Klös­ter­li, Ka­the­dra­le, Rost und Rüs­tung

Ein unbekannter Entwurf Aldo Rossis: das Berner Klösterliareal

Aldo Rossis gebaute Hinterlassenschaft in der Schweiz ist spärlich und manifestiert sich lediglich in der zusammen mit Bruno Reichlin und Fabio Reinhart 1974 realisierten Fussgängerbrücke in Bellinzona. Kaum bekannt ist sein Entwurf für das Berner Klösterliareal, den er im Rahmen eines Wettbewerbs 1981 vorlegte. Heinrich Helfenstein holt das fast verschollene Projekt ans Licht.¹

Publikationsdatum
08-01-2012
Revision
25-08-2015

Das Klösterliareal besetzt ein städtebaulich und stadtgeschichtlich bedeutsames Terrain in Bern. Unmittelbar gegenüber der Spitze der mittelalterlichen Stadt und zwischen Untertor- und Nydeggbrücke, den beiden ältesten Aarebrücken, gelegen, verschränken sich hier halb städtische und halb ländliche Bauten zu einem charakteristischen Gemisch. Die schräg abfallende Ebene hinter den Gebäuden dient als wichtiger Touristenumschlagplatz. Infolge jahrzehntelanger Vernachlässigung der Bausubstanz waren zu Beginn der 1980er-Jahre mehrere Häuser aus hygienischen Gründen seit längerem ungenutzt und dem Verfall ausgesetzt. Mit dem architektonisch-städtebaulichen Ideenwettbewerb von 1981 suchte die Stadt nach einem Konzept für die Erneuerung des Areals und gleichzeitig nach einer qualitativen Mehrung der urbanen Substanz, die eine Erweiterung des Stadtkerns ermöglichen sollte.
Im Preisgericht figurierten unter anderem die Professoren Friedrich Achleitner aus Wien, Paul Hofer aus Bern und Dolf Schnebli aus Zürich. Der 1. Preis ging an den Wiener Architekten Heinz Tesar. Rossis Entwurf (Mitarbeit Gianni Braghieri und Christopher Stead) erhielt den 1. Ankauf. Die Realisierung des Siegerprojekts scheiterte in der Volksabstimmung. In der Folge wurden die bestehenden Bauten mehrheitlich nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten restauriert.

Lob für Zeichenhaftigkeit und «positive Rhetorik»

Die Einschätzung von Rossis Entwurf durch die Jury liest sich reichlich gewunden.2 Seine Zeichenhaftigkeit und die «positive Rhetorik» werden gelobt, aber bereits der Einsatz von Stahl für den grossen Kubus stösst auf Vorbehalte. Der dominante Eingriff wird als Objekt der «kollektiven Selbstinterpretation» verstanden. Allein auf der städtebaulichen Ebene sei der Entwurf nicht diskutierbar. Die als «Herausforderung» für Bürger und Touristen verstandene Intervention sei auch als «literarischer Beitrag» und als ein «Objekt der bildenden Kunst» zu lesen. Rossi selbst erläuterte seinen Entwurf auf Blatt 1 seiner Wettbewerbseingabe in einer ausführlichen Beschreibung.
Abgesehen von einer realisierten Fussgängerbrücke im Burgenbereich von Bellinzona (zusammen mit Bruno Reichlin und Fabio Reinhart, 1974) stellt das Projekt für das Berner Klösterliareal Rossis einzigen Entwurf im Schweizer Kontext dar. Von der Wettbewerbseingabe findet sich allerdings in den Berner Archiven keine Spur. Pläne und Modell sind offensichtlich einer Räumungsaktion zum Opfer gefallen. Das hier präsentierte fotografische Material verdanken wir einer persönlichen Aktion des Berner Architekten Jürg Zulauf, der als Student 1972/73 an Rossis erstem Jahreskurs in Zürich teilgenommen hatte.

Die analoge Methode

Zeitlich situiert sich der Berner Entwurf wenige Jahre nach Rossis zweitem Zürcher Lehrauftrag (1976–1978), als nach ergebnislosen Versuchen die Hoffnung auf einen Entwurfslehrstuhl an der ETH aufgegeben war und sich die Beziehungen zu Zürich gelockert hatten.
Es mag auf den ersten Blick erstaunen, mit welchem Ernst Rossi auf die damalige Nutzung des Areals eingeht: Mit aller Vehemenz wendet er sich gegen ein unterirdisches Parkhaus, und als Einziger geht er sehr sorgsam mit dem Aarehügel um. Damit verschafft er sich unter anderem eine realistische Grundlage für sein eigentliches Projekt. Dieses selbst darf als komplexe Einlösung seiner analogischen Methode betrachtet werden. Wie wichtig Aldo Rossi der Berner Entwurf war, geht aus dem Raum hervor, den dieser in seinem «Libro azzurro» einnimmt.3 Ferner wurde er 1981 an prominentester Stelle an der XVI. Triennale di Milano ausgestellt.

Villa und Holzbaracke

Der Entwurf inspiriert sich an den besonderen Merkmalen des Ortes und artikuliert die Spannung zwischen der Zähringerstadt und dem auf mythische Vorzeiten verweisenden Bärengraben. Dabei nährt er sich von der Erinnerung eines Zustands vor der Errichtung trennender Mauern zwischen Stadt und Land. In gewagter Analogie rückt Rossi den «gotischen» Stadtstaat in die Nähe der Stadt der griechischen Antike (Athen),4 die in archaischer Zeit ebenfalls keine Trennung von Stadt und Landschaft kannte. Hier zeigt sich das «Ruminieren von Vergangenheitsmaterial» (C. G. Jung) in einem sehr frühen Stadium des Entwerfens, wenn es noch nicht einmal als Bild fassbar ist. Diese ruminierende Erinnerung früher Stadt-Land-Beziehungen findet im Entwurf ihren konkreten Schauplatz, wo sie sich jedoch mit persönlichen Elementen überlagert und damit zu unauflösbaren Bildern verschmilzt: Ein mächtiger, gegen den Himmel offener Stahlkubus öffnet sich mit einer Sichtluke auf die Landschaft. Zugleich erinnert dieser Kubus an Rossis frühen Entwurf eines Denkmals für die im Widerstand Gefallenen in Cuneo (1962), wobei sich der Bedeutungsgehalt vollkommen verändert hat. Die architektonische «Selbstbeschreibung» setzt sich fort mit der Referenz auf die Stützen der Villa in Borgo Ticino (1973), die das Gebäude mit dem Gelände vermitteln und Letzterem seine Integrität bewahren, hier verschmolzen mit dem Bild provisorischer Holzbaracken auf Baustellen in den Schweizer Alpen. – Daneben breitet Rossi ein Netz von teils weit auseinanderliegenden literarischen Versatzstücken aus, die aus ihrem Kontext gelöst, gewissermassen als Rohmaterial verwendet, im neuen Zusammenhang ganz neue Sinnmöglichkeiten öffnen.

Versatzstücke aus bildender Kunst und Literatur

So werden die letzten Worte aus Friedrich Hölderlins Gedicht «Hälfte des Lebens» – «im Winde / Klirren die Fahnen» – direkt in ein Bild umgesetzt. Als ähnlich verzweigt und vielschichtig erweisen sich die Konnotationen, die das Wettbewerbsmotto auslöst: «Un revolver, c’est solide, c’est en acier» ist der letzte Satz im Roman «Le feu follet» (1931) von Pierre Drieu La Rochelle,5 und auch der letzte der Hauptperson Alain, bevor dieser sich das Leben nimmt. Somit wird um das Thema des Metalls eine ganze Assoziationskette aufgebaut: Der «revolver» erscheint wie die Miniatur des Stahlkubus für Bern, der seinerseits an die ebenfalls auf die Landschaft hin geöffnete, begehbare «macchina» der Monumentalskulptur des San Carlone in Arona erinnert;6 in seiner «Wissenschaftlichen Selbstbiographie» vergleicht Aldo Rossi den «Santone» mit einer «Lokomotive oder ein[em] Panzer im Stillstand».7 Die Evokation des kalten Stahls und des grünlichen Körpers auf Matthias Grünewalds Gemälden wirkt wie ein entstelltes Echo auf Hölderlins abschliessende Verse: «sprachlos und kalt».
Im «Libro azzurro», einem Buch der architektonischen Selbstbeschreibung, bezieht sich Rossi explizit auf den Berner Entwurf: «Es ist schwierig, diesen Entwurf darzustellen, der sich mit der Stadt und zugleich mit einer Architektur identifiziert / ich versuchte, das Schweigen der immer wiederholten und für immer ausgesprochenen Dinge zu erreichen. […] Die eigenen Werke mit der Landschaft und der Geschichte verschmolzen zu sehen, erscheint mir sehr wichtig; vielleicht ist es das Ziel selbst unseres Suchens.»8
Wenn Aldo Rossi in der «Architettura della città» die Passage über Athen mit einem Zitat von Karl Marx aus der Einleitung (1857) zur «Kritik der politischen Oekonomie» beginnt, in der dieser die griechische Kunst als Kindheit der Menschheit bezeichnet,9 so stellt sich die Frage, ob seine spätere fast obsessive Beschwörung der «sprachlosen Kälte» nicht auch zu verstehen sein muss als Abgesang auf die Stadt, so wie wir sie gekannt haben: «Ora tutto questo è perduto.»10
Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen Auszug eines Essays aus dem von Ákos Moravánszky und Judith Hopfengärtner herausgegebenen Buch «Aldo Rossi und die Schweiz – Architektonische Wechselwirkungen», gta-Verlag, Zürich 2011.

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