Schöp­fung und Zu­fall

Architekturbiennale Venedig 2016: Schweizer Pavillon

Der Architekt Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren die Besucher mit einem rätselhaften Raum. Er verweigert jede Referenz und fordert die Wahrnehmung heraus; die Architektur ist Thema und Mittel der Ausstellung zugleich. Das wirft Fragen auf.

Publikationsdatum
14-07-2016
Revision
04-07-2017

Der Zürcher Architekt Christian Kerez sitzt gelassen in seinem «Incidental ­Space», als er zwei Tage vor Eröffnung ­der Biennale die Journalisten empfängt. Sein Ton ist ruhig, fast sakral. Die Stimme ist sanft, die Worte präzise: «Dieses Werk transportiert keine Botschaft, ihm ist keinerlei Funktion zugewiesen. Es ist kein Demonstrationsobjekt. Es bietet den Besuchern ein Raumerlebnis.»

Raum als solcher

Dennoch geht es auch um Demonstration. Zum einen dreht sich in «Incidental Space» alles um den architektonischen Raum, ein Thema, dem sich Kerez mit einer an Besessenheit grenzenden Intensität widmet. Der architektonische Raum ist für ihn der Ausgangs- und Zielpunkt des Entwurfs; der Begriff figuriert als erster Eintrag im Glossar, den er in «El Croquis» zusammengestellt hat, und wird als «Element des Widerstands» definiert, das die «Unversehrtheit» der Diszi­plin gegenüber äusseren Einflüssen und Ideologien bekräftigt.1Wie die Museumsprojekte, die Kerez für Guangzhou in China entwickelt, zeugt auch «Incidental Space» von seiner Suche nach einem schwach defi­nierten  Raum, der das Bezugssystem des Betrachters ins Wanken bringt.

Die Installation wirkt wie ein grosser weisser Meteorit, der unvermittelt im Schweizer Pavillon ge­landet ist. Von aussen ist sie ein geheimnisvolles Objekt aus weissem Beton, das die Sinne anspricht. Die mal glatten, mal rauen Wände der behutsam auf ihrem ­Holzsockel deponierten Wolke ziehen die Hand an. Das Auge sucht Grenzen und Eingänge. Wie bei einem Guckkasten ermöglicht eine seitliche Öffnung jenen, die sich nicht ins Objekt hineinwagen, einen staunenden Blick ins Innere.

Dort erwartet einen eine Explosion aus Unebenheiten, Falzen und Falten, aus «wirbelartigen Formen, die sich aus neuen Wirbeln speisen».2 Was auch immer der Besucher im labyrinthischen Innenraum zu erkennen glaubt – einen «Playground» für Kinder, ein Symbol des Mutterleibs, eine heilige Stätte oder einen organisch gewachsenen Ort –, immer ist er frei, eine eigene Interpretation zu wählen. Die Architektur selbst ist das Mittel, mit dem Kerez seine Architekturausstellung zu einem verstörenden Raumerlebnis macht.

Hightech an der ETH Zürich

Die zweite Demonstration betrifft den Entwurfs- und Herstellungsprozess. Kein Raumprogramm, keine Skizze und keine Referenz liegen «Incidental Space» zugrunde. Doch auch wenn er vorerst «durch Zufall» zustande kam, ist er zugleich das Ergebnis eines komplexen Entwurfs- und Fertigungsprozesses; das interdisziplinäre Team versammelte Fachleute aus Architektur, Bauingenieurwesen, für computergestütztes Entwerfen und Konstruieren (CAAD), aus Mathematik, Kunstgeschichte und Kunst.

Der Entwurfsprozess erfolgte mit Abgüssen von Materia­lien und der Herstellung von Hohlformen. Aus über 300 Modellen wurde eines ausgewählt, digital und analog erfasst und stetig weiterentwickelt. Entwurf und Ausführung benötigten eine Kombination von Mitteln, die vom traditionellen Modell bis hin zu den modernsten digitalen Technologien reichten (vgl. TEC21 23/2016). Dieses technische Arsenal ermöglicht es Kerez, als Schöpfer die vollständige Kontrolle über den Zufall und die freie Form zu beanspruchen. Die Biennale bietet ihm den Rahmen für einen rein experimentellen Raum.

Eigenständig, rätselhaft oder frei?

Drittens demonstriert «Incidental Space» einiges über die Schweiz. Während die meisten Länderpavillons Ausstellungen zeigen, die sich mehr oder weniger ­stringent mit dem vom chilenischen Kurator Alejandro Aravena gewählten Thema beschäftigen (vgl. «Die Rückkehr des Einfachen»), geht der Schweizer Pavillon andere Wege.

Für Kerez entspricht sein Werk der Leiter, auf der Maria Reiche auf dem Veranstaltungsplakat steht (vgl. «Blicke über Grenzen»): Da der deutschen Archäologin die finanziellen Mittel fehlten, um ein Flugzeug zu mieten und die Tierdarstellungen der Nazca aus der Luft zu untersuchen, behalf sie sich mit einer Leiter. Analog dazu soll «Incidental Space» ­die räumliche und architektonische Wahrnehmung ­der Besucher verändern. Doch Christian Kerez scheint die Haupt­botschaft Aravenas zu ignorieren: Erfindungsgeist und schöpferische Kraft können Zwänge – seien sie ­wirtschaftlich, rechtlich oder materiell – umgehen, anstatt sie zu bezwingen.

Die Antwort findet sich möglicherweise in der Doppeldeutigkeit des Titels. Die gängigste Definition von «incidental» vermittelt auch die Bedeutung «zweitrangig», «nebensächlich».3 «Incidental Space» wäre demnach ein «nebensächlicher» Raum. Indem er als Aussenseiter der Biennale agiert, rückt Kerez in die Nähe des antiken griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, des bekanntesten Vertreters der Zyniker, der in einem Fass gelebt haben soll. Mit seinem Werk postuliert Kerez Antikonformismus, individuelle Freiheit und den Willen, zum eigentlichen Wesen der Architektur zurückzukehren: zum Raum. 

Diese Geste ist im Rahmen dieser schönen, aber wenig überraschenden Biennale tatsächlich subversiv und durchaus begrüssenswert. Doch sie könnte auch als Zynismus interpretiert werden: als Statement einer Schweiz, die sich gegenüber den Erwartungen eines «Reporting from the Front» taub stellt und ihren ­Reichtum, ihr technologisches Know-how und ihre Gleichgültigkeit gegenüber den existenziellen Problemen der Welt zur Schau stellt.

Anmerkungen 

1 «The term ‹architectural space› seems at first to be purely tautological, since architecture is itself defined by physically built space. But architecture is, for the most part, built without any specific intentions regarding the space beyond an awareness of the three-dimensional quality of space. In this sense,
the term ‹architecture space› becomes an element of resistance. It insists on the integrity of the discipline of architecture, which can be influenced from outside but will never be deduced from there.

It defends the idea of architectural space on behalf of those who might wish to use it and experience it against any fast reception of a picturesque or idelogical projection. It insists on the media of architecture against all other perceptions. Certain aspects in architecture such as the client’s brief or the plot, sustainability or poverty are only arbitrary points of departure, merely para­meters to reveal the experience of architectural space, an experience that is not possible in any other media. This experience is no longer the result of many other influences but becomes the point of departure and focal point for all thoughts during each design process.» In: El Croquis 182, 2016. 

2 Einige dieser Eigenschaften hat Heinrich Wölfflin als materielle Züge des Barock identifiziert. Vgl. Gilles Deleuze, Le pli. Leibniz et le baroque. Paris,
Les Editions de Minuit, S. 7.

3 www.merriam-webster.com/dictionary
www.biennials.ch
www.kerez.ch
www.espazium.ch/tec21/thema/15-architekturbiennale
www.espazium.ch/enigmatic-space

Am Bau Beteiligte


Kommissärin
Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia

Aussteller
Christian Kerez Architektur

Zusammenarbeit
ETH Zürich, Departement Architektur

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