Die das Glück hat­ten, ihn zu ken­nen

Die Bedeutung Aldo Rossis für die Deutschschweizer Architektur

Heute würde man das Engagement von Aldo Rossi (1931–1997) an der ETH Zürich Anfang und Mitte der 1970er-Jahre als «Win-win-Situation» bezeichnen: Rossi erschloss für sich architektonisches Neuland und füllte das geistige Vakuum, das die Studierenden empfanden. Die Einschätzung seiner Bedeutung für die Entwicklung der Deutschschweizer Architektur wandelte sich im Laufe der Jahre. Ákos Moravánszky und Judith Hopfengärtner zeigen, dass sie kaum zu hoch angesetzt werden kann.¹

Publikationsdatum
08-01-2012
Revision
17-10-2018

«Wie man wird, was man ist»,2 diese Formulierung Friedrich Nietzsches umreisst die Aufgabe, die sich Aldo Rossi in seiner «Wissenschaftlichen Selbstbiographie» stellte. Das Buch ist dem Nachdenken über das eigene Leben, der Verdichtung des Werdegangs und der Arbeiten in eine schlüssige Erzählung gewidmet. Seinem Aufenthalt in Zürich, wo er zwischen 1972 und 1974 Gastdozent und seit 1976 für zwei Jahre Lehrbeauftragter an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) war, kommt dabei eine wichtige Rolle zu. So wie Zürich für Rossi eine Loslösung von seiner norditalienischen Heimat darstellte und eine Verschiebung seiner architektonischen Schwerpunkte ermöglichte, half umgekehrt auch Rossi der Schweizer Architektur, eine Situation zu überwinden, die von vielen damaligen Architekturstudierenden als Lähmung, als geistiges «Vakuum»3 wahrgenommen wurde. Es fällt heute schwer, zu verstehen, worin genau die Natur dieser Krise um 1970 bestand. International anerkannte Architekten sind als Professoren tätig. Bernhard Hoeslis (1923–1984) viel gelobter Grundkurs vermittelt beispielhaft die elementaren Gestaltungsprinzipien und das Raumverständnis der architektonischen Moderne.4 Auch die theoretische Beschäftigung mit der Disziplin kommt nicht zu kurz: Bereits 1967 hatte Hoesli zusammen mit Paul Hofer und Adolf Max Vogt das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) gegründet.5 Die Architekturschule hatte keinen für eine zeitgemässe Entwicklung nötigen Schritt verpasst, im Gegenteil, alle Facetten sind vertreten, auch soziologische Forschung wird betrieben. Warum also die Unzufriedenheit 

«Houses of Cards», HippieStädte – «Oppositions», Gegenkultur

Die Ursachen lagen sowohl auf der architektonischen als auch auf der politischen Ebene – wobei beide sich gegenseitig beeinflussten. Auf dem Gebiet der Architektur waren es ihre vielen neuen Interpretationen, die intellektuell anregend waren, aber die bisher geltenden Werte von unterschiedlichen Positionen her ablehnten. Weltweit erscheinen kleine Architekturzeitschriften, und bald wird mit dem Start von «Oppositions» (1973) die Architekturtheorie eine neue Bedeutung gewinnen. Peter Eisenmans «Houses of Cards», Robert Venturis und Denise Scott Browns enthusiastische Forschungen über Las Vegas, die alternativen Versuche zum Selbstbau, Hippiestädte und Gegenkultur, die Anfänge eines ökologischen Bewusstseins sind Teile einer schwindelerregenden Gleichzeitigkeit von emotionell vorgetragenen Vorschlägen. Im Zuge dieser grundsätzlichen Anzweiflung der Glaubenssätze der modernen Architektur wird auch die «einmalige dogmatische Geschlossenheit» von Hoeslis legendärem Grundkurs zunehmend als fragwürdig empfunden. Die beunruhigenden Auswirkungen des Bauwirtschaftsfunktionalismus der Nachkriegszeit auf die gebaute Umwelt stellen zudem immer drängender die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Architektur und nach Möglichkeiten ihrer erneuten Legitimierung. Ein «verbindliches Berufsbild des Architekten, das als Leitbild für die Ausbildung dienen kann», lasse sich angesichts der gesellschaftlichen Wandlung und der Industrialisierung des Bauprozesses nicht mehr definieren – heisst es im kurzem Bericht der Architekturabteilung, der im Januar 1972 im Band «ETH Zürich heute» veröffentlicht wird.6
In einer heiklen Situation befand sich der damalige Präsident der ETH Zürich, Hans H. Hauri, auch in politischer Hinsicht. Seit die marxistische oder marxistisch inspirierte Kritik am Wohlfahrtsstaat im Juni 1968 mit dem Globus-Krawall eskaliert war, befand sich die ETH in der sogenannten Experimentierphase, in der eine eigens eingesetzte Kommission grundlegende didaktische und hochschulpolitische Reformen durchzusetzen versuchte. Am Architekturdepartement probte das von Lucius Burckhardt mit Rolf Gutmann gemeinsam besetzte «Lehrcanapé» auf vergleichsweise sanfte Weise eine Enthierarchisierung der Lehrstrukturen zugunsten kollektiver Lernprozesse. «Harte Zeiten» hiess dagegen die Zeitung, die vom Seminar des deutschen Soziologen Jörn Janssen herausgebracht wurde.7 Dessen Ziele fassten die Assistenten des Gastdozenten, Heiner Bachmann, Rut Föhn und Hartmut Frank, in der Zeitschrift «Kursbuch» nachträglich zusammen: «Unter dem Titel ‹Ökonomische Kriterien für Planungsentscheidungen› untersuchte ein Seminar […] in Form einer Fallstudie die sprunghafte Entwicklung der Zürcher Vorortsgemeinde Volketswil im Zusammenhang mit der expansiven Bautätigkeit der Generalunternehmung Ernst Göhner AG. Das Thema versprach Erkenntnisse, die die offiziellen Lehrziele und Berufserwartungen der Architekturstudierenden sowie den Glauben an Demokratie in Gemeinde und Staat fundamental erschüttern würden.»8 Als Ergebnis erschien 1972 das Buch «‹Göhnerswil› – Wohnungsbau im Kapitalismus».9 Die ETH-Führung hatte freilich schon fast ein Jahr vorher auf die als bedrohlich eingestufte Entwicklung reagiert und am 24. Juni 1971 die Nichtverlängerung der Verträge der drei studentisch gewählten deutschen Gastdozenten Jörn Janssen, Hans-Otto Schulte und Hermann Zinn bekannt gegeben.

Schnelle Anerkennung, scharfe Kritik

Ein Jahr nach der Göhnerswil-Affäre einen Gastdozenten aus Italien anzustellen, der Mitglied der Kommunistischen Partei war und der wenig vorher aus politischen Gründen von seiner Professur in Mailand suspendiert worden war, musste als ein riskanter Schritt erscheinen – in Wirklichkeit war es ein genialer Schachzug.10 Man reagierte damit auf die Politisierung eines Teils der Studentenschaft und zugleich auf das nicht zu übersehende Unbehagen an der Architekturabteilung hinsichtlich der zu vermittelnden Inhalte und Wertvorstellungen. Rückblickend scheint es, dass sich in Rossis vielschichtiger und widersprüchlicher Persönlichkeit ein geradezu ideales Mittel fand, um der Krise an der Architekturabteilung der ETH zu begegnen.
Die aufgewühlten Verhältnisse an der Architekturabteilung bildeten denn auch eine fruchtbare Voraussetzung für die unmittelbare und durchschlagende Wirkung, die Rossi in Zürich entfalten sollte. Die charismatische Persönlichkeit des leise und höflich auftretenden Intellektuellen und ein (mit Unterstützung seiner Assistenten Bruno Reichlin und Fabio Reinhart) streng durchorganisierter Unterricht taten ein Übriges, um schnell Anerkennung zu erhalten, aber auch scharfe Kritik zu erregen. Er brachte es fertig, die ambitioniertesten und zugleich politisch radikalsten Studierenden in seinen Bann zu ziehen und gewissermassen an die Zeichentische zu fesseln. So trug gerade ein Kommunist mit seinem Postulat, Architektur als eine autonome Praxis zu betrachten, wesentlich zur Befriedung der revoltierenden Studentenschaft bei. Rossis Kurs forderte – wie sich ein ehemaliger Student erinnert – zum «totalen Engagement» heraus und riss «an der höchsten Schule des Landes […] eine Generation von Studierenden mit, Stadtentwicklungen Haus für Haus aufzuzeichnen und schliesslich über ganze Stadtteile jede Grundrissmauer aufzuzeichnen. […] So sassen die […] revolutionären Studierenden denn hunderte von Stunden mit Tuschstift und Klebefolie über ihren Plänen. Sie erlebten eine neuartige, stille Gemeinschaft […].»11
Die Auswirkungen der im Herbst 1973 einsetzenden Ölkrise beendeten die offizielle Experimentierphase an der ETH und verhinderten durch den schulweit verhängten Einstellungsstopp auch eine weitere Verlängerung von Rossis Anstellung über den Sommer 1974 hinaus. Erst recht mussten seine Hoffnungen auf eine feste Professur begraben werden.

Von der Experimentier- zur Zementierphase

Rossis zweite, von 1976 bis 1978 dauernde Zürcher Lehrperiode fand unter veränderten Vorzeichen statt. Aus der «Experimentierphase» war, im Gleichklang mit den politischen Tendenzen, längst eine «Zementierphase» geworden, und die revolutionären Bestrebungen hatten sich in heterogene autonome Subkulturen verzweigt. Auch die Architekturabteilung befand sich gemäss Hoesli in einer «eklektischen Situation». «Die gegenwärtige Lage der Schule [ist] dadurch gekennzeichnet, dass die Fixpunkte, welche für Lehrer und Schüler eine Orientierung ermöglichten, entrückt sind. An deren Stelle können wir nur eine Vielzahl von Tendenzen sehen. Das Wetter ist veränderlich geworden», schrieb Bernhard Hoesli 1975 in einem Thesenpapier zur Standortbestimmung an der Abteilung.12 Italienischsprachige Gastdozenten, insbesondere Vertreter der Tessiner Tendenza, waren mittlerweile zu einer festen Grösse im Lehrbetrieb geworden. Aldo Rossi erhielt 1976 eine Einladung als Lehr­beauftragter an Paul Hofers Lehrstuhl für Geschichte des Städtebaus und allgemeine Denkmalpflege. Daraus entwickelte sich im darauffolgenden Jahr ein gemeinsames Unterrichtsexperiment von Rossi, Hofer und Hoesli, das «Unternehmen Solothurn». Die Zusammenarbeit gestaltete sich schwierig, eine Verlängerung seines Engagements als Lehrbeauftragter schlug Rossi wegen der vergleichsweise unattraktiven Bedingungen aus.
Mehrere Anläufe, Rossi als Professor wieder an die Schule zu holen, scheiterten, wie auch im Jahr 1986 der Versuch, ihm die Ehrendoktorwürde der ETH Zürich zu verleihen. In einem dafür verfassten Empfehlungsschreiben bezeichnet Fabio Reinhart die Begegnung zwischen Aldo Rossi und der ETH noch optimistisch als glückliches Zusammentreffen («un incontro felice») und hebt dabei besonders die Dauerhaftigkeit des gegenseitigen Interesses hervor.13

Stadt, Typenlehre, Rationalismus und Monumentalität

Auch wenn seine späteren Projekte bei vielen auf Unverständnis stiessen, wird unvermindert auf Aldo Rossis Zürcher Lehrtätigkeit hingewiesen, wenn es darum geht, relevante Impulse für die Entwicklung der Deutschschweizer Architektur zu benennen. Die Schwerpunkte der Rezeption haben sich jedoch mit der Zeit verlagert. In dem charakteristischen Pluralismus der möglichen Alternativen zu Beginn der 1970er-Jahre bedeutete die Einladung des Mailänder Architekten zunächst eine Rückbesinnung auf bestimmte Konstanten. Bereits in Rossis ersten Tagebuchaufzeichnungen zu seinem Unterrichtsprogramm sind alle Elemente festgehalten, mit denen seine Theorie bis heute vornehmlich verbunden wird: die Stadt, die Typenlehre, Rationalismus und Monumentalität.
1986 wagte Pierre-Alain Croset in einem «archithese»-Heft zum «Stand der Dinge» eine erste Einschätzung der «Rossi-Jahre» und konstatierte mit Blick auf die in ganz Europa stattfindenden «Exzesse» der Nachahmung, dass es den Zürcher Schülern möglicherweise als einzigen gelungen sei, ein «antiformalistisches», das heisst ein gedankliches und methodisches Erbe anzutreten.14 Fünf Jahre später heben die Essays von Martin Steinmann, Dolf Schnebli, Luigi Snozzi und Marcel Meili in Peter Dischs «Architektur in der Deutschen Schweiz 1980–1990» Rossis immensen Beitrag zur Emanzipierung der Deutschschweizer Architektur hervor. Eine breiter gefächerte Rückschau findet 1997 – anlässlich von Rossis Tod – in der Zeitschrift «Werk, Bauen und Wohnen» statt. In diesen «Kommentaren zur Zürcher Lehrtätigkeit von Aldo Rossi» schildern ehemalige Kollegen, Mitarbeiter und Schüler ihre Erinnerungen an den «Maestro» – unter der Prämisse, dass nur «die, welche das Glück hatten, ihn zu kennen» die Bedeutung von Aldo Rossis (Zürcher) Erbe ermessen können.15
Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen Auszug eines Essays aus dem von Ákos Moravánszky und Judith Hopfengärtner herausgegebenen Buch «Aldo Rossi und die Schweiz – Architektonische Wechselwirkungen», gta-Verlag, Zürich 2011.

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