Die Sied­lung als öf­fent­li­cher Raum

Die Siedlung Vogelsang in Winterthur von Knapkiewicz & Fickert zeigt, wie durch Verdichtung eine spannende Staffelung von Aussenräumen und zugleich ein sehr vielfältiges Angebot an Wohnraum entstehen kann.

Publikationsdatum
20-04-2023

Verdichten heisst weiterbauen im Bestehenden, dazu zählen auch Grünräume und städtische Infrastrukturen. Gleichzeitig ist in dichten Stadträumen der öffentliche Raum, das heisst die Möglichkeiten zu dessen Aneignung und die Aufenthaltsqualität, ein entscheidender Parameter. Diese Erkenntnisse sind nicht neu, die Stadttheoretikerin und Ak­tivistin Jane Jacobs hat sie bereits 1961 beschrieben.1 Doch eine rasche Verdichtung, getrieben von einer übergrossen Nachfrage, niedrigen Zinsen und entsprech­endem Anlagedruck, hat in den letzten Jahren eine zusammenhängende Gestaltung von Quartieren oft verunmöglicht.2 

In Winterthur hingegen ist es Knapkiewicz& Fickert Architekten gelungen, mit dem Neubau der Siedlung Vogelsang den Zwischenraum zu orchestrieren und Räume zu schaffen, die an Platzfolgen europäischer Altstädte erinnern und eine enge Beziehung zwischen Bebautem und Unbebautem schaffen. Das Projekt knüpft dabei auch an den Ort und seine Geschichte an. Die Architekten haben mit dem Wohnbau den städtischen Raum, in dem sie agieren, gesamthaft behandelt.

Genossenschaften und Gartenstädte

Das Quartier Breite-Vogelsang liegt am Winterthurer Stadtrand. Auf dem ursprünglich landwirtschaftlich genutzten Gebiet am Fuss des Eschenbergs entstanden im 19. Jahrhundert erste Landsitze, etwa die 1894 erbaute Villa Sulzer-Grossmann, die 1939 wieder abgerissen wurde. Der Aufstieg Winterthurs als Industriestadt zeigte sich hier in allen sozialen Facetten: Ab 1860 wurden auch Arbeiterhäuser gebaut und schliesslich die ersten Wohnblocks der «Gesellschaft zur Erstellung billiger Wohnungen» (GEbW),3 deren Gründungsmitglied, der Architekt Ernst Jung, praktisch alle Bauprojekte entwarf. Zwischen 1919 und 1921 entstand die städtische Wohnkolonie Vogelsang, die zu den bedeutendsten Beispielen des frühen kommunalen Wohnungsbaus im Kanton Zürich zählt. Entworfen wurde sie vom Nachfolgebüro Jungs, den Winterthurer Architekten Bridler& Völki. Zusammen mit der Siedlung Union, der Siedlung Jonas-Furrer-Strasse und den sogenannten Scheibler-Häusern bildet die Siedlung ein im Kanton Zürich einmaliges Ensemble. An den Idealen der Gartenstadt orientiert, prägt es das Quartier bis heute.

Zwischen Einfallstrasse und Schrebergärten

Dort, wo heute die Siedlung Vogelsang Bahnreisende vor ihrer Ankunft in Winterthur begrüsst, entstanden bereits 1939–1941, in einer Zeit prekärer Wohnungsnot, sehr einfache Mehrfamilienhäuser der Gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaft Winterthur (GWG). Die GWG war auch Auftraggeberin für die Neubauten, die diese Häuserzeilen ersetzen. Das zu den Gleisen stark abfallende Grundstück sorgt für eine exponierte Lage nach Westen und verhilft der Siedlung zu einer besonderen städtebaulichen Relevanz. Zugleich muss sie sich gegenüber der parallel zur Bahn geführten Vogelsang­strasse behaupten, mittlerweile eine Einfallstrasse in die Stadt. Die rahmenden Parameter im Osten hingegen sind freundlicher: Kleingärten, die anschliessende Wohnkolonie Vogelsang und der nahe Stadtwald. Die differenziert ausgeformte Grossstruktur von Knapkiewicz& Fickert bildet zwischen all diesen Gegebenheiten eine prägnante, abwechslungsreiche Silhouette aus.

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Die Siedlung umfasst rund 150 Wohnungen für gut 400 Bewohnerinnen und Bewohner. Das Angebot reicht von 2.5 bis zu 6.5 Zimmern. Hinzu kommen Gemeinschaftseinrichtungen, unter anderem eine Kinder­tages­stätte und ein Kindergarten, ein Siedlungslokal, ein Co-Working-Bereich, ein Musik- und ein Fitnessraum.

Die Disposition der Baukörper, eine markante achteckige Grundstruktur, bietet für die einzelnen Wohnungen vielfältige Blickachsen und auch direkte Aussenbezüge durch private Aussenräume: Loggien, Balkone und Terrassen. Gleichzeitig schafft die wa­benartige Grossstruktur aus 15 Volumen Höfe unterschiedlichster Qualität: acht Höfe orientieren sich zur Strasse, fünf zum Hang. Zwei der hinteren Höfe sind zudem mit den vorderen verbunden und bilden die Zentren der Anlage. An ihnen liegen die grösseren Gemeinschaftseinrichtungen, etwa das Siedlungslokal.

Treppen, Gassen, Höfe

Vor die stark befahrene Vogelsangstrasse haben die Architekten die «Promenade» gelegt: ein Hochtrottoir mit Verbindungen zu den Hauseingängen, Aufgängen zu den Höfen sowie Zugängen zu Keller- und Veloabstellräumen. Durch den Höhenversatz ist der Fuss- und Veloverkehr nicht nur von der Strasse abgeschirmt, die Promenade erhält auch Aufenthaltsqualitäten und erschliesst und verbindet die gesamte Siedlung. Darüber, auf der Ebene der Höfe, befindet sich eine Passage, die alle Treppenhäuser und Höfe miteinander verknüpft. Zudem führen Stichtreppen von hier aus zum zwei Geschosse höher verlaufenden «Püntenweg» (als Pünten werden in Winterthur die Kleingärten bezeichnet). Es ist diese Komposition aus Wegverbindungen, Treppen, Gassen und Höfen, die in ihrer Räumlichkeit und Ausrichtung auf Fussgängerinnen und Fussgänger an vertraute Strukturen historischer Altstädte erinnert. Die öffentlichen Räume der Siedlung erreichen jene Kleinteiligkeit, die nur möglich ist, wenn keine Räume dem motorisierten Verkehr geopfert werden müssen.

Die Rhythmisierung der Anlage wie auch ihre Materialisierung können als Entsprechung dieses Massstabsbezugs gelesen werden, gleichzeitig ist beides als Reaktion auf den Ort zu verstehen. Durch das massive, in den Hang geschobene Sockelgeschoss, das eine riesige Tiefgarage sowie Keller-, Velo- und Recyclingräume aufnimmt, und durch das vorgelagerte Hochtrottoir wird eine räumliche Distanz zur Unteren Vogelsangstrasse geschaffen. Darüber erheben sich die Wohnbauten der Siedlung. Zur Strasse hin dominiert verputztes Mauerwerk das Erscheinungsbild. In den Höfen und insbesondere zum Hang und der rückwärtig angrenzenden Kleingartensiedlung tritt in den oberen Geschossen eine Holzschalung hervor, die auch Balkone und Lauben umhüllt. Bedingt durch die Hanglage erscheint die Siedlung zum Grünraum zwei- bis dreigeschossig und vermittelt so zu den hinter der Kleingartensiedlung anschliessenden Einfamilienhäusern. Dieser Einbindung in den Kontext ist auch die Farbgebung in Ocker und Grün zuzurechnen, die als Referenz an die Geschichte des Quartiers, seine Anlage als Gartenstadt und die grüne Umgebung gelesen werden kann.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 12/2023 «Von aussen nach innen»

Ersatzneubau Siedlung Vogelsang, Winterthur

 

Bauherrin
GWG Gemeinnützige Wohnungsbau­genossenschaft Winterthur

 

Architekten
Knapkiewicz & Fickert, Zürich

 

Landschaftsarchitektur
Tremp Landschaftsarchitekten, Zürich

 

Bauingenieur
Lüchinger + Meyer, Zürich / Luzern

 

HLKS-Planung
Amstein + Walthert, Frauenfeld

 

Holzbau
Sprenger Söhne, Seuzach

 

Klappläden
Jaloumatic, Wohlen AG

 

Äussere Malerarbeiten
Schröckel, Winterthur

 

Nutzung
rund 150 Wohnungen und zahlreiche Zusatznutzungen wie Kindergarten, Lokal, Gemeinschaftsküche etc.

 

Baukosten BKP 2
69 Mio. CHF inkl. Mwst.

 

Volumen SIA 416
97 000 m3

Anmerkungen

 

1 Jane Jacobs, The Death and Life of Great American Cities. New York 1961, zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen.

 

2 Steffen Hägele von DU Studio: «Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Legitimation, die Stadt weiterzubauen, nicht verlieren». Interview auf swiss-architects.com (5.5.2022).

 

3 1872 gegründet mit dem Ziel, günstiges Wohn­eigentum mit Selbstversorgungsgärten für die Arbeiterschaft zu erstellen.

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