Klug kon­stru­iert

Professor Julius Natterer gilt als Spezialist für weitgespannte Holztrag­werke. Seine berufliche Laufbahn ist geprägt von den dafür nötigen Entwicklungen und der Suche nach dem Einfachen.

Publikationsdatum
12-05-2023

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag es der Holzwirtschaft daran, die Leistungsfähigkeit des Naturwerkstoffs zu beweisen. So wurde auch in Deutschland ab den 1960er-Jahren intensiv zum Holzschalenbau geforscht, und man suchte nach Umsetzungsmöglichkeiten solcher Werke als Experimentalbauten. Eine Chance bot sich 1969 an der Bundesgartenschau in Dortmund. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Holz e.V. entstand ein Hängedach nach dem Entwurf des Architekturbüros Behnisch&Partner. Das Dach hat im Grundriss die Form eines Rhombus, bei dem zwei gegenüberliegende Ecken die Hochpunkte und die beiden anderen Ecken die Tiefpunkte bilden. Als Satteldach überdeckt es eine Fläche von rund 1000 m². Die Gestaltung des zunächst temporär angedachten Pavillons orientierte sich an dem textilbespannten Musik­pavillon der Bundesgartenschau 1955 in Kassel, den Frei Otto entworfen und realisiert hatte. Ebenso stand die Konstruktion in Zusammenhang mit den Arbeiten von Félix Candela, Herbert Müller und Ulrich Münther, deren bekannte Schalenbauten in den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden. Mit dem Hänge­dach für die Bundesgartenschau als leichte und weitgespannte Holzkonstruktion sollte eine wirtschaftliche und gestalterisch vielversprechende Überdachungsmöglichkeit von grossen Flächen gezeigt werden.

Neben Prof. Behnisch zog die Arbeitsgemeinschaft Holz auch Prof. Herbert Kupfer von der TU München hinzu. Sein Kollege Prof. Anton Gattnar und der noch junge Assistent Julius Natterer entwickelten einen Prototyp: ein punktgestütztes Hängedach mit den Merkmalen einer Seilnetzkonstruktion. Die konstruktive Bearbeitung kann massgeblich Natterer zugeschrieben werden. Auch wenn solche Schalendächer in dieser Zeit sowohl aus Stahlbeton als auch aus Holz vielfach ausgeführt wurden, hatte dieses sogenannte «Sonnensegel» eine besondere Eigenheit: Der Rand wurde erstmals als biegesteifes Seil aus Holz ausgebildet. Das nur 36cm dicke und 140 cm breite Randglied trägt über eine freie Länge zwischen Hoch- und Tiefpunkt von mehr als 40m bei einer Diagonalspannweite von rund 60m.1

Dieses Projekt zeigt exemplarisch, dass die entworfenen Tragwerke immer auch Weiterentwicklungen von bestehenden Konstruktionen und statischen Systemen waren. Sie spiegelten den Stand der Technik wider. Es ist ein Glücksfall, dass der Pavillon instandgesetzt und nicht wie zunächst vorgesehen rückgebaut wurde.

Holzbau digitalisiert

Julius Natterer optimierte in seinen nächsten Projekten die Formen statisch stets weiter, wobei das Endziel immer die Verfeinerung der Tragkonstruktionen selbst war. Dafür benötigte er allerdings auch Weiterentwicklungen in der digitalen Technologie. So leitete Natterer 1985 den Aufbau einer speziellen Zeichnungssoftware für den Holzbau und die Anpassung des computer-aided design (CAD)-Systems in die Wege, um die immer komplexer werdenden Holzkonstruktionen bemessen zu können – was heute BIM ist, war damals Cadwork. ­Diese Software revolutionierte die Modellierung, die ­Logistik und den Holzbau. Die viergeschossigen Gebäude für die Studentenwohnungen in Bourdonnette wurden mit dieser Software gezeichnet, und jeder der beauftragten fünf Zimmermänner hatte jedes Bauteil der sieben Gebäude aus Holzrahmenelementen separat vorgefertigt. Die Elemente wurden just in time angeliefert, wodurch die Gebäude in nur einer Woche errichtet werden konnten. Diese Optimierung ermöglichte es, dass Holz mit anderen Materialien, die genauso infrage gekommen wären, konkurrenzieren konnte.

Hybrid aus Holz und Beton

Zehn Jahre nach seinem Erstlingswerk in Dortmund unternahm Natterer 1978 in Deutschland einen ersten Versuch, eine Holz-Beton-Mischbauweise zu ent­wickeln. In den 1990er-Jahren – als er bereits in Lausanne an der EPFL forschte und lehrte – wurde dieses Thema erneut aktuell. Ziel war es, den Markt für Bodenplatten im Wohnungsbau zu gewinnen. Dank der Verwendung von Beton im Holzbau konnte man damals eine Druckplatte mit einem höheren Steifigkeitsmodul herstellen. Diese erfüllte endlich die gleichen Anforderungen bezüglich der Akustik wie bislang nur andere Materia­lien. Ebenso genügte sie höheren Anforderungen im Brandschutz.

Diese Forschung wurde 1995 mit den neun Wohnhäusern von Gilamont in Vevey abgeschlossen, dem ersten fünfgeschossigen Holzgebäude der Schweiz. Die Holz-Beton-Verbundplatten mit maximalen Spannweiten von 13.5m sorgen zusammen mit den Erschlies­sungskernen aus Stahlbeton für die Stabilität des Gebäudes. Dank dem Einsatz des leichten Holzes über dem Erdgeschoss konnten die Kosten für das Fundament reduziert werden.

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Natterer entwickelte ausserdem Massivdecken aus Brettstapeln. Diese Technologie ermöglicht es vor allem, den Holzplatten eine neue Architektur zu verleihen: eine glatte und lesbare Struktur. Dieses Prinzip entwickelte sich später zu flach verlegten Brettschicht­holzplatten und schliesslich zu den CLT-Platten (Cross Laminated Timber), auch Brettsperrholz genannt.

Aus einem solchen Brettstapel bestand die Holz-­Beton-Verbunddecke des Mehrfamilienhauses Esmarch­strasse 3 in Berlin. Ernst&Sohn zeichnete das Gebäude, einen Geschosswohnungsbau mit sieben Stock­werken und einer Gesamthöhe von 22 m in Holzbauweise, mit dem Ingenieurbau-Preis 2008 aus. Bis auf zwei interne Versorgungsschächte, eine Bodenplatte aus Beton, aussteifende Wandelemente aus Stahlbeton, Wind­verbände aus Stahl und Stahlverbindungen zwischen den Holzbauteilen besteht der Holzskelettbau mit einer Fassade aus einer Stützen-Riegel-Konstruktion aus Brettschicht­holz. Ein hoher Vorfertigungsgrad und die damit einhergehende kurze Bauzeit zeichnen das Bauwerk aus. Der gut durchdachte, aber an sich wenig spektakuläre Holzbau hätte gemäss der Berliner Bauordnung jedoch höchstens fünfgeschossig sein dürfen.2 Da das Gebäude also die konkreten bauaufsichtlichen Vorgaben nicht erfüllt, mussten mit einem speziellen Brandschutzkonzept die allgemeinen brandschutztechnischen Schutzziele nachgewiesen werden. Ein Projekt mit Pilotcharakter, das die sinnvolle Wiedereinführung des klassischen, nachhaltigen Baustoffs Holz in den industriell vorgefertigten innerstädtischen Wohnungsbau vorantrieb.

Fokus Brettschichtholz und Massivholz

Letztlich blieb Natterer aber der grosse Verfechter von Bauteilen aus Massivholz. Das widerspiegelt sich auch im 35 m hohen Turm von Sauvabelin in Lausanne (2003). Man wählte insgesamt knapp 450 m Rundholz aus und schnitt es so zu, dass schliesslich 235 m³ Douglasien- und 80 m³ Fichten-/Tannenholz im Freien getrocknet werden konnten.2

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Texte von und über Julius Natterer, die in der Schweizerischen Bauzeitung ver­öf­fentlicht wurden.

Die Turmkonstruktion in Form eines stumpfen Kegels ist auf einer runden Bodenplatte fundiert, die zugleich das Dach der unter Terrain liegenden Pumpstation der Stadt Lausanne ist. Am Fuss hat der Turm einen Durchmesser von 12 m. Dieser verjüngt sich auf 6m direkt unter der Plattform. Geformt wird der Kegel aus einem Bündel von 24 Pfosten. Es umschliesst und trägt eine doppelte Wendeltreppe. Diese Pfosten sind leicht nach innen geneigt, jeweils 30m lang und an ihrer Spitze durch einen Ring aus Furnierschichtholz gehalten. Darauf und auf zwölf zusätzlichen, schräg angeordneten und nach aussen verlaufenden Pfosten lagert eine ra­dial verlaufende, doppelte Balkenlage mit einer Dougla­sien­beplankung – die Aussichtsplattform, die mit einem von den zwölf Pfosten getragenen Dach geschützt ist. Die ausschliessliche Verwendung von ­heimischem Holz, der fast ausschliessliche Gebrauch von Massivholz und der vollständige Verzicht auf eine chemische Behandlung des Holzes zeichnen das Bauwerk aus.

Genauso steht das Expo-Dach von Hannover (2000) mit seinen majestätischen, 18m hohen Säulen aus Weiss­tannenholz (Durchmesser am Kopf 130cm, am Fuss 75cm) für die Verwendung von Massivholz – ergänzt mit Trägern aus Brettschichtholz. Das Gebäude zeigt die Möglichkeiten von Holz im Bauwesen in allen Varianten: Rundholz, Schnittholz, Brettware, Leimholz und Furnierschichtholz. Die Wahl der jeweiligen Kon­struk­tions­art und der Baustoffe für die einzelnen Bauteile rich­tete sich nach den jeweiligen Tragwirkungen, den gestellten Anforderungen und den unterschied­lichen Materialeigenschaften.

Julius Natterer war überzeugt, dass jeder Baukörper bei entsprechender Entwicklung von Form und Tragkonstruktion wirtschaftlich in Holz ausgeführt werden kann und erläuterte im Tragwerksbeschrieb: «Die Optimierung der Tragstruktur durch Reduzierung der Biegebeanspruchung zugunsten der Normalkraftbeanspruchung durch die Anordnung von Gelenken, zusätzlichen Stäben, Unterspannungen und Abspannungen bedarf jedoch eines erhöhten Planungszeit­aufwands.» Unter diesen Prämissen aber seien Holz­konstruktionen zumeist als leichte und filigrane Konstruktionen gestaltbar, die erst noch sichtbar bleiben können. Halten sich die Tragwerksplanenden daran, druckbeanspruchte Stabsysteme zu entwickeln, so reduziert das den Baustoffbedarf im Holzbau.

Das bemerkenswerte Dach in Hannover und das inzwischen rückgebaute Hängedach von 1980 für eine Recycling-Anlage am Stadtrand von Wien zeigen, wie sich mit brettschichtverleimten Bindern grosse Raum­dimensionen überbrücken lassen und welches Volumen an Vollholz in Tragwerken statisch effizient wirksam verbaut werden kann. Ein Beispiel dafür ist der Polydôme in Ecublens von 1991, der ca. 32 m³ Vollholz erforderte. Die sphärische Kuppel in geschraubter Brettstapelbauweise hat einen Radius von 27.5m auf einer Basisfläche von 25m×25m und erreicht in der Mitte eine Scheitelhöhe von 6.8m. Die über die Diagonalen gespannten Rippen bestehen aus zwei kreuzweise angeordneten Schichten verschraubter Bretter mit Füllhölzern in den Zwischenräumen. Die Bretter sind über Schrauben und Bolzen an den Kreuzungspunkten verbunden. Die auf die Rippen geschraubte Schalung dient als Aussteifung der Rippenkuppel.

Alle diese Projekte widerspiegeln die Leidenschaft und Beharrlichkeit, die Natterer auszeichneten, und die jeweils zu neuartigen Bauten führten, die heute noch als bemerkenswerte Inspirationsquelle für die junge Generation dienen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 15/2023 «Wegbereiter im Ingenieurholzbau».

Die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst organisiert am 23. September 2023 eine Exkursion zu Objekten von Julius Natterer. Geplant ist die Besichtigung des Salzdepots in Lausanne, des Turms von Sauvabelin, Studentenwohnungen in der Nähe der EPFL, des Polydômes der EPFL in Lausanne, einer Mehrzweckhalle und einer Scheune aus Nagelbrettern in Etoy.

 

-> www.ingbaukunst.ch/de/veranstaltungen/index.html

Anmerkungen

 

1 Günter Scholz, «Hölzernes Hängedach über dem Ausstellungspavillon der Bundesgartenschau in Dortmund», in: Detail, Heft 4, 1969.

 

2 «Turm von Sauvabelin, Lausanne», in: Holzbulletin, Heft 77, 2005, S. 26–29.

 

Weiterführende Literatur

 

Götz, Hoor, Möhler, Natterer, Holzbau Atlas, München: Institut für internationale Architekturdokumentation, Erstauflage 1978, jüngste Ausgabe 2003, ISBN 978-3-0346-1458-0.

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