«Oh­ne 3-D-Pla­nung hät­ten wir die Brü­cke nicht bau­en kön­nen»

Die neue Aarebrücke in Aarau wird demnächst fertiggestellt. Ihr lag ein gestalterisch und geometrisch anspruchsvoller Wettbewerbsentwurf zugrunde, der viel ausführungsplanerisches und handwerkliches Know-how erforderte. Im Interview erzählt uns das Führungsteam von Implenia Schweiz von den Herausforderungen während der Realisierung.

Publikationsdatum
17-11-2022

Warum einfach, wenn es auch kom­pliziert geht?» Zu dieser sarkastischen Frage ver­leitet eine genauere Betrachtung der neuen Aarebrücke in Aarau. Aber auch schon ein Blick aus der Ferne offenbart einen Brückentyp, den man in der Schweiz in den vergangenen 100 Jahren selten entstehen sehen konnte: eine massive Rundbogenbrücke. Jedoch besteht die Aarebrücke nicht etwa aus Naturstein, sondern aus rund 6200 m3 Beton und 1360 t Bewehrungsstahl, die den Entwurf in Form bringen.

Das Team von Christ & Gantenbein Architekten zusammen mit Henauer Gugler, Walther Mory Maier und August Künzel Landschaftsarchitekten zitierte im Wettbewerbsprojekt aus dem Jahr 2010 die Historie der zahlreichen massiven, steinernen Bauten Aaraus und nahm direkten Bezug auf den Bogen über den Zollrain, der altstadtseitig unmittelbar an die Brücke anschliesst. Dass ein solcher Entwurf Gefahr läuft, aus der Zeit zu fallen, erkannte damals auch die Jury. Sie sah im Siegerprojekt allerdings mehr als ein romantisches Schwergewicht: eine Brücke mit einer eindrücklichen Mischung aus Schwere und Kühnheit, die weder Materialisierung noch Entstehungszeit verleugnet.

Die bauseitige Umsetzung dieser Idee und Wahrnehmung stellte die ausführende ARGE Kettenbrücke (Implenia Schweiz, Meier + Jäggi, Rothpletz, Lienhard + Cie) allerdings vor zahlreiche Herausforderungen. In erster Linie war da die Geometrie. Die Brücke besteht im Flussbereich aus drei in Längs- und Querrichtung monolithisch miteinander verbundenen und in Querrichtung durch ovale Öffnungen in den Pfeilerquerschnitten bedingten Doppelbögen mit 29 bzw. 44 m Spannweite. An diese schliessen beidseitig und ebenfalls in einem Guss zwei Vorlandbögen mit Spannweiten von 7.3 bzw. 7.6 m an. Um tatsächlich kein Schwergewicht zu bauen, entschied man sich, die Bereiche über den Pfeilern und Widerlagern als Hohlkasten auszubilden.

Dies alleine war in Bezug auf die Betonarbeiten des schlaff bewehrten Bauwerks schon eine ordentliche Herausforderung. Zudem sollten auch die Caissons der rückgebauten Brücke aus dem Jahr 1949 weiterverwendet werden, wodurch bei der Umsetzung des geplanten Normalprofils ein variierender Anzug in den Seitenflanken entstand.

Um die Referenzierung auf den Zollrain zu verdeutlichen, hatte die ARGE überdies einen objektspezifischen, pigmentierten Spezialbeton zu verbauen, damit zusammen mit einer individuell angefertigten Schalung die gewünschte murale Sichtbetonoptik entstehen würde. Erst eine umfangreiche Bemusterung und ein Mock-up führten zum Erfolg. Der final verwendete Beton enthält 0.5 % Zementanteil eines Eisenoxid-Gelbpigments, und als Schalung kamen sägerohe, im Gatterschnitt gefertigte Bretter in Sonderbreite mit Kunststoffbeschichtung zum Einsatz.

Weitere Bilder der Brücke finden Sie hier.

Ein Auftrag also wie geschaffen für einen erfahrenen Bautrupp. Wobei Erfahrung sich hier nicht auf eine bestimmte Anzahl bereits vergleichbar ausgeführter Bauwerke – denn solche gibt es schlicht nicht –, sondern auf reine Berufserfahrung bezieht. Mit Kurt Süess war die ARGE in der glücklichen Lage, einen Polier mit reicher Erfahrung einsetzen zu können. Süess, seit über 30 Jahren bei Implenia und mit etwa genauso vielen gebauten Brücken in seinem Palmarès, und Fridolin Hess, sein Baustellenchef, erläutern im Gespräch die ausführungstechnischen Herausforderungen bei der Aarebrücke.


Herr Süess, Sie stehen bereits mit einem Bein im Ruhestand. War der Bau der Aarebrücke eine angemessene Krönung Ihrer Karriere?

Kurt Süess: Ja, das war er: Ich habe das Gefühl, das hier ist das sprichwörtliche Tüpfelchen
auf dem i. Besser konnte meine Karriere nicht enden. Trotz meiner Erfahrung hatte ich aber vor allem zu Beginn der Baustelle einige schlaflose Nächte. Im Nachhinein darf ich aber sagen, dass wir alles richtig gemacht haben.


Bei der Betrachtung der Aarebrücke fällt zunächst das schwere, murale Erscheinungsbild auf. Was bedeutete die Umsetzung des Projekts für Sie auf der Baustelle?

Fridolin Hess: Die äussere Erscheinung kommt ja nicht von ungefähr: Die neue Aarebrücke nimmt Bezug zum Zollrain und ergibt mit dieser Strassenüberführung zusammen ein stimmiges Gesamtbild. Auch war die Kettenbrücke an dieser Stelle eine der ältesten Brücken über die Aare. Das heisst, die Gestaltung ist auch im historischen Sinne nachvollziehbar. Andererseits war die Umsetzung durchaus aufwendig und sicher auch vergleichsweise teuer. Dafür erhält Aarau eine wirklich schöne Brücke.

Süess: Schwer ist relativ: Von der Ferne betrachtet wirkt die Konstruktion auf mich leichtund ausgewogen. Aber wenn man sich auf das reine Gewicht bezieht, ist das sicher so. Allerdings ist man  im Brückenbau grosse Lasten gewohnt. Hier trägt beispielsweise jedes Lager Lasten von rund 240 Tonnen ab. Daneben brauchte es ein paar Bewehrungseisen und Bauhilfsmassnahmen mehr als üblich zur Umsetzung. Um den Bau in seiner Erscheinung zu reali­sieren, mussten viele Elemente aus statischenund arbeitstechnischen Gründen lange eingeschalt bleiben. Trotzdem ist das Schalungsbild schön, und es sind kaum Verfärbungen entstanden.


Kommen wir zur Geometrie des Bauwerks. Die Bogen­form, die ovalen Pfeileröffnungen, die variierende Ausrichtung der Schalung und die Flankenneigung lassen sich nicht mit grossmassstäblichen Ausführungsplänen realisieren. Wie sind Sie bei der Schalungsplanung vorgegangen, und welche digitalen Hilfsmittel haben Sie eingesetzt?

Hess: Tatsächlich gelangten wir schnell zur Erkenntnis, dass wir mit konventionellePlanungsmethoden nicht zum Ziel kommen. Aufgrund der sehr komplexen Bauwerksform kamen wir nicht umhin, für die Planung und Herstellung der einzelnen Schalungselemente in der betriebsinternen BIM-Abteilung ein 3-D-Modell zu erarbeiten. Das heisst, wir ver­wendeten eine attributierte 3-D-Planung, um die Ausführungsdetails in einem Querschnittraster von 20 Zentimetern zu visualisieren. Ohne diese Massnahmen hätten wir die Brücke nicht bauen können!


Wie viel Massarbeit erforderte die Schalung in der Ausführung auf der Baustelle?

Süess: Grob gesagt ist an der Brücke keine Rundung gleich wie die andere – jeder Radius ist unterschiedlich! Dies erforderte vor allem grossen Aufwand und hohe Präzision in der Einmessung der Schalung. So viele Punkte wie an dieser Brücke habe ich wahrscheinlich in meiner ganzen Karriere zusammen nicht abgesteckt. Der Aufwand hat sich allerdings ausbezahlt: Vor jeder Betonieretappe wurde die Schalung vermessungstechnisch kontrolliert, und die Abweichungen betrugen jeweils nur etwa ein bis zwei Zentimeter.

Hess: Die Anfertigung der Schalungsbretter war ebenfalls Massarbeit: Zusammen mit unserem internen technischen Büro, der Schalungszentrale und der Holzbauabteilung entstanden individuelle Teile, die eigens für die dafür bestimmten Stellen an der Brücke produziert wurden.


In der Ausführungsplanung war der Einsatz von Recyclingbeton einmal ein Thema. Bleibt bei einem Objekt dieser Art, bei so viel Individualität und Massarbeit, überhaupt Raum für Nachhaltigkeitsüberlegungen, bzw. hätte diese Brücke gemäss Ihrer Erfahrung in gewissen Bereichen ebenfalls mit Recyclingbeton gebaut werden können?

Hess: Das Thema Nachhaltigkeit, das zweifelsfrei bedeutend ist, hatte bei diesem Objekt wohl eher eine untergeordnete Relevanz. Wie das Bauwerk offensichtlich zeigt, lag die Hauptpriorität bei diesem Projekt bei der Ästhetik. In Anlehnung an die ursprüngliche Kettenbrücke aus dem Jahre 1849 wollte man als neues Wahrzeichen für die Bevölkerung der Stadt Aarau bzw. des Kantons Aargau ein «Brücken-Kunstwerk» schaffen. Ich bin darum sehr zuversichtlich, dass diese neue Brücke bei der Bevölkerung sehr gut ankommt; auch wenn das Kriterium Nachhaltigkeit bei diesem Objekt nicht im Vordergrund stand und die Brücke mit konventionellem Ortsbeton erstellt worden ist.


Wie sieht es in Bezug auf das Schalungsmaterial aus: Wurde regionales Holz für die Schalung verwendet, und konnte ein Teil davon mehrmals eingesetzt werden?

Hess: Bei der tragenden Schalungskonstruk­tion wurde regionales Holz eingesetzt. Die sägerohen Schalungsbretter wurden von einem hierfür spezialisierten Lieferanten bezogen.

Süess: Aufgrund der sehr komplexen Bauwerksform mit diversen Spezialformen war die Wiederverwendungsmöglichkeit der Holzmaterialien bei diesem Objekt nur in beschränktem Umfang möglich. Das meiste Holz wurde einmal eingesetzt und dann entsorgt.


Bei unserem Besuch auf der Baustelle trafen wir auch Taucher bei ihrer Arbeit an. Welche Heraus­forderungen boten die Bauarbeiten im und am Wasser?

Süess: Die Taucher, die sie auf der Baustelle sahen, bauten gerade die Spundwände rund um die Pfeiler mittels Unterwasser-Brennschneideverfahren zurück. Für uns war jedoch die grösste Herausforderung, das Wasser während des Aushubs und der Sohlenarmierung abzupumpen. Das Aarewasser durfte zu keinem Zeitpunkt getrübt werden, und der pH-Wert wurde fortlaufend geprüft. Zeitweise galt es demnach, 33 000 Liter Wasser pro Minute abzupumpen. Probleme bereiteten uns zudem die Platzverhältnisse (Platz für Pumpenstandorte) und die zugehörige Elektroinfrastruktur (Leitungsüberlastung).


Wie sind Sie abschliessend mit der Erfüllung der gestalterischen und ästhetischen Anforderungen zufrieden?

Hess: Meines Erachtens konnten wir die ästhetischen Erwartungen an die Brücke erfüllen – mit der Brücke ist ein neues Wahrzeichen für Aarau entstanden.

Süess: Mir persönlich gefällt die Brücke – ich bin jedenfalls stolz, daran mitgebaut zu haben.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 38/2022 «Selbstbewusste Nachfolgerin». Jetzt bestellen!

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