Ei­ne Rei­se in die Zu­kunft

Wie wird sich die Mobilität über die nächsten Jahrzehnte verändern? Sind wir in Zukunft nur noch batterieelektrisch, in vollautomatisierten Drohnen, im Untergrund oder immer weniger unterwegs? Zusammen mit Experten von Avenir Suisse entwirft TEC21 eine Zukunftsvision in drei Akten.

Publikationsdatum
19-11-2020

1. Akt: die Fiktion

Der Blick aus dem Fenster zeigt einen frühsommerlichen Tag – einen, wie es ihn vor wenigen Jahren noch erst im Juni gab. Über Nacht haben der Körpermonitor und die Ernährungssoftware des Kühlschranks ein ausgewogenes Frühstück designt. Ein perfekter Start in den Tag. Der Zentraldisplay in der heimischen Küche informiert über aktuelle Geschehnisse und listet die Pendenzen auf: die vom Kühlschrank generierte Einkaufsliste ergänzen und absenden, die Mobilitätsabrechnung zur Zahlung freigeben, den Termin für die E-Flugtaxireise in der kommenden Woche bestätigen. Die Medienberichte handeln von neuen Cyberattacken – ist die Einkaufsliste überhaupt «safe» …? Hätte die Schweiz vor 30 Jahren doch bloss in die Cybersicherheit anstatt in neue Kampfflugzeuge investiert!

Draussen vor der Tür liegt ein Paket. Der Delivery Bot hat endlich das langersehnte Ersatzladegerät für die alte Fotokamera geliefert; der Produzent verfügte nur noch über Restposten. Heutzutage wird alles mittels «Qi» aufgeladen. Der Mobilitätsassistent berät in Echtzeit bei der Wahl des zuverlässigsten, schnellsten oder günstigsten Angebots für die anstehende Reise in die Innenstadt und erledigt den Ticketkauf. Mit der flächendeckenden Zugangskontrolle per App wurden Ticketautomaten und auch Billettkontrolleure schon vor langer Zeit aus dem Verkehr gezogen.

Sofern man nicht selbst in die Fahrradpedale treten will, sind um diese Uhrzeit unter­irdisch verkehrende Verkehrsmittel – besonders das PPP-Tunnelshuttle (vgl. «Jedem seine Tunnelbohr­maschine») – am schnellsten. Dies, weil sich das automatisierte Fahren vor Jahren schon in der Mischverkehrsphase nicht flächendeckend durchsetzen konnte. Gleichzeitig überbeansprucht die Vielzahl an einst politisch geförderten Elektrofahrzeugen die wenigen aus dem Flächenkonflikt zwischen den einzelnen Verkehrs­teilnehmern übrig gebliebenen Strassen. Das bestausgebaute urbane Verkehrsnetz ist den Fahrrädern und Zweirädern mit Elektroantrieb vorbehalten.

Immerhin steuern mittlerweile alle Verkehrsteilnehmer einen ­leistungsabhängigen Finanzierungsbeitrag an den Bau und den Unterhalt der Verkehrsinfrastrukturen bei. Für die letzte Meile schlägt der Mobilitätsassistent ­einen führerlosen Shuttle vor (auf Autobahnen und im Stadtzentrum, wo kein motorisierter Individualverkehr mehr zugelassen ist, funktioniert das automatisierte Fahren). Die Zieldestination kann dank Kommunikation zwischen dem Shuttle und der Infrastruktur bereits vorgängig in der App des Mobilitätsassistenten hinterlegt werden. Schöne Zeiten, als man tatsächlich noch ohne Mobiltelefon aus dem Haus gehen und trotzdem die Herausforderungen des Alltags bewältigen konnte. Die Einführung der schlüssellosen Zugangs-Apps hat das buchstäblich verunmöglicht.

 

2. Akt: Science-Fiction

Was auf den ersten Blick futuristisch und überzeichnet wirkt, kann angesichts der immer schneller werdenden Adap­tionsgeschwindigkeit neuer Technolo­gien schon bald zur Realität werden. Doch: Unter welchen Bedingungen können sich neue Entwicklungen überhaupt durchsetzen? Sind sie wünschenswert für unsere Gesellschaft? Wie werden neue Angebote finanziert und betrieben? Eine Auslegeordnung mit ausgewählten Trends und zugehörigen Thesen scheint angebracht.

Die Sozialwissenschaftler Jürg Müller und ­Basil Ammann sind Forscher im Themenbereich «In­fra­struktur & Märkte» bei Avenir Suisse, einem liberalen und fortschrittsfreundlichen Thinktank. In ihrer täglichen Arbeit identifizieren und erörtern sie zukunftsrelevante Themen und schaffen dadurch Grundlagen für die öffentliche Debatte. Sie beschäftigen sich unter anderem mit den regulatorischen Bedingungen zur Mobilität und stellten sich für eine Diskussion der Thesen zu den nachfolgenden Trends als Experten zur Verfügung. Das Gespräch war als offener Gedankenaustausch konzipiert und lieferte die Grundlage für die unabhängige redaktionelle Aufbereitung der Inhalte durch TEC21.

 

Trend: vollautomatisiertes Fahren – Wendepunkt für die Mobilität?

These: Die weitere Auto­matisierung ist nur eine Frage der Zeit und wird zum Wendepunkt für die Mobilität der Zukunft.

Heutiger Stand:  Das selbstfahrende Auto ist bereits Realität. Das teilautomatisierte Fahren wird von vielen Fahrzeugherstellern serienmässig mit Fahrerassistenzsystemen ermöglicht und kann im bestehenden gesetzlichen Rahmen genutzt werden. Höhere Auto­matisierungsstufen befinden sich dagegen erst vereinzelt in Serienproduktion und erlauben derzeit noch keine legale Anwendung. Ausnahmen davon bilden laufende und schon abgeschlossene Pilotversuche des Bundesamts für Strassen mit Shuttlebussen, Lieferrobotern und Personenwagen an verschiedenen Orten in der Schweiz.

Entwicklung:  Derzeit leisten sich Automobilhersteller zusammen mit IT-Dienstleistern einen regelrechten Technologiewettbewerb rund ums automatisierte und autonome Fahren. Diese technischen Fortschritte können jedoch hierzulande aufgrund der Gesetzgebung kaum genutzt werden. Im Ausland ist das anders: In gewissen Gebieten der USA und im technologieoffenen Singapur testen einige Hersteller unter Realbedingungen bereits hochautomatisierte Fahrzeuge, deren Systeme alle Situationen automatisch bewältigen können. Somit werden vermutlich auch auf Schweizer Strassen in absehbarer Zukunft hoch- oder vollautomatisierte Fahrzeuge verkehren. Nicht zuletzt, weil die Technologie für viele unterschiedliche Zwecke (Individualverkehr, öV, Güter etc.) einsetzbar ist.

Erfahrungsgemäss wird die Schweiz aber eher mit den Entwicklungen im Ausland «mitschwimmen» und keine Vorreiterrolle übernehmen. Die Übergangsphase im Mischverkehr wird zwar Herausforderungen bringen, aber keine unlösbaren. Vergleichbare Zustände gab es ja bereits in der Vergangenheit, als beispielsweise Autos die Pferdekutschen ablösten. Allerdings werden viele Vorzüge (z. B. verbesserter Verkehrsfluss) erst dann vollumfänglich spürbar sein, wenn ein Grossteil des Fahrzeugbestands weitgehend automatisiert und kommunikationsfähig verkehrt. Die Auswirkungen der Automatisierung auf Verkehrsauslastung und Infrastruktur sind heute schwer abschätzbar und hängen massgeblich davon ab, wie stark die automatisierten Fahrzeuge dereinst von Einzelpersonen oder Gruppen benutzt werden.

 

Trend: alternative Antriebsarten – das ökologische Auto

These: Im urbanen Raum wird das fossil betriebene Auto in normalen Alltags­situationen keinen Platz mehr haben.

Heutiger Stand:  In der Schweiz verkehren etwa 4 % der Autos mit einer alternativen Antriebsart – punkto Inverkehrsetzung sind es aktuell gar erstaunliche 35 %. Zu diesen Antriebsarten gehören Elektro-, Hybrid-, Erdgas- und Wasserstoffantriebe. Etwa die Hälfte bei den Neuzulassungen machen batterieelek­trische Fahrzeuge (BEV; «Elektroautos») und Plug-in-Hybride (PHEV; Hybridfahrzeug mit externer Lademöglichkeit) aus. Sie gelten als klima­freundlichere Nachkommen des herkömmlichen Autos, das den alternativen Antriebsarten nur mit synthetisch hergestellten Treibstoffen das ökologische Wasser reichen kann. Der grösste Teil im alternativen Grüppchen der Neuzulassungen sind allerdings Hybridfahrzeuge mit Benzinmotor. Die genannten Antriebsarten stehen jedoch nicht nur in Konkurrenz mit den herkömmlichen Verbrennungsmotoren, sondern auch untereinander.

Entwicklung:  Die Ziele der Energiepolitik und der Trend bei den Neuzulassungen lassen eigentlich keinen anderen Schluss zu, als dass die Zukunft den alternativen Antriebsarten und Treibstoffen gehört. Tatsächlich erleben in der letzten Zeit vor allem batterieelek­trische Fahrzeuge und Plug-in-Hybride den grössten Zuwachs. Bei leichteren Fahrzeugen und besonders im urbanen Raum mit kurzen Fahrdistanzen wird sich dieser Trend hin zur Elektromobilität vermutlich fortsetzen. Bei Land-, Wasser und Lufttransporten mit schweren Gütern und langen Wegen muss und wird es noch zu technologischem Fortschritt kommen, damit sie den Ansprüchen an Nachhaltigkeit, Leistung und Kosten gerecht werden.

Neben Elektrizität könnten hier auch Wasserstoff, synthetische Treibstoffe, Biofuels oder heute noch unbekannte Treibstoffe eine Rolle spielen. Welche alternative Antriebstechnologie sich längerfristig in welchem Umfeld durchsetzen wird, ist schwer vorhersehbar – ebenso deren Beitrag an die Erreichung der Ziele von Netto-Null. Es ist aber wahrscheinlich, dass mit fossilen Treibstoffen betriebene Automobile immer weniger zum Einsatz kommen werden. Die bestehende Finanzierung der Infrastruktur ist daher zu überdenken. Künftig könnte beispielsweise Mobility Pricing zu einem wichtigen Pfeiler werden.

 

Trend: Shared Mobility – nutzen statt besitzen

These: Durch Shared Mobility werden die Grenzen zwischen individuellem und öffentlichem Verkehr zunehmend verschwinden.

Heutiger Stand:  Das Prinzip der geteilten Nutzung von Ressourcen, «Shared Economy», ist hierzulande in ­Mobilitätsbelangen dank der Mobility-Genossenschaft seit gut 20 Jahren bekannt. Nach eigenen Angaben bedient Mobility aktuell rund um die Uhr über 200 000 Kunden mit etwa 3000 Fahrzeugen an 1500 Standorten in der Schweiz. Neben Mobility haben sich in den letzten Jahren zahlreiche weitere Angebote in den ­B­ereichen Carsharing, Ridesharing, ­Bikesharing, E-Scooter-Sharing und E-Trottinett-Sharing entwickelt. In ­Zürich hat sich die Schwemme an wild parkierten E-Trottinetten bereits prägend ins Stadtbild eingefügt. Allerdings sind solche Angebote dem öffentlichen Verkehr preislich oftmals unterlegen.

Entwicklung:  Sharing-Angebote werden für die Nutzer interessant, wenn sie einen ähnlichen Komfort und die Flexibilität des herkömmlichen Individualverkehrs bieten und gleichzeitig die Kosten für die Mobilität senken. Automatisierte und vernetzte Fahrzeugflotten bergen ein grosses Potenzial, um diese Bedingungen zu erfüllen. Falls im Zuge dieser Entwicklung ein Teil des Privateigentums an motorisierten Fahrzeugen substituiert werden kann, werden Sharing­Angebote einen spürbaren Beitrag zur nachhaltigen Mobilität leisten. Allerdings wird es aufgrund von Skaleneffekten einfacher sein, solche Angebote in urbanen Räumen mit hoher Nachfrage zu etablieren. Zu vermuten ist auch, dass die Grenzen zwischen Individual- und öffentlichem Verkehr zunehmend verschwimmen werden.

 

Trend: Seamless Mobility – nahtlos mobil

These: Die nahtlose Mobilität wird zur bestmöglichen Allokation von Ressourcen beitragen.

Heutiger Stand:  Mobilität hat viele Formen und definiert sich über die Vielzahl der Verkehrsmittel. Sie ist gegenwärtig aber auch durch ein Gärtchendenken und eine intermodale Konkurrenz geprägt: Jeder Verkehrs­träger wird mit separater Planung den jeweiligen Bedürfnissen angepasst, und praktisch jedes Verkehrsmittel hat mehrere Betreiber. In der Summe ergibt das aber nicht zwingend den grössten Nutzen für die Kundinnen und Kunden oder eine Kosteneffizienz im Betrieb.

Aktuell sind integrale Angebote entlang von Mobilitätsketten wie z. B. SBB Green Class die Ausnahme. In solchen integrierten Mobilitätskonzepten stehen die unterschiedlichen Verkehrsmittel nicht in Konkurrenz untereinander, sondern werden intelligent miteinander vernetzt. Die Grob- und Feinver­teilung der Massen könnte über die Verkettung von individuell passenden Verkehrsmitteln erfolgen. Mobilitätsdienstleister würden sich nicht länger auf ein Territorium oder ein Verkehrsmittel beschränken, sondern böten eine nachfrageorientierte, «individuelle Massenmobilität».

Entwicklung:  Schon heute kann Google Maps praktisch beliebige verkehrsträger-, verkehrsmittel- und länderübergreifende Verbindungen per Mausklick bestimmen. Allerdings ermöglicht die Applikation noch keine direkten Ticketkäufe für entsprechende Mobilitätsdienstleistungen. Mit den vorhandenen technischen Möglichkeiten (Bezahl-App) und den in Aufbereitung befindlichen Datengrundlagen (Nationale Dateninfrastruktur Mobilität) scheinen solche gesamtheitlichen Mobilitätsangebote jedoch in greifbarer Nähe.

Zusammen mit alternativen Finanzierungsmodellen wie Mobility Pricing kann die nahtlose Mobilität zur best­möglichem Allokation von Ressourcen beitragen. Sie ist daher wünschenswert und könnte sich zudem als Effizienztreiber für die Infrastrukturplanung entpuppen. Denn entgegen den aktuell eher regional­politisch geprägten Ausbauprogrammen müssten unter diesen Bedingungen neue Infrastrukturen erst dann entstehen, wenn die bestehenden an ihre Kapazitätsgrenzen stossen und beispielsweise Verbindungen im Viertelstundentakt tatsächlich erforderlich sind.

 

Trend: Mobility Pricing – wer konsumiert, bezahlt!

These: Mobility Pricing schafft Kostentransparenz und hat positive Auswirkungen auf die Auslastung der ­Infrastrukturen.

Heutiger Stand:  Zur Finanzierung der Strasseninfrastruktur bestehen verschiedene, komplex alimentierte und miteinander verwobene Instrumente. Der Bund finanziert die Nationalstrassen und leistet Beiträge an die Erweiterung der Kantons- und Gemeindestras­sen. Die Kantone finanzieren den Sub­stanzerhalt und die Erweiterung der Kantonsstrassen, beteiligen sich an der Netzvollendung der Nationalstrassen und leisten Beiträge an die Erweiterung der Gemeindestrassen. Die Gemeinden finanzieren den Substanzerhalt und grosse Teile der Erweiterung von Ge­meindestrassen. Die Finanzierung der Bahninfrastruktur erfolgt über die Trassenabgaben und hauptsächlich über den Bahninfrastrukturfonds mit einem grossen Teil an Einlagen aus dem allgemeinen Bundeshaushalt.

Im Jahr 2016 verursachte der motorisierte Verkehr auf Strasse und Schiene Kosten von 83.5 Mrd. Franken (inkl. externer Kosten). ­Keiner der beiden Verkehrsträger konnte den entstandenen Bedarf selbst decken. Um die Säulen der Finanzierung zu stärken, hat der Bundesrat Ende 2019 das Uvek mit der Ausarbeitung eines Konzepts zur lang­fristigen Sicherung der Finanzierung der Verkehrs­infrastrukturen beauftragt. Bestehende Steuern und Abgaben sollen durch eine leistungsabhängige Abgabe (Mobility Pricing) abgelöst werden. Nach einer abgeschlossenen Wirkungsanalyse in der Region Zug sollen zudem die Rahmenbedingungen für Pilotversuche mit Mobility Pricing geschaffen werden.

Entwicklung:  Mobility Pricing ist absolut wünschenswert. Es macht die effektiven Kosten der Mobilität – d. h. beispielsweise Staukosten, Umweltkosten oder auch Kosten für Infrastruktur­erstellung und -unterhalt – und nicht nur die unmittelbaren Kosten für den einzelnen Nutzer sichtbar. Dank der Kostentransparenz kann sich ein effizienter Wettbewerb unter den Verkehrs­trägern einstellen, und bestehende Subven­tionen zur Internalisierung von externen Effekten erübrigen sich. Falls entsprechende Rahmenbedingungen wie flexible Arbeitszeitmodelle oder die Möglichkeit für vermehrtes ortsunabhängiges Arbeiten geschaffen werden, können so zudem Auslastungsspitzen auf den Infrastrukturen gebrochen werden.

 

Trend: vertikale Erschliessung – unter- und überirdische Potenziale

These: Der Grossteil der Mobilität wird auch in Zukunft boden­gebunden stattfinden.

Heutiger Stand:  Im Tunnelland Schweiz braucht es kaum Erklärungen, um den verkehrlichen Nutzen unterirdischer Verkehrsinfrastrukturen darzulegen. Tunnels werden gebaut, wo es entweder die Topografie gebietet, zur Entflechtung von Verkehrsnetzen und -trägern erforderlich ist oder eine ­wesentliche Reisezeitersparnis erzielt wird. Unterirdische Infrastrukturen im städtischen Umfeld dienen vor ­allem der Lösung von Flächenkonflikten. Die potenziellen Nutzen solcher Infrastrukturen können aber noch weiter ausgebaut werden (vgl. «Jedem seine Tunnelbohr­maschine»). Auch ist eine dichtere Nutzung des Luftraums mit alter­nativ angetriebenen Flugzeugen, Drohnen oder Lufttaxis schon lang keine Utopie mehr. Erst kürzlich hat das Bundesamt für Zivilluftfahrt das erste Elektro­flugzeug ordentlich zugelassen. Auch sind autonom fliegende Drohen gesetzlich zugelassen.

Entwicklung:  Besonders in sehr dicht besiedelten Räumen bieten unter- oder überirdische Erschliessungen noch Potenziale für einen Ausbau der Infrastrukturen. Allerdings werden diese auch in Zukunft vorrangig in der dafür physikalisch und ökonomisch sinnvollen Umgebung erstellt werden. Und das ist in den meisten Fällen à niveau. Das grösste Potenzial im Untergrund haben vermutlich Gütertransporte wie etwa das Projekt «Cargo sous terrain». Für eine flächendeckende und wirtschaft­liche Personenbeförderung im Untergrund sind die städtischen Kernräume in der Schweiz heute zu wenig gross und zu wenig dicht besiedelt; die Nutzen (z. B. Reisezeitersparnisse oder Lärmverminderung) sind im Verhältnis zu den Infrastrukturkosten heute deshalb in der Regel zu gering. Bevölkerungswachstum

und verdichtetes Bauen könnten jedoch in Zukunft vermehrt Untergrundprojekte in Stadtzent­ren begünstigt. Gleichzeitig bestehen bei den Entwicklungen im Luftverkehr noch sehr viele offene Fragen bezüglich der Regulierung, der Sicherheit und der erforderlichen Strukturen. Ausserdem verursacht der Luftverkehr zusätzliche, externe Kosten (z. B. Lärm oder Schattenwurf). Alles in allem ist daher in näherer Zukunft eine Abwendung von der bodengebundenen Mobilität unwahrscheinlich. Viel eher muss da eine Effizienzsteigerung stattfinden.

 

Trend: Lieferung 4.0 – Pöstler oder Drohne

These: Nachhaltigkeit in der Logistik braucht technologieneutrale Anreize.

Heutiger Stand:  Im Jahr 2019 hat die Post total 148 Mio. Pakete ausgeliefert. Darunter auch einige mit selbstfahrenden Lieferrobotern und Drohnen. Seit 2016 testet die Post nämlich alternative Zustellungsformen für die letzte Meile (fahrende Roboter) und vielfrequentierte Beziehungen, bei denen die Lieferzeit von ausserordentlicher Bedeutung ist (z. B. im Austausch von medizinischen Proben zwischen Spitälern und Labors). Und sie zieht durchwegs positive Bilanz aus diesen Tests: Dank Drohnen seien Transporte ­flexibler, unabhängiger von der Verkehrslage und ökologischer als ein Kurier auf der Strasse. Auch habe es im letzten Testbetrieb mit Lieferrobotern bei gesamthaft 800 km zurückgelegter Strecke weder Un- noch Zwischenfälle gegeben. Allerdings verzeichnete man zwei Zwischenfälle bei Drohnenlieferungen in Zürich.

Entwicklung:  Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung wird die klassische Briefpost eine immer unbedeutendere Rolle einnehmen. Die herkömmlichen Postdienstleistungen werden damit entfallen und die Post im Bereich der übrigen Dienstleistungen zunehmend der Konkurrenz ausgesetzt. Genauso wie die nahtlose Mobilität allgemein scheint auch eine naht­lose Logistik sinnvoll und wünschenswert – eine ­Lieferung soll den individuell effizientesten und günstigsten Weg gehen. Hierfür braucht es Wettbewerb. Drohnen dürften wegen ihres schlechten Kosten-Nutzen-Ver­hältnisses wohl nicht für die Massenzustellung infrage kommen. Für gewisse dringende Lieferungen sind sie aber eine sinnvolle Zustellungsform. Um das überhaupt zu ermöglichen, braucht es eine zielgerichtete Regulierung und eventuell eine Konzessionierung im Bereich der kommerziellen Drohnenflüge. Dessen ungeachtet werden Drohnen im Gesamtsystem Mobilität in näherer Zukunft eine untergeordnete ­Rolle spielen. Um in diesem System mehr Nachhaltigkeit zu ermöglichen, sind viel eher technologieneutrale ­Anreize für nachhaltige Antriebssysteme entlang der gesamten Logistikkette zu überprüfen und zeitgemässe, urbane Logistikkonzepte zu fördern.

 

Trend: Public-Private Partnership – Hand in Hand in die Zukunft?

These: Public-Private Partnership kann Nutzen bringen, aber …

Heutiger Stand:  Die Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Hand und Privaten im Infrastrukturbereich kennt viele unterschiedliche Formen und gleichermassen Erfolgs- wie auch Misserfolgsgeschichten. Das heutige, zusammenhängende Bahnnetz und der Taktfahrplan sind gewiss der Verstaatlichung der Bahngesellschaften vor über 100 Jahren zu verdanken; die Dichte und Zuverlässigkeit sowie der Ausbaustandard und Zustand des Strassennetzes nicht zuletzt den hoheitlichen Zuständigkeiten. Handkehrum lassen sich durch öffentlich-private Partnerschaften zusätzliche Mittel und Know-how erschliessen. Während Österreich erfolgreich den Bau, den Betrieb und den Unterhalt seiner Nationalstrassen in eine privatrechtliche Firma ausgegliedert hat, warnen Negativschlagzeilen aus Italien vor solchen Modellen. Bislang zeigt sich die Schweiz sehr zurückhaltend gegenüber Partnerschaften im Strassen- und Bahninfrastruktur­bereich.

Entwicklung:  Gerade im Infrastrukturbereich spielen Aspekte der Marktmacht eine grosse Rolle, weshalb hier öffentlich-pri­vate Partnerschaften nur mit begleitenden, den Wettbewerb fördernden Rahmenbedingungen sinnvoll sind. Bei Mobilitätsdienstleistungen hingegen sind solche Probleme tendenziell geringer. Hier können dank neuen Technologien sogar gezielt Wettbewerbssituationen geschaffen und genutzt werden. So etwa in Form von Konzessionen für die Nutzung von Verkehrs- und Mo­bilitätsinfrastrukturen. Im Gegensatz zu öffentlich-pri­vaten Partnerschaften im Infrastrukturbereich dürfte bei Dienstleistungen eine wettbewerbliche Regulierung einfacher zu bewerkstelligen sein. In beiden Bereichen – also sowohl bei den Infrastrukturen als auch bei den Dienstleistungen – gilt es aber unbedingt, Interessenskonflikte zu verhindern. Private und öffentliche Verantwortlichkeiten müssen klar abgegrenzt und geregelt sein. Eine effiziente und effektive «Governance» ist von zentraler Bedeutung.

 

Trend: Verkehrsvernetzung – Kommunikation im Internet der Dinge

These: Herkömmliche Fahrzeuge werden zu Liebhaberobjekten

Heutiger Stand:  Das Internet der Dinge macht auch vor der Mobilität keinen Halt. Schon heute können Fahrzeuge untereinander oder gar rudimentär mit der Infrastruktur kommunizieren (Vehicle-to-Vehicle «V2V» und Vehicle-to-Everything «V2X»). Ein Beispiel dafür sind die Datenaustauschgrundlagen für Fahrassistenten. Gleichzeitig kann die Infrastruktur mit den Verkehrsteilnehmern kommuni­zieren (Infrastructure-to-Everything «I2X») – beispielsweise in Form einer Baustellenwarnung oder temporär geänderten Verkehrsführung. Die Verkehrsvernetzung ist eine bedeutende Voraussetzung für die Weiterentwicklung des automatisierten und letztlich des autonomen Fahrens.

Entwicklung:  Die Verkehrsvernetzung ist heute schon Tatsache und wird sich im gleichen Tempo weiter­entwickeln wie die Technologien, mit denen sie Synergien teilt – beispielsweise das automatisierte Fahren oder Shared Mobility. Denn erst wenn alle Fahrzeuge untereinander und mit der Infrastruktur kommunizieren können, kommt der Nutzen dieser Technologien richtig zum Tragen. Herkömmliche Fahrzeuge werden in der Zukunft wohl nur noch als Liebhaberobjekte auf ­bestimmten «Oldtimerstrecken» unterwegs sein. Wenn beispielsweise auf der Autobahn nur noch auto­ma­tisierte Fahrzeuge in situationsgerechtem Tempo mit minimalsten Abständen zueinander verkehren, würden konventionelle Fahrzeuge die Effizienz solcher Systeme stark mindern. Die Umstellung kann jedoch nicht von heute auf morgen geschehen und beinhaltet zudem auch offene Fragen hinsichtlich Datenschutz und ­Datensicherheit.

 

3. Akt: Synthese

Was lässt sich nun aus diesem Blick in die Kristallkugel schlussfolgern? Zum einen sicherlich, dass sich die Mobilität der Zukunft aus der Synergie verschiedener Technologien und Entwicklungen definieren wird. Zum anderen wird sie vermutlich durch einzelne Treibertechnologien wie etwa das automatisierte Fahren und das Internet der Dinge bestimmt.

Dabei stellt sich aber auch die Frage, wie stark die Mobilität von Entwicklungen beeinflusst wird, die in ganz anderen Lebensbereichen stattfinden. Auch haben die letzten Monate seit Beginn der Covid-19-Pandemie gezeigt, dass sich die Mobilität schlagartig auf einen regionalen Umkreis reduzieren kann. Was, wenn aufgrund ortsunabhängiger Arbeitsmöglichkeiten immer weniger Pendlerströme entstehen oder die Pendler­distanzen sich verringern? Werden dadurch inner­städtische Verkehrsflächen für den motorisierten Individualverkehr aus rein praktischen und nicht bloss politischen und ökologischen Motiven überflüssig? Was, wenn sich aufgrund von Urban oder Vertical Farming grossräumige Transporte von Lebensmitteln vermindern? Was, wenn sich Produkte aller Art im eigenen 3-D-Drucker fertigen lassen und der Transport von industriell gefertigten Gütern massiv einbräche?

Eines scheint immerhin klar: Der Stand der Technik und die unmittelbar absehbaren Entwicklungen bieten allerlei und immer stärker vernetzte Lösungen für verschiedene Zukunftsszenarien. Eine Gegendarstellung zur einleitenden Fiktion könnte etwa wie folgt aussehen: Die Annahme, die digitale Vernetzung aller Lebensbereiche nehme einem viele alltägliche ­Aufgaben ab, ist wohl ziemlich zutreffend. Cyberattacken – auch auf Privatpersonen – stellen dabei eine zunehmend relevante Gefahr dar. Flugtaxis werden in absehbarer Zukunft vermutlich nicht zu einem bedeutsamen Verkehrsmittel.

Das Smartphone (oder ein mobiles Was-auch-immer-Nachfolgegerät, das noch mehr Nutzungen als das Smartphone in einem Gerät kombiniert) wird zur zentralen «Fernbedienung» des Alltags, wobei die klassische Telefonie immer unbedeutender wird. Single-Purpose-Geräte (wie z. B. Kameras oder MP3-Player) verschwinden mit der Zeit gänzlich. Die wesentlichen Verkehrsströme werden sich nur an wenigen Stellen (Städte und Agglomerationen) in den Untergrund verlagern. Die bestehenden Flächenkonflikte werden durch eine digitale und teilautomatisierte Effizienzsteigerung gelöst: Zuerst wahrscheinlich mit Sensorik, mit zunehmendem Bestand aber immer mehr mittels Vernetzung und Kommunikation.

Leichte Verkehrsmittel wie Zweiräder werden aufgrund von tendenziell kleiner werdenden Bewegungsradien noch an Bedeutung gewinnen, aber auch einen angemessenen Anteil an die Finanzierung der Infrastrukturen leisten müssen. Elektrofahrzeuge werden sich wahrscheinlich – da aktuell politisch gefördert und effizient – als alternative Antriebsart durchsetzen; zumindest ­bei leichten Fahrzeugen auf innerschweizerischen ­Distanzen. Dienst- und verkehrs­mittelübergreifende Anbieter werden die nahtlose und autonome Mobilität vorantreiben.

Und die Verkehrsinfrastrukturen? Strasse und Schiene bilden weiterhin die Hauptschlagadern des Infrastrukturnetzes. Ihre Finanzierung wird über ­leistungsabhängige Abgaben sichergestellt. Kosten-Nutzen-Überlegungen werden bei Investitionen in die Infrastruktur vermehrt die externen Kosten einbeziehen. Der Bestand wird daher vermutlich nur geringfügig ausgebaut. Fliegende Autos und Personenrohrpost als Standard? Fehlanzeige. Dank der Digitalisierung lassen sich aber die Effizienz und/oder die Kapazitäten in der Fläche steigern.

Aber was denken Sie, liebe Leserin, lieber Leser: Wie sieht die Schweizer Mobilitäts- und Infrastrukturlandschaft in 30 Jahren aus? Was sind aus Ihrer Sicht wünschenswerte Zustände? ulrich.stuessi [at] tec21.ch (Schreiben Sie uns eine E-Mail!) Eine Collage aus solchen Beiträgen – quasi das summarische Zukunftsbild unserer Leserinnen und Leser – werden wir anschliessend auf espazium.ch veröffentlichen. Wir sind gespannt!

 

Weiterführende Lektüre: «Die meisten Fahrzeuge sind Stehzeuge»

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