Ket­ten­brü­cke bleibt Ket­ten­brü­cke

In Aarau führt eine neue Brücke über die Aare und in die Altstadt. Sie ersetzt die in die Jahre gekommene Stahlbetonbrücke von 1949, die ihrerseits die beliebte Kettenbrücke von 1849 abgelöst hatte. Noch ist offen, ob sie nur als Verkehrsverbindung taugt oder auch das Zeug zum Wahrzeichen für die Kantonshauptstadt hat.

Publikationsdatum
16-11-2022

Und nun war es um unsere Kettenbrücke geschehen!», heisst es in der Festschrift zur Einweihung der neuen Stahlbetonbrücke in Aarau 1949. Das Zitat bezieht sich auf das Durchschneiden der ersten Hängestangen zu Beginn des Rückbaus der 1849 eröffneten Kettenbrücke. Schon 15 Jahre nach deren Eröffnung hörte man Klagen über ihren schlechten Zustand. «Die Brücke durfte von Fusstruppen nicht im Gleichschritt passiert werden und Fuhrwerke hatten die Mitte der Fahrbahn zu benutzen, wobei jeweils nur ein schweres Fahrzeug die Brücke befahren durfte.»1

Mitmachen und gewinnen
Wir verlosen ein Exemplar der antiquarischen Festschrift, in der die Aarauer Brückenbaugeschichte ausführlich beschrieben sowie die damals neue Stahlbetonbrücke in Text und Bild vorgestellt wird.

 

Mitmachen per E-Mail an verlosung [at] espazium.ch, Betreff «Festschrift». Einsendeschluss ist der 29. November 2022.

Kavallerieoffizieren war es untersagt, über die Brücke zu galoppieren oder zu traben. Ihre Brücken bereiteten der Aargauer Bevölkerung seit je Sorgen. «Ein Mal über das andere fielen vollendete und noch lange nicht abbezahlte oder erst im Bau befindliche Brücken oft dem reissenden Flusse zum Opfer.»1 Und nun also die viel geliebte Kettenbrücke.

Die Geschichte wiederholt sich

Ganz so dramatisch war die Situation 70 Jahre später nicht. Und doch hatte sich der Zustand der 1949 eröffneten Stahlbetonbrücke mit den Jahren massiv verschlechtert. Untersuchungen brachten undichte, mehrfach reparierte Fahrbahnübergänge, einen undichten Belag, Verschiebungen in der Konstruktion, Beton­abplatzungen und Risse im Widerlager ans Licht. Die Brücke genügte den Anforderungen Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr. In Anbetracht des erheblichen Instandsetzungsaufwands zeigte eine Studie, dass ein Ersatz der Brücke zwar mit höheren Kosten verbunden sei, dies jedoch, bedingt durch die längere Lebens­dauer, die wirtschaftlich günstigere Lösung wäre.

Der Aarauer Stadtpräsident Dr. Hanspeter Hilfiker meint dazu: «Dass die neue Betonbrücke nur 70 Jahre bestehen sollte, war nicht geplant. Auch wenn sie für damalige Verhältnisse grosszügig und elegant war, hat sie sich im Gedächtnis der lokalen Bevölkerung nie derart verankern können wie ihre Vorgängerin. Das Projekt für den Neubau wurde denn auch vom Stimmvolk 2014 deutlich angenommen.»

Um dem Standort vor der Altstadt gerecht zu werden und die Verkehrsbeziehungen über und entlang der Aare sicherzustellen, beschloss das kantonale Departement Bau, Verkehr und Umwelt (BVU) im Einvernehmen mit dem Stadtrat, einen offenen einstufigen Projektwettbewerb durchzuführen. Das Brückentragwerk sollte bei angemessener Einpassung, Gestaltung und Zuverlässigkeit wirtschaftlich, robust und dauerhaft sein. Entsprechend diesen Grundsätzen wurden die 21 eingegebenen Projekte beurteilt. Das Projekt «Pont Neuf» ging als klarer Sieger aus dem Wettbewerb hervor. Es stammt vom Team Walther Mory Maier, Ingenieure, Henauer Gugler, Ingenieure, in Zusammenarbeit mit Christ & Gantenbein, ­Architekten, und August Künzel, Landschaftsarchitekten.

Modern interpretiert

Bei einer Stippvisite heute treffen die Besucher und Besucherinnen auf eine Brücke, die – getreu dem Wettbewerbsnamen – an den von Christo im Jahr 1985 verhüllten Pont Neuf in Paris erinnert. Der Eindruck eines Faltenwurfs geht hier allerdings nicht auf Textilien zurück, sondern auf eine sägerohe «lebendige» Schalung.

Die 126 m lange Stahlbetonbrücke überspannt in drei flachen Bögen den Fluss und verbindet die nördlich der Aare gelegenen Siedlungsgebiete mit der Altstadt von Aarau. Ein Übergang aus einem Guss, dessen pigmentierter Sichtbeton je nach Lichtverhältnissen in einem mal mehr mal weniger warmen braun-gelben Ton erscheint. «Die Farbgebung ist übrigens einer der meistdiskutierten Punkte in der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Brücke», erzählt Roberto Scappaticci vom kantonalen Tiefbauamt.

Es gab sogar Vorstösse im Stadtparlament: Die Visualisierung in den Abstimmungsunterlagen für den Baukredit zeigten eine braun-beige Brücke; irgendwann wurden Stimmen laut, die befürchteten, am Ende sei das Bauwerk mausgrau. Um den richtigen Ton zu treffen, stellten die Verantwortlichen zahlreiche Farbmuster her. «Beton ist ein Naturprodukt, die Farbe darf nicht zu künstlich wirken. Sonst hätten wir die Brücke ja auch anmalen können», meint Projektleiter Scappaticci.

Geschützte Verbindung von A nach B

Weder die rückgebaute Stahlbetonbrücke noch ihre Vorgängerin – die Kettenbrücke – waren denkmal­geschützt – auch wenn dies im zweiten Fall heute vermutlich anders wäre. Geschützt ist jedoch die Lage der Aarebrücke. Die denkmalpflegerische Bedeutung des Verkehrswegs ergibt sich daraus, dass er einen historisch bezeugten Verlauf aufweist.

Im Wettbewerbsprojekt ging man davon aus, dass die bestehenden Fundamente der Flusspfeiler weiter genutzt werden könnten. Die Spannweiten von 29 m, 44 m und 29 m waren im Prinzip vorgegeben. Doch während des Baus zeigte sich, dass die Caissons und Fundamente – also die Senkkästen, auf denen die ursprüngliche Kettenbrücke gegründet war – den Anforderungen nicht mehr genügten. «Wir haben sie im Endeffekt behandelt wie ganz normalen Baugrund und neue Fundamente erstellt», sagt Scappaticci.

Die Brücke ist Teil der Kantonsstrasse K 207 und wird täglich von rund 22 000 Fahrzeugen und 700 Bussen befahren. Glücklicherweise ergab eine Überprüfung des Verkehrsregimes, dass die Verkehrsführung auf der Aarebrücke und bei den Brückenköpfen nahezu unverändert beibehalten werden konnte. Die Brückenbreite beträgt im Maximum 17.55 m. Die Verkehrsfläche ist aufgeteilt in zwei 3 m breite Fahrspuren, zwei 1.50 m breite Radstreifen und zwei Gehwege mit variabler Breite. Ausreichend Platz für alle Verkehrsteilnehmenden.

Auf zusätzliche Aufenthaltsflächen auf der Brücke, wie sie im Wettbewerbsprojekt vorgesehen waren, verzichteten die Architekten im Nachhinein, um durch die Verbreiterungen keine Unruhe ins Projekt zu bringen. Die Beleuchtung wurde auf ein Minimum reduziert, soll heissen, die «Ambientebeleuchtung» fiel dem Rotstift zum Opfer.

Nicht nur auf der Strassenebene weist die Brücke einen hohen Anteil Radfahrende sowie Fussgängerinnen und Fussgänger auf. Sie verbindet auch zwei der wichtigsten Naherholungsgebiete mit dem Stadtzentrum. Bei der Jurierung der Wettbewerbsprojekte spielten dementsprechend die Einbettung der Brücke in den Aareraum, die Uferaufwertung und der Bezug zur geschützten Altstadt als Ortsbild von nationaler Bedeutung eine wesentliche Rolle. Insbesondere die Beseitigung der Nadelöhre in der Velo- und Fuss­gängerverbindung entlang der beiden Aareufer war eine wichtige Vorgabe für die neue Brücke. Die breiteren Wege und die hindernisfreie Gestaltung der Übergänge zwischen Uferraum und Stadt­ebene erfüllen diese Vorgabe.

Die Baukosten des Projekts sind hoch. «Die ­Kosten waren ein weiterer Punkt, der in der Bevölkerung intensiv diskutiert wurde», sagt Scappaticci. Anfänglich sprach man von 33 Mio. Fr. Aufgrund von Mehrkosten in der Geologie und wegen der Aushub- und Abbruchkosten musste der Regierungsrat 2021 einen Zusatz­kredit von 7 Mio. Fr. beantragen. Im Hinblick auf die lange Lebensdauer wurde dieser genehmigt. Damit kostet der Neubau derzeit rund 40.1 Mio. Fr. «Wir gehen davon aus, dass wir den Kostenrahmen einhalten können», meint Scappaticci.

Nun kann man sich fragen, ob sich diese Investition hinsichtlich Aufwand und Nutzen tatsächlich gelohnt hat. Die verbauten Mengen Stahl und Beton sind enorm. Eine einfache Verkehrsverbindung wäre wahrscheinlich deutlich günstiger realisierbar gewesen. Doch es geht um mehr: «Die Stadt Aarau und der Kanton Aargau haben sich mit der neuen Kettenbrücke nicht nur einen zeitgemässen Aareübergang, sondern eine regelrechte Brückenskulptur, einen veritablen Leuchtturm, geleistet», sagt Stadtpräsident Hanspeter Hilfiker. Er sei überzeugt, dass das Bauwerk gute Voraussetzungen habe, wieder jene ikonografische Be­deutung zu erlangen wie seinerzeit die ursprüngliche Kettenbrücke.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 38/2022 «Selbstbewusste Nachfolgerin». Jetzt bestellen!

Literatur
1 «Festschrift zur Einweihung der neuen Aarebrücke in Aarau 1949». Verlag H.R. Sauerländer & Co. Aarau.

Neue Aarebrücke, Aarau

 

Bauherrschaft
Kanton Aargau, Departement Bau, Verkehr und Umwelt, Abteilung Tiefbau, Aarau

 

Architektur
Christ & Gantenbein, Basel


Gesamtleitung
Ingenieurgemeinschaft Pont Neuf  (WMM Ingenieure, Münchenstein; Henauer Gugler, Zürich)     


Ausführung Hilfsbrücke und Realisierung Ersatzneubau «Pont Neuf»
ARGE Kettenbrücke: Implenia Schweiz, Aarau; Meier + Jäggi, Zofingen;
Rothpletz Lienhard + Cie, Aarau

 

Landschaftsarchitektur
August + Margrith Künzel Landschaftsarchitekten, Binningen


Projektwettbewerb
2009


Baubeginn Hilfsbrücke
Juli 2019


Abriss alte Brücke
März bis Juni 2020


Neubau Aarebrücke
Juli 2020


Inbetriebnahme
Oktober 2022


Fertigstellung
August 2023


Baukosten
40 Mio. Fr.


Kostenteiler
Stadt Aarau 24.5.%
Kanton Aarau 75.5 %

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