Das Un­be­re­chen­ba­re be­herr­schen

Ein persönlicher Blick auf das Wirken von Hermann Blumer – eines Appenzeller Tüftlers, eines Pioniers, der massgeblich zur Entwicklung des modernen Holzbaus beigetragen hat.

Publikationsdatum
16-06-2023

Jock ist eine im Appenzellerland gebräuchliche Kurzform für den Namen Jakob. Eine Maschine auf diesen Namen zu taufen, ist eher ungewöhnlich, wie vieles im Leben von Hermann Blumer. Mir ist bis heute ein Prospekt der Firma Blumer präsent, der vor rund 30 Jahren unter dem Namen «Jock» eine der damals modernsten Fertigungsanlagen für Holzbau­teile vorstellte, einen fünfachsigen Abbundroboter. Jock, so las ich, sei in der Lage, ein Stück Holz vollauto­matisch in jede erdenkliche Form zu bringen. Davon schien die Firma Blumer so überzeugt, dass sie in einem Wett­bewerb dazu aufrief, den Gegenbeweis anzutreten, also eine Form zu nennen, der Jock nicht gewachsen sei. Wie der Wettbewerb ausging, entzieht sich meiner Kenntnis. Gewiss ist aber, dass Jock für vieles steht, das Leben und Wirken von Hermann Blumer ausmacht: für den Aufbruch in eine spannende Zukunft des Holzbaus, auch für den Bezug zur Tradition, nicht zuletzt für die Fähigkeit, Komplexes einfach und in motivierender Weise zu kommunizieren. Werte, die mir seit 30 Jahren präsent sind, wenn ich die Talenge zwischen Herisau und Waldstatt passiere, wenn ich zuerst das Stammhaus der Firma Blumer und dann die Weite des Alpsteins erblicke.

Die genannte Talenge heisst Säge, an das Sägehandwerk erinnernd, das auch die Familie Blumer betrieb. Hermann übernahm in jungen Jahren Zimmerei, Schreinerei und Sägerei, gab letztere aber bald auf, um sich mehr dem zuzuwenden, was aus Holz erschaffen wird. Kunden des Familienbetriebs kamen meist aus der Region, Scheunen und Hallen waren verbreitete Bauaufgaben. Wie konnten solche alltäglichen Aufgaben besser gelöst werden? Der junge Holzbauunternehmer Hermann Blumer fand rasch unkonventionelle Antworten. Dazu trug ein gesunder Forschergeist ebenso bei wie das Rüstzeug einer abgeschlossenen Lehre als Zimmermann, eines Bauingenieurstudiums an der ETH Zürich sowie wissenschaftlicher Arbeit an der Technischen Hochschule Karlsruhe.

Das Potenzial der Standardisierung

Holzfachwerke nutzte man damals noch wenig für grosse Spannweiten: Der Kräfteverlauf musste für jeden Fachwerkknoten ohne Computerhilfe berechnet werden und die handwerklich erstellten Verbindungen entsprachen nicht immer dem Berechneten. Hermann Blumers Idee, Holz und Verbindungsbleche unabhängig von­einander nach einem standardisierten Lochbild zu bohren bzw. zu stanzen, um sie anschliessend mit Stabdübeln (Passbolzen) zu verbinden, war genial: Der Blu­mer-­System-Binder (BSB), 1978 zum Patent angemeldet, bewährt sich, leistungsfähig und wirtschaftlich zugleich, bis heute. Die Standardisierung des Knotens erlaubt eine rationelle Herstellung und eine com­putergestützte Bemessung.

Ein Landwirt fragte den jungen Holzbauunternehmer nach einer Alternative zu einer Stalldecke aus Beton oder Holzbalken. Sie sollte mehrere Meter Heu tragen, dem Stallklima widerstehen, wenig Aufbau­höhe haben und viel Eigenleistung bei der Montage ermöglichen. Blumers Antwort war ein Hohlkastenträger, ein leistungsfähiges Flachdeckensystem, nicht dicker als eine Stahlbetondecke. Auch hieraus entstand bald weit über den Scheunenbau hinaus ein Standard, ein eigener Betriebszweig unter dem Namen Lignatur.

Weggefährten bleiben

Als ich Hermann Blumer Anfang der 1990er-Jahre erstmals begegnete, waren BSB und Lignatur bereits Begriffe, war das geschwungene Holzdach des Säntisparks Abtwil – eine Vorahnung auf spätere komplexere Freiformen – schon bekannt. Ich wusste kaum etwas über Holzbau, zweifelte aber nicht daran, dass dieser zugleich schüchterne und kompetent wirkende Mann das rasch ändern würde. Innovative ausführende Betriebe wie jene von Blumer waren damals entscheidend für den Durchbruch neuer Ideen im Holzbau. Derweil war der Aufholbedarf (auch) aufseiten der Planung gross.

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Holz galt als heimelig, unter Planenden aber nicht als Baustoff der Zukunft. Um dem abzuhelfen, gründete Hermann Blumer, parallel zur Übernahme des Handwerksbetriebs, mit zwei Partnern ein Ingenieurbüro mit hoher Expertise im Holzbau. Mit Franz Steiner und Heinz Jucker entstand die Steiner Jucker Blumer AG. Aus ihr wurde später die SJB Kempter Fitze AG, die heute rund 100 Personen in allen Sparten des Ingenieurbaus beschäftigt, auch in wegweisenden Holzbauprojekten. Der umtriebige Hermann Blumer war nur selten im Ingenieurbüro anzutreffen: Seine Präsenz war dennoch prägend, sie ist es bis heute.

Während Franz Steiner 1994 am Säntis tragisch verunglückte, blieb Heinz Jucker einer der langjährigen Weggefährten, ohne die das Lebenswerk von Hermann Blumer nicht vorstellbar wäre. Selbst vom Betonbau kommend, erkannte er früh das Potenzial des Holzes und der Arbeit von Blumer, die er förderte und beflügelte. Weggefährten in der Holzbauunternehmung halfen Blumer mit grossem Engagement bei den Entwicklungen. Im Sinne der Fortführung einzelner Betriebszweige übernahm Richard Jussel die Leitung der Zimmerei bei Blumer-Lehmann und behielt diese, bis der Betrieb in der Lehmann-Gruppe 350 Mitarbeitende beschäftigte.

Hermann Blumer hat ferner das Glück, seit Jahrzehnten mit seiner Frau Irma eine Partnerin an seiner Seite zu wissen, die vieles mitträgt und die Zuversicht teilt, dass die Zukunft neue Chancen eröffnet. Eine Zuversicht, die mitunter nötig war: Blumer riskierte viel – bis an die Grenzen der Belastung und darüber hinaus.

An und über die Grenzen hinaus

1992 barsten in Barcelona die hölzernen olympischen Ringe, die Botschafter des Sports, aber auch Botschafter einer neuen Welt des Holzbaus hätten sein sollen. Auf diesen Rückschlag folgte einige Jahre später noch der weitaus schwerere: Wirtschaftliche Verwerfungen führten zur Aufsplitterung der Firmengruppe und zur Übergabe der Verantwortung in andere Hände. Vom Scheitern eines Lebenswerks zu sprechen, war damals nicht abwegig. Hermann Blumer begegnete dem schweren Schlag mit Demut, Aufrichtigkeit und dem Willen, «allen wieder in die Augen sehen zu können». Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen: Alle Betriebszweige konnten weitergeführt und bis heute erfolgreich ausgebaut werden; ein Verdienst von engagierten nahestehenden Personen, namentlich Mitarbeitenden, und eine Bestätigung für Blumers Aufbauarbeit.

Eine Auswahl der im Text genannten Projekte finden Sie in unserem E-Dossier Hermann Blumer.

Es folgten anspruchsvolle Jahre der Ernüchterung und des Nachdenkens über das weitere Potenzial im Holzbau. Ein Jahr nach Abschluss eines vorübergehenden Engagements für die Expo.02 gründete Blumer mit Gleichgesinnten die Création Holz, einen Thinktank zur Entwicklung neuer Ideen in Holz. Daraus entstanden Werke der Holzbaukunst, die alles Bisherige in den Schatten stellten. Blumer konzentrierte sich nun auf die Rolle des Ideengebers und Vordenkers.

Holz mit Holz durch Holz

Zu den wichtigsten jüngeren Werken, die die Handschrift von Hermann Blumer tragen, zählen mehrere Freiformbauten, die man noch wenige Jahre zuvor aus Holz nicht für möglich gehalten hätte: Das Centre Pompidou in Metz, der Golfclub Yeoju in Südkorea, der Swatch-Hauptsitz in Biel sowie die Seine Musicale in Paris erhielten mehrfach gekrümmte Dächer, die dem Holzbau eine neue Welt von Räumen und Formen erschloss. Alle vier Projekte entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem japanischen Architekten Shigeru Ban. Mit ihm verwirklichte Blumer auch ein weiteres Leuchtturmprojekt, diesmal ohne Freiformen, aber mit einem radikal neuen Ansatz des Fügens: Im Hauptsitz der Tamedia in Zürich wurde Holz mit Holz durch Holz verbunden. Der weitgehende Verzicht auf Metall in den tragenden Knoten war nicht nur technisch ein Novum, er prägte auch ein neues Formverständnis tragender Teile. Und er könnte in Zeiten der konsequenten CO²-­Reduktion noch an Aktualität gewinnen.

Das Beherrschen des Knotens

Die Bäume wachsen im Wald nicht so, wie wir es wollen. Aus dieser Erkenntnis leitet ­Blumer das Bestreben ab, dem Naturprodukt in einer Welt rationalisierter Liefer- und Produktionsprozesse grösst­möglichen Nutzen zu verleihen. Das Unberechenbare berechenbar zu machen, das Wilde zu zähmen, ist für ihn eine Daueraufgabe, die er seit dem BSB wiederholt und mit grossem Erfolg bewältigt. Mit dem Beherrschen des Knotens setzt er Energien frei für das Bauen kühner Tragwerke, für das Schaffen aussergewöhnlicher Räume, die unsere Seele berühren. Bei alldem hat Hermann Blumer digitale Planungs- und Fertigungstechniken nicht nur aktiv genutzt, er hat sie auch massgeblich mitentwickelt.

Sein Zugang zur Aufgabe ist ein nüchterner. Opportunismus ist ihm so fremd wie Opposition. Er wagt zu sagen, was Sache ist, er will beim Wort genommen werden und er lässt auf seine Worte (gebaute) Tatsachen folgen. Starallüren liegen ihm ebenso fern wie dogmatische Ankündigungen. Kindliche Neugier, offener Geist, Mut, Leidenschaft, hohe Fachkompetenz und die Fähigkeit zum blitzschnellen vernetzten und konzeptuellen Denken waren gewiss entscheidende Voraussetzungen für das, was Hermann Blumer erreicht hat. Hinzu kam die Einsicht, dass es für gute Arbeit offenen Austausch im Team braucht, dass nur tragfähig ist, was gemeinsam erarbeitet wird. So sind es auch seine vielen Weggefährten, denen die Ehre der Auszeichnung gilt, die Hermann Blumer mit dem Building-Award erhält.

Hermann Blumer hat den grössten Teil seines Berufswegs ausserhalb der akademischen Welt verbracht, auch wenn ihm diese aus Studium, Assistentenzeit, seiner engen Verbindung zu Prof. Ernst Gehri sowie seinem Amt als Honorarprofessor an der FH Aachen durchaus vertraut ist. Er hat in der Berufspraxis in einem Ausmass Forschung und Entwicklung betrieben, um die ihn manche Hochschule beneiden könnte. Er kennt, wie nur wenige, die alte und die neue Welt des Holzbaus. Er schöpft Kraft und Kreativität aus der Praxis heraus, aus jener unserer Vorfahren ebenso wie aus den jüngsten Innovationen. Damit ist Hermann Blumer wie kaum ein anderer ein Hoffnungsträger für alle und ganz besonders für junge Berufsleute, die an das Potenzial der Praxis glauben.

Peter Dransfeld, dipl. Architekt ETH, hat Hermann Blumer bei seinem ersten Projekt, dem Neubau eines Solarhauses auf der Hundwiler Höhe (AR), kennengelernt.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 20/2023 «Einem Holzbaupionier auf der Spur».

Hermann Blumers berufliche Laufbahn in Zahlen

 

1958–1961
Zimmermannslehre

 

1964–1969
ETH Zürich, Studium Bauingenieurwesen

 

1969–1971
Wissenschaftlicher Assistent, Universität Karlsruhe

 

1971–1997
Geschäftsleitung und Inhaber Blumer AG (Holzbauunternehmung in Waldstatt AR)

 

1978
Gründungspartner SJB AG (Ingenieurbüro für Hoch- und Tiefbau in Herisau)

 

1989
Gründungspartner *BSB* AG (Blumer-System-Binder in Waldstatt)

 

1991
Geschäftspartner Charpente Concept (Ingenieurbüro für Holzbau in Genf)

 

1997
Eingliederung der Zimmerei in Blumer-Lehmann AG

 

1997–2001
Geschäftsleitung Bois Vision 2001 (Schweizerische Holzwirtschaft Expo.02)

 

2001–2003
Aufbau Kompetenzzentrum HWZ (Holzwerkstoffzentrum in Leibstadt AG)

 

2003
Gründer und Geschäftsleitung Création Holz (Gruppe für ganzheitliches Bauen mit Holz in Herisau)

Entwicklungen und Markt­einführungen

 

1978
Idee und Entwicklung *BSB* (Verbindungssystem für Fachwerke, Software für Statik und Konstruktion)

 

1984
Idee und Entwicklung*BSB*-Bearbeitungszentrum (Maschinenkonzept mit Ansteuerungssoftware)

 

1988
Idee und Entwicklung Lignatur (Kastenquerschnitte für Decken, Rippenquerschnitte für Dächer)

 

1988
Entwicklungspartner Hoch­frequenzverleimung (Konzept, Presse für grosse Abmessungen, Generator)

 

1990
Idee zum Bau der Lignamatic von Fritz Krüsi (5-Achsen-Robotik, Steuerung «Jock», CAD-Software)

 

1992
Entwicklungspartner GST-Verbindungstechnik (Eingiessen von Gewinde­stangen in BSH und Kerto)

 

1992
Entwicklungspartner Heliotrop (Drehendes Plusenergiehaus)

 

1992
Entwicklungspartner Lignotrend (Wand- und Deckenelemente)

 

1992
Entwicklungspartner Lucido-­Solarfassade (Strukturaufbau, Holzabsorber, Simu­lations­software)

 

2003
Idee und Entwicklung Timberwand (Doppelschalige Wand mit Dübeln als Abstandhalter)

 

2005
Entwicklungspartner Komprimiertes Holz (Dreieck­einschnitt, Produkte)

 

2006
Idee und Entwicklung Novatop (Decken, Vordach­platten und Wände)

 

2009
Idee und Entwicklung Topwall (Massivholz-Bohlen-Ständerwand)

 

2010
Idee und Entwicklung X-Floor (Beton-Holz-Hybrid-Decke mit Plattentragwirkung)

 

2013
Idee und Entwicklung HB-Steko-System (Mehr­funktionale Balken für Wände, Decken und Dächer)

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