucht alle diese Puzzleteile bis zu einem umgesetzten Projekt. Zusätzlich braucht es Motivation. Man muss die an einer komplexen Aufgabe Beteiligten motivieren, diese durchaus riskanten Wege zu gehen. Mir gelang es recht gut, meine Mitarbeitenden und weitere Personen auf den Holzweg zu bringen. Bedenken waren sehr wohl Begleiter in ihrem Hinterkopf – etwas könnte missraten, man könnte Schiffbruch erleiden oder allenfalls Geld verlieren. Wenn man die Aufgabe aber so interessant darstellen kann, dass alle beim hoffentlich eintretenden Erfolg ihre Zukunft sehen, dann hat man vielversprechend motiviert.

Mit dem Ziel vor Augen entsteht bei allen ein Flow. Wenn man dann trotzdem in Schwierigkeiten gerät, dann bin ich da, helfe, versuche neue Impulse ein­zubringen. Ich sage dann jeweils, wir haben mit diesen Schwierigkeiten und Herausforderungen auch wertvolle neue Erkenntnisse gewonnen. Schliesslich macht man in schwierigen Momenten wichtige Erfahrungen und erzielt damit Fortschritte, die man davor als nicht machbar beurteilte. Das ist immer eine Gratwanderung.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 20/2023 «Einem Holzbaupionier auf der Spur».

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