Ge­mein­schaft ein­for­dern

Am 20. April fand in Zürich das diesjährige «ETH Forum Wohnungsbau» statt. Das äusserst breit gefächerte Themenspektrum – von der Materialforschung über den Zonenplan zum Wohnungsbau – führte nicht zu Verwirrung, sondern zu einer gelungenen Synthese unterschiedlichster Aspekte des nachhaltigen Bauens.

Publikationsdatum
16-05-2012
Revision
01-09-2015

Die Forschungsstelle ETH Wohnforum untersucht die Grundlagen des Wohnens mit einem sowohl wissenschaftlich als auch praktisch orientierten interdisziplinären Ansatz.1 Als Motto der Tagung könnte das Bild auf der Einladungskarte stehen: Auf einem Haus prangt in grossen Lettern «Taten statt warten». Der erste Themenblock gehörte den Naturwissenschaften. Der Chemiker Michael Braungart von der EPEA Umweltforschung in Hamburg schlug einen erfrischend weiten Bogen zum Thema Nachhaltigkeit. Der Forscher und Unternehmer durchleuchtete die mentale Grundlage der Debatte. «Cradle to cradle» lautet sein Mantra, die Menschen in Nützlinge umzuwandeln, seine Mission. Das permanente schlechte Gewissen will er durch die Kraft der Innovation vertreiben: Statt den Schaden mit «zero emission» möglichst gering zu halten, sollte sich unser Leben positiv auf die Ökobilanz des Planeten auswirken. Braungart illustrierte seinen Ansatz mit Praxisbeispielen. Er entwickelt Teppiche, die die Luft reinigen, und kompostierbare T-Shirts. Das Prinzip funktioniert auch im grossen Massstab: Die EPEA katalogisiert momentan einen Frachter bis auf die letzte Schraube und führt die darin enthaltenen Stoffe auf, bevor das Schiff zusammengebaut wird. Nach dem Einsatz auf hoher See kann es in die einzelnen Rohstoffe aufgeteilt und wieder verwertet werden.
Einen anderen Zugang zum Thema präsentierte Gian Luca Bona. Als Direktor der EMPA näherte sich der Physiker von der Material- und Konstruktionsseite her, um den Energiebedarf von Gebäuden zu senken. Er setzt seine Hoffnung auf leichte Konstruktionen, Fotovoltaik im Nanometerbereich und Aero­gele zur Dämmung des Bestands.
Doch lohnt sich eine Investition in die Altbauten? Mit immer genaueren Methoden untersucht Susanne Kytzia von der Hochschule Rapperswil, wie viel Energie ein Gebäude tatsächlich verbraucht. Ihre Berechnungen bringen zutage, wo es wirklich harzt: Der veraltete Gebäudepark verschlingt Unmengen an Energie. Wegen der langen Nutzungsdauer spielt die graue Energie im Vergleich zur Betriebsenergie eine geringe Rolle. Nüchtern betrachtet ist ein grosser Teil der Schweizer Gebäude zum Abbruch freigegeben. Neben der Energiefrage weist der betagte Bestand noch ein anderes Problem auf: Unsere Gesellschaft wandelt sich, der Bau von Wohnungen hinkt der Entwicklung hinterher. Anhand von Beispielen aus Hamburg zeigte Ingrid Beckner von der dortigen HafenCity Universität aktuelle Trends. Die soziale und räumliche Mobilität hat drastisch zugenommen; Angestellte von Grosskonzernen machen in ihren globalen Karrieren nur noch Zwischenhalte, Familien haben schon lange alle möglichen Formen angenommen. Die Gesellschaft differenziert sich immer weiter; Politik und Planung können dieser Entwicklung kaum folgen. Auch Zürich ist mit dieser Herausforderung konfrontiert, seit die Stadt als Wohnort wiederentdeckt wurde. Günter Arber von der Stadt- und Quartierentwicklung Zürich zeigte auf, wie die Verwaltung trotz Knappheit und Verdichtung versucht, flexibel zu bleiben. Räume werden besser genutzt und der Bestand ausgebaut.

Primat der Idee

Welche Methoden auch angewendet werden –­­ am Anfang steht eine Vision. Wenn der Zürcher Architekt Peter Märkli skizziert, wie die Gemeinden im nördlichen Glarus zueinander finden können, überzeugt diese Idee: Landschaft und Siedlung sind getrennt und dennoch Teil eines Ganzen. Märkli gliedert nur noch in Kernstadt, Bebauung, Grüngürtel und Landwirtschaft. Dies bietet die Chancen, in der Heterogenität weiterzubauen und den Sinn für Gemeinschaft dereinst wieder in Gebäuden auszudrücken.
Die öffentliche Hand hat durchaus Möglichkeiten, den kollektiven Raum von privaten Bauherrschaften einzufordern. Wolfgang Förster, Bereichsleiter der Wiener Wohnbauforschung, zeigte mit Praxisbeispielen, wie Wohnbauträger dazu gebracht werden, in ihren Erdgeschossen Raum für Gewerbe anzubieten, um eine funktionale und soziale Durchmischung zu schaffen. Mit ihrer weit verästelten Förderungspraxis besitzt die Stadt Wien einen wirkungsvollen Hebel, um sich gegen wirtschaftliche Partikularinteressen zu behaupten. Eine ähnliche Wirkung entfaltet das Modell im kanadischen Vancouver. Der ehemalige Stadtplaner Larry Beasley zeigte auf, wie durch einen Mix aus partizipativer Planung und Public Private Partnership das Zentrum der Stadt wieder zu einem attraktiven Wohnort mit funktionierenden «neighborhoods» wurde. Dass die Zersiedelung in der Schweiz ebenfalls das Resultat einer Vision ist, machte dann etwas nachdenklich. Für Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung, verfolgen die Gemeinden und die Bewohner ein eindeutiges Ziel: mit Einfamilienhäusern steuerkräftige und pflegeleichte Nachbarn anzuziehen. Die Folge ist eine lockere Bebauung auf Kosten der Landschaft – was letztlich nicht im Interesse der Gemeinschaft liegt.

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