Al­do Ros­si und die Schweiz

Der Architekt und Theoretiker Aldo Rossi lehrte von 1972 bis 1974 und von 1976 bis 1978 an der ETH Zürich. Trotz der kurzen Zeit war sein Einfluss enorm: Rossi füllte ein Vakuum, das mit der Krise der Moderne entstanden war und öffnete Wege zu verschütteten Quellen der Inspiration.

Publikationsdatum
23-07-2015
Revision
19-10-2015

Obwohl kein Bauwerk des italienischen Architekten auf dem Besichtigungsprogramm stand, war Aldo Rossi (1931–1997) der «geheime Mittelpunkt unserer Reise», wie es der Reisereader postulierte. Die Kreuzfahrt vermittelte Rossis Idee der città analoga auf anschauliche Weise – ist doch eines seiner berühmtesten Bauwerke das schwimmende «Teatro del Mondo», das Rossi für die Biennale in Venedig von 1980 schuf.

In ähnlicher Weise versammelte der Reiseplan entscheidende historische Referenzen seiner Lehre, allen voran den Diokletianspalast in Split. Natürlich interessiert in diesem Zusammenhang ganz besonders Rossis Beziehung zur Schweiz, die in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren hat. Zudem befanden sich unter den Reiseteilnehmern einige, die in den 1970er-Jahren an der ETH studiert hatten und Aldo Rossi als Dozent persönlich begegnet waren. 

Bevor Rossi in den 1970er-Jahren mit dem Konzept seiner «analogen Architektur» Aufsehen erregte, hatte er seinem Buch «L’architettura della città» (1966) internationale Bekanntheit erlangt. Die darin vorgebrachten Themengebiete und Analysen zum Verhältnis von Stadtstruktur, Architektur und Typologie machten ihn zu einem führenden Vertreter der prominentesten architektonischen Strömung der italienischen Nachkriegsjahrzehnte, der tendenza.

Die Bewegung propagierte eine «rationalistische» Architektur, die mit einem wissenschaftlichen Anspruch auftrat. Dieser begründete sich aus Elementen, mit denen Rossis Theorie bis heute vornehmlich verbunden wird: Stadtanalyse und Typenlehre. Dominierte in den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit an der ETH ausdrücklich eine entsprechende «rationale» Entwurfsmethode, rückten bald andere Aspekte in den Vordergrund von Rossis Interesse: die Beschäftigung mit prägenden Bildern und Motiven der eigenen Biografie und Erinnerung, die Beziehung zu den Dingen und deren Verbindungen untereinander, das Wechselspiel zwischen dem Festgelegten und dem Unvorhersehbaren – bis hin zu seinen Bemühungen, «die Architektur zu vergessen».

Anschaulich werden diese Entwicklungen in Rossis «Wissenschaftlicher Selbstbiographie» (1982). Der Schwerpunkt verschiebt sich von einer strengen Stadtwissenschaft zu einem «autobiografischen» Rationalismus, der die Nähe zum Irrationalen einkalkuliert, wenn er sich bewusst ist, «dass die Wirklichkeit ganz einseitig gesehen werden könnte; das heisst, dass die Rationalität oder ein Minimum an Luzidität genügt, um den gewiss faszinierendsten Aspekt zu analysieren: das Irrationale und das ­Unsagbare»1.

Die Wissenschaft des Zeitlosen 

Diese begriffliche und methodische Verschiebung wird in einem der Schlüsselwerke Rossis deutlich: In der von ihm kuratierten 15. Triennale von Mailand (1973) mit dem Titel «Architettura Razionale» stand nicht – wie man zunächst meinen könnte – eine Anknüpfung an den italienischen razionalismo der 1930er-Jahre im Vorder­grund. Rossi verwendet den Begriff des Rationalismus vielmehr in einer zeitlich und geografisch übergreifenden Bedeutung und in polemischer Opposition zum «naiven» Funktionalismus der Moderne.

Er glaubt nicht an eine Architektur, die von technischen, wirtschaftlichen oder auch sozialen Gegebenheiten ein­deutig und kausal abgleitet werden kann. Architektur gewinnt ihren objektiven und rationalen Charakter vielmehr aus zeitlosen, «permanenten» Inhalten, oder anders gesagt: aus ihrem Wesen.

Um diese Aussage zu unterstreichen, hatte Rossi die bekannte Unterscheidung des Architekturlehrers Adolf Behne an den Anfang des Triennale-Katalogs gesetzt: «Der Rationalist ist nicht gleichgültiger gegenüber dem Zweck als der Funktionalist [...], aber er meidet die Tyrannei des selbstherrlich gewordenen Zwecks. Sucht der Funktionalist die grösstmögliche Anpassung an den möglichst spezialisierten Zweck, so der Rationalist die beste Entsprechung für viele ­Fälle. Jener will für den besonderen Fall das absolut Passende, Einmalige – dieser für den allgemeinen Bedarf das möglichst gut Passende, die Norm. Jener ist nur Anpassung, Relation, Gestaltlosigkeit aus Selbstlosigkeit, Mimikry, dieser auch eigener Wille, Selbstbesinnung, Spiel, Form.»2 

Kein Platz für Beliebigkeit 

Behne versteht Rationalismus als Spannungsfeld zwischen den Polen Norm und Spiel. Beide Pole sind mit dem Problem der Form verbunden. Rossi entwickelt diese Spannung zu einem Entwurfsverfahren weiter: Die formale Verallgemeinerung ist die Voraussetzung für die Freiheit in der Nutzung. Weil die Form nicht unmittelbar aus dem Zweck abgeleitet werden kann – der Zweck oder die Funktion sind eben nicht formgenerierend –, sind übergeordnete Prinzipien nötig.

Die Rationalität der Architektur findet sich in einer Reihe von nicht weiter reduzierbaren Grundelementen, die zeitlos sind. Subjektive Gestaltungskapriolen gehen nach Rossis Ansicht am Wesen der Architektur vorbei; er beruft sich auf ein Verständnis der Architektur, «in dem es für beliebige Erfindungen keinen Platz gibt»3, eine Theorie, die «den Kampf gegen das Chaos in der heutigen Architektur aufnimmt»4.

In der radikalen Vereinfachung und der Konzentration auf wenige, kontrollierbare Aspekte sieht Rossi die einzige Möglichkeit, um der bereits bestehenden Komplexität gerecht zu werden: «... wir müssen uns aber darüber klar sein, dass die Architektur nur einen Teil einer komplexeren Realität von eigentümlicher Struktur darstellt, dass sie jedoch als einzig überprüfbares Faktum dieser Realität den konkretesten Ansatzpunkt für unsere ­Untersuchung bietet.»5

Architektur als «überprüfbares Faktum» sollte auf rationale Weise zu durchdringen, zu untersuchen, zu klassifizieren sein. Genau dieses Verständnis von Architektur als autonomer Disziplin vermittelte Rossi während seiner Zürcher Lehrtätigkeit und setzte den wissenschaftlichen Anspruch dieser Konzeption der dominierenden soziologisch-funktio­nalistischen Lehre entgegen.

Das Spiel der Beziehungen 

Allerdings war sich Rossi von Anfang an der Begrenztheit eines rein wissenschaftlichen Ansatzes bewusst. In Louis-Étienne Boullée (1728–1799) entdeckte er einen Geistesverwandten in der Suche nach einer auf logischen Prinzipien gegründeten Architektur. Rossi teilte mit Boullée die Auffassung, dass keine Kunst existiert, die nicht autobiografisch ist. Deshalb forderte Rossi, die rationale Konstruktion von innen her aufzubrechen: Es geht darum, «eine Art ständigen Widerspruch aufzustellen zwischen einer systematischen Theorie und dem unbedingt erforderlichen autobiografischen Ausdruck»6.

Diese Spannung verdeutlichte Rossi mit seiner Unterscheidung von «konventionellem» und «exaltiertem» Rationalismus: «Es ist zweifellos so, dass der konventionelle Rationalismus die gesamte Entwicklung der Architektur aus Prinzipien ableiten will, während der exaltierte Rationalismus von Boullée und anderen ein Vertrauen (oder einen Glauben) voraussetzt, welches das System erleuchtet, jedoch davon getrennt besteht.»7

In gleicher Weise, wie Boullée Architektur auf simple geometrische Grundformen zurückführt, arbeitet auch Rossi mit einem reduzierten Vokabular, das mit einer Fülle von Erinnerungen und Assoziationen angereichert ist, die in immer neue Beziehung gesetzt werden, sodass «das Hervortreten der Beziehungen zwischen den Dingen [...] mehr als die Dinge selbst, immer neue Bedeutungen [ergibt]»8. Rossi bezeichnet dieses entwerferische Vorgehen als «architettura analoga». Mehr als in einer ausformulierten Theorie erhält dieses Konzept seinen bildlichen Ausdruck in der mit Fabio Reinhart, Bruno Reichlin und Eraldo Consolascio gemeinsam gefertigten Collage «La città analoga» (1976). 

Rossis grosser Einfluss auf die Schweizer Architektur hat viel mit dem eigenartigen Schwebezustand seiner Theorie im Spannungsfeld zwischen den Polen des Rationalismus und der città analoga zu tun. Weil das Verhältnis zwischen den Spannungspolen ungeklärt bleibt, eröffnet sich ein grosser Spielraum. Genau die kreativen Möglichkeiten im Spiel zwischen methodischer Strenge und schöpferischer Verarbeitung der Erinnerung faszinierte Rossis Schüler und Studenten an der ETH.

Rossi selbst war sich der produktiven Unschärfe dieser Konzeption bewusst. Auf den letzten Seiten seiner «Wissenschaftlichen Selbstbiographie» formuliert er seine Überzeugung, dass «zwischen meinem ersten Versuch, dem architektonischen Fach wieder eine Grundlage zu geben, und dem Schlussresultat, die Architektur aufzulösen oder zu vergessen, [...] eine enge Verwandtschaft [besteht]»9

Judith Hopfengärtner, dipl. Arch. UCL, MAS gta ETH, ist Mitheraus­geberin des Sammelbands «Aldo Rossi und die Schweiz», gta Verlag, Zürich 2011. 

Anmerkungen

  1. Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selbstbiographie, über­setzt von Heinrich Helfenstein, Bern/Berlin 1988, S. 94.
  2. Adolf Behne, Der Moderne Zweckbau (1929), Nachdruck in: Bauwelt-Fundamente 10, Düsseldorf 1964, S. 29.
  3. Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, Düsseldorf 1973 (Bauwelt-Fundamente 41) (Nachwort zur deutschen Ausgabe), S. 174.
  4. Ebd., S. 174.
  5. Ebd., S. 19.
  6. Aldo Rossi, Introduzione a Boullée, in: ders., Scritti scelti sull’architettura e la città 1956–1972, hg. von Rosaldo Bonicalzi, Turin 1978, S. 346–364; zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Katharina Brichetti, Das Gedächtnis der Stadt. Von Boullée bis Rossi, Dortmund 2006, S. 121–136, hier S. 122.
  7. Ebd., S. 122f.
  8. Aldo Rossi, 1988 (wie Anm. 1), S. 34.
  9. Ebd., S. 149.

Auf Architektour

TEC21 begleitete das Architekturschiff der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW auf seiner Reise durchs Mittelmeer. Eindrücke in Text und Bild gibt es in der aktuellen TEC21-Ausgabe 30-31/2015. Am Anfang stand eine Idee: Der berufsbe­gleitende Bachelorstudiengang Architektur der ehemaligen Hoch­schule für Technik Zürich (früheres Abendtechnikum ­Zürich) wurde 2012 in die ZHAW integriert und läuft 2016 aus. Zum Abschluss wollte man gemeinsam nochmals eine intensive Aus­einandersetzung mit gebautem Raum erleben – das Architekturschiff 2015 war geboren. TEC21 begleitete die Reise als Medienpartner und führte mit den Redaktorinnen Tina Cieslik und Danielle Fischer und dem Redaktor Marko Sauer eine offene Redaktion an Bord. Die Tour führte vom 9. bis 15. Mai 2015 von Venedig über Split nach Neapel, von dort nach Rom und über Korsika nach Nizza. Neben Ausflügen in den sozialen Wohnungsbau der jugoslawischen Sozialisten, zu den ­historischen Stätten des Imperium Romanum und in die Idealstädte des Mussolini-Regimes stand an Bord die ­Vermittlung des historischen und architekturtheoretischen Wissens an. Carlo Moos, Daniela Spiegel und Judith Hopfengärtner verknüpften in ihren Referaten die losen Fäden der Themen und filterten die allen zugrunde liegende Idee heraus: die Sehnsucht nach der idealen Stadt. Ihre Erkenntnisse sind im Schwerpunktteil der aktuellen Ausgabe abgebildet – für alle, die an der Reise nicht teilnehmen konnten, und für jene, die sich gern daran er­innern. Die Bilder stammen von Reiseteilnehmerinnen und -teilnehmern. Sie dokumentierten ihre Eindrücke per Polaroid im TEC21-Logbuch an Bord. (tc)
Ein Online-Logbuch der Reise findet sich im E-Dossier «Architekturkreuzfahrt».

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