Wand­lungs­fä­hig

Architektur und Städtebau

Direkt neben den Gleisen ist in Zürich Oerlikon ein Bürogebäude nach einem Entwurf der Architekten Gigon/Guyer entstanden. In den 80 m ­hohen Andreasturm sind bereits die ersten Mieter eingezogen. Ein Streifzug durch und um das neue Hochhaus.

Publikationsdatum
07-03-2019
Revision
07-03-2019

Natürlich erinnert manches an den Prime Tower: dreieckiges Grundstück, Lage an den Gleisen, polygonaler Grundriss, Auskragungen in den oberen Geschossen. Doch mit seinen 80 m bleibt der Andreasturm von Gigon/Guyer Architekten deutlich niedriger als sein 126 m grosser Bruder unten in Zürich-West, und seine Mietfläche beträgt mit 21 000 m2 nur gut die Hälfte.

Auch zeigt sich die Silhouette etwas schlichter: Der Grundriss hat die Form eines unregelmässigen Fünfecks, und der Schaft des Turms erweitert sich – vom Sockel abgesehen – nur auf der Ebene des 12. Geschosses mit leichten Auskragungen Richtung Westen und Osten. Die Regelgeschossfläche vergrössert sich damit von 1149 auf 1219 m2, was angesichts der Tatsache, dass sich oben höhere Mieten erzielen lassen, für die Eigentümerin SBB Immo­bilien ohne Zweifel ­attraktiv ist. Noch ist der Kopf des Turms allerdings weitgehend leer.

Das auf Haustechnik Consulting und Engineering spezialisierte Unternehmen Amstein + Walthert hat seinen bisherigen Zürcher Hauptsitz im Nachbargebäude an der Hüttisstrasse verlassen und neu das 1. bis 12. Obergeschoss des Andreasturms bezogen, mithin den Schaft und das erste Stockwerk über der Auskragung. Amstein + Walthert fungieren als Ankermieter, die von Anfang an dabei waren; als der langfristige Mietvertrag unterzeichnet war, wurde mit dem Bau begonnen.

Im 13. und 14. Geschoss hat die medizinische Einrichtung medbase mit der externen Dialysestation des Stadtspitals Waid ihr Domizil gefunden. Ein auf digitale Wahrnehmungstechnik spezialisiertes Unternehmen wird ab Herbst ein Geschoss beziehen. Die sechs Ebenen darüber sind im Grundausbau fertiggestellt und warten noch auf Mieter.

Auch wenn die Anbindung an den Bahnhof Oerlikon und damit Richtung Hauptbahnhof oder Flughafen optimal ist und die Preise in Oerlikon etwas niedriger liegen als in der Innenstadt: Büroflächen in Zürich zu vermieten ist wegen eines deutlichen Überangebots nicht einfach. Die Entscheidung der SBB, an dieser ­Stelle ein reines Bürohochhaus zu realisieren, hat denn auch im Vorfeld Fragen oder gar Unverständnis ausgelöst. Diese Kritik ist angesichts der angespannten Mietsitua­tion in Zürich durchaus nachvollziehbar. Allerdings ist festzuhalten, dass Wohnungen im Hochhaus unter heutigen Bedingungen eher im hochpreisigen Segment anzusiedeln gewesen wären.

Zwischen den Gleisen

Für den Andreasturm stand eine eng umgrenzte Parzelle zur Verfügung, die vom neuen Ostausgang des Bahnhofs Oerlikon nur durch die Schaffhauserstrasse getrennt ist. Ursprünglich befanden sich hier Bahnnebengebäude auf Gleisniveau, die nach dem Bau der Durchmesser­linie und der Neutrassierung des auf einem Damm ­geführten Schienenstrangs Richtung Flughafen nicht mehr benötigt wurden. Damit wurde das zwickel­förmige Grundstück frei, das sich im Norden an die Bahntrasse anschmiegt und im Süden an die nunmehr verkehrsberuhigte Andreasstrasse angrenzt.

Die gesamte Anlieferung erfolgt auf der Ost­seite, wo auch eine über die Binzmühlestrasse erreichbare Rampe hinunter in die Tiefgarage führt. Eine Coop-Filiale nutzt inzwischen die dem Bahnhof zugewandten Geschäftsflächen im Erdgeschoss, an der nächsten Ecke ist Platz für ein Café oder ein kleineres Res­taurant. ­Dazwischen liegt an der Andreasstrasse der Haupt­eingang geschützt durch das Vordach der Auskragung.

Von der zwei Geschosse übergreifenden Eingangshalle aus erreicht man die Lobby mit beidseitig drei Liften, kann aber auch über eine Treppe ins erste Obergeschoss gelangen. Hier befindet sich ein zweiter Eingangsbereich, der sich zu den Gleisen orientiert. Vom Stadtraum kommt man über eine Aussentreppe hierher, aber auch direkt vom Bahnhof über eine in Verlängerung des Bahnsteigs 3 parallel zu den Gleisen die Schaffhauserstrasse querende Verbindung. Während die untere Eingangshalle von allen Mietern und Besuchern genutzt wird, so liegt auf  der oberen Ebene der separate Zugang für Amstein + Walthert.

Flexibel nutzbar

Von der Rezeption im 1. Obergeschoss aus erschliessen sich auf gleichem Niveau alle öffentlicheren Bereiche des Unternehmens: die Konferenzräume, die Lounge auf der Galerie über der unteren Eingangshalle und schliesslich das Betriebsrestaurant in der auskragenden Nord­ostspitze. Letzteres kann auch als Vortragssaal genutzt werden. Die Kerne des Turms bestehen aus den Liftschächten, beidseitigen Sicherheitstreppenhäusern, Nasszellen und Neben­räumen wie Teeküchen. Um diese herum gruppieren sich ringförmig die umlaufenden Bürozonen, die sich flexibel möblieren lassen.

Die Einrichtung des Ankermieters wurde von Gigon/Guyer geplant: in den Ecken und in der Mitte der nördlichen Längsseite Besprechungsräume mit zweiseitigem Ausblick, dazwischen offene Gruppenbüros mit Einheiten, die zwischen 8 und 16 Arbeitsplätzen variieren. Die Fassade ist zweischichtig aufgebaut und besteht aus einer äusseren hinterlüfteten VSG-Festverglasung und einer inneren, nahezu geschosshohen Dreifach-Isolierverglasung, die sich in achsbreite und hälftig geteilte Elemente gliedert und individuell öffnen lässt.

Ein Kranz aus dunkel eingefärbten Betonstützen ist zurückgesetzt von der Fassade entkoppelt und bildet zusammen mit den Kernen und den 28 cm starken Ortbetonflachdecken das Tragwerk des Gebäudes. Oberhalb der Auskragungen, im 12. bis 14. Obergeschoss, sind einige Stützen schräggestellt, um die Lastabtragung auf das Stützensystem des Mittelteils zu gewähren (vgl. «Konventionelles Tragwerk, elastisch gelagert»). Insgesamt sind freundliche und attraktive Arbeitsbereiche entstanden, die aufgrund des Grundrisses und der Bautiefe überschaubar bleiben und von der Raumhöhe ebenso wie von von den tief herabgezogenen Vergla­sungen profitieren. Und natürlich vom Blick über den Bahnhof, das Gleisfeld, den Flughafen und die ­Zürcher Umgebung.

In die Umgebung eingefügt

Die Gliederung des Baukörpers in einen Sockel, einen Mittelteil und einen Kopf trägt dazu bei, das Gebäude in seinem näheren und weiteren Umfeld zu verankern, den Solitär folglich auf unterschiedlichen Niveaus zu kontextualisieren. Der nach Osten und Norden ausgreifende Sockel ist bestimmt durch die Gleisachsen, er resultiert also aus der die Parzellen prägenden Infrastruktur, an die das Gebäude auf der Nordseite direkt anschliesst.

Der Mittelteil bezieht sich auf die immer wieder von grossformatigen Volumen akzentuierte ­städtebauliche Textur von Oerlikon. Der Kopfteil mit seiner Höhe von 80 m schliesslich schreibt sich in die Hochhaustopografie von Oerlikon ein und korrespondiert mit dem Hochhausensemble Hagenholzstrasse von Max Dudler, dem Swissôtel und zukünftig auch mit dem Franklinturm (vgl. Kasten unten: «Höhensprünge in Zürich Oerlikon»).

Die Differenzierung in der Vertikalen zeigt sich mittels der Auskragungen besonders gut beim Blick vom Bahnhof und aus der Richtung Hallenstadion. Je nachdem, ob man in weitem Bogen um den Andreasturm herumgeht oder an ihm vorbeifährt: Ständig verändert er seine Gestalt, wirkt mal schlank und spitz, dann wieder voluminös und mächtig. Aus bestimmten Per­spektiven tritt der polygonale Grundriss expressiv in Erscheinung, dann wieder beruhigt sich das Volumen, wird zum klaren Körper, fast zur Fläche.

Diese optische Wandlungsfähigkeit wird noch verstärkt durch die Gestaltung der Fassade, die – anders als beim hinsichtlich seiner Fassadengliederung homogeneren und damit skulpturaleren Prime Tower – mit dem Alternieren von Fenster- und Brüstungsbändern die horizontale Schichtung thematisiert. In die Brüstungsbänder sind mit Aluminium bedampfte und farbig bedruckte Polyestergewebe einlaminiert, zum Teil kupfer-, zum Teil goldfarben. Die Farbtöne sind zwar metallisch, doch wirken sie nicht strahlend und preziös, sondern alltäglich und selbstverständlich. In gewisser Weise korrespondieren sie auch mit dem Rost und Ab­rieb der Schienen – ein Gedanke, den Gigon/Guyer vor 20 Jahren schon einmal bei der Betonfärbung des Stellwerks Vorbahnhof in Zürich thematisiert haben.

Die Kupfer- und Goldtöne werden beim Andreasturm zur Differenzierung der verschiedenen Fassadenflächen genutzt. Die dem Bahnhof zugewandte Stirnseite zeigt oben Kupfer und unten Gold, bei der Längsseite entlang der Andreasstrasse ist es umgekehrt. Dann wechselt die Anordnung erneut, während die von keiner Auskragung betroffene Schmalseite zur Binzmühlestrasse durchgängig Kupferbänder zeigt. Mit oben Kupfer und unten Gold schliesst die nördliche Längsseite entlang der Gleise direkt an die Aufteilung der Stirnseite zum Bahnhof an.

Sichtbar sind diese Unterscheidungen aber ganz bewusst nicht immer. Lichtstimmungen, Wetter und Wolken spiegeln sich in der Fassade, und dank der mal planen und mal zurückfliehenden Flächen wird die Oberfläche immer wieder überstrahlt, sodass die farblichen Differenzierungen des Volumens von dominanten zu rezessiven Merkmalen mutieren, die erst beim zweiten Blick kenntlich werden. Oder beim Wechsel des Standpunkts, denn erst durch die Bewegung wird die Veränderung ablesbar.
 


Höhensprünge in Zürich Oerlikon

Durch die Industrieansiedlungen im ausgehenden 19. Jahrhundert schnell verstädtert, wurde der einstige Vorort Oerlikon 1934 nach Zürich eingemeindet. 20 Jahre später fasste der Stadtrat von Zürich den Entschluss, Oerlikon zwecks Entlastung der Kernstadt zu einer «Sekundär-City» auszubauen. Werner Gantenbeins Überbauung «Zum Bauhof» (Planung seit 1958, Realisierung 1962–67) repräsentiert als erster Gebäudekomplex den intendierten Massstabssprung, ihm folgten das 85 m hohe Hotel International (1972, heute Swissôtel) gegenüber dem Bahnhof und 1981 das sich anschliessende Einkaufszentrum Neumarkt, sozusagen die letzte bauliche Manifestation der Hochkonjunkturphase der Spätmoderne.

In den 1990er-Jahren nahm der Ent­wick­lungs­schub in Oerlikon dann erneut Fahrt auf mit der postindustriellen Transformation der einstigen Produktionsareale nördlich des Bahnhofs. Der Etablierung des «Zentrums Zürich Nord», heute Neu-Oerlikon, folgte in einem weiteren Schritt die Ausweisung des neuen Entwicklungsgebiets Leutschenbach, das auf die Stadtkreise Schwamendingen und Seebach ausgreift.

Entwicklungsgebiet Leutschenbach

Der Andreasturm bildet die südwest­liche Spitze des Entwicklungsgebiets Leutschenbach, das von den beiden Bahn­linien Richtung Flughafen und Wallisellen sowie im Norden von der Glattparkstrasse und damit der Stadtgrenze nach Opfikon begrenzt wird. In den 1990er-Jahren begann ein koope­rativer Planungsprozess mit der Stadt, den Grundeigentümern und der Stadt Opfikon, um die Transformation des vormaligen Gewerbegebiets zu lancieren. Die Räumliche Entwicklungsstrategie der Stadt Zürich und die Testplanung Leutschenbach-Mitte (2009/10) mündeten in das «Leitbild Leutschenbach» (2012) für das 78 ha grosse Areal. Demnach soll sich ein Hochhausgebiet zwischen Thurgauerstrasse West, Glatt­parkstras­se und dem Bahndamm der Walli­sellenbahn aufspannen. Die Bauhöhe beträgt 25 bis 40 m, doch sind Akzente von 60 m möglich und gewünscht.

Vorangegangen war der Planung des Entwicklungsgebiets das Hochhaus­ensemble Hagenholzstrasse von Max Dudler, das 2013 nach 15-jähriger Planungs- und Bauzeit fertiggestellt wurde. Weiter nördlich sind der Leutschen­tower (Bétrix & Consolascio, 2011) sowie die 60 m hohen Doppelhochhäuser «The Metropolitans» (Baumschlager & Eberle, 2015) entstanden. Zwischen Leutschentower und Hagenholzstrasse befindet sich das «Wolkenwerk» nach Entwürfen von Staufer & Hasler sowie von Ballmoos Krucker im Bau. Der erste Bauabschnitt mit drei bis zu 23-geschossigen Wohnhochhäusern und einem viergeschossigen Sockel soll schrittweise ab Anfang 2020 bezogen werden. 314 Eigentumswohnungen mit Quadratmeterpreisen bis zu 14 000 Fr. sollen zukünftig 1000 Bewohner und Bewohnerinnen beherbergen. Der Baubeginn für den zum «Wolkenwerk» gehörenden «Messeturm» ist ebenfalls für 2020 avisiert.

Die Areale um den Bahnhof

In den letzten Jahren konzentriert sich die bauliche Entwicklung nicht zuletzt auf die Areale um den Bahnhof Oerlikon und den Bahnhof selbst (vgl. TEC21 13/2014 «Oerlikon underobsi»). Gemäss dem Hochhauskonzept der Stadt Zürich, das um den Bahnhof Oerlikon herum Bauten mit 80 m Höhe vorsieht, wird der Bahnhof Oerlikon zukünftig von zwei Hochhäusern auf früheren SBB-Restflächen flankiert. Der Andreasturm mitten in der Gleisgabel im Osten ist gerade fertiggestellt worden, sein Pendant an der Ecke Hofwiesenstrasse/Franklinstrasse wird zukünftig der Franklinturm nach Entwurf von Armon Semadeni sein (Studienauftrag 2014, Realisierung bis 2022).

Der Höhensprung setzt sich fort: Am 19. Dezember 2018 veröffentlichte die Stadt Zürich den «Masterplan Neu-Oerlikon 2018» für das Gebiet um den Max-Frisch-Platz nördlich des Bahnhofs Oerlikon. Auf dem Gebiet der Grundeigentümer ABB, AXA und Kanton Zürich soll Verdichtung möglich sein. Erhalten werden die Halle 550 (Kultur und Event) sowie ein historisches ABB-Gebäude. Während für das Gesamtareal eine Bebauungshöhe von 25 m gilt, sind um den Max-Frisch-Platz Bebauungshöhen von 45, 54 und 80 m erlaubt. Swissôtel, Andreasturm, Franklinturm und die Bebauung um den Max-Frisch-Platz bilden also zukünftig einen Hochhauscluster, der den Bahnhof Oerlikon rahmt.

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