Be­sinn­lich­keit mit­ten im Le­ben

Friedhöfe im Wandel

Bestattungsort und Erholungsraum, Ar­bo­re­tum und Feinstaubfilter, Parkanlage und Tierrefugium – die Friedhöfe hierzulande werden heute vielfältig genutzt. Der beschaulichen Atmosphäre beim Besuch der Anlagen stand der nüchterne Blick der Fachleute gegenüber.

Publikationsdatum
28-10-2015
Revision
15-11-2015

Wenn heute von einem Friedhof gesprochen wird, überwiegt die Vorstellung: sauber, aufgeräumt und akkurat aufgereihte Gräber. Streifzüge durch verschiedene Schweizer Anlagen zeigen ein anderes Bild. Sie gleichen Parkanlagen, es gibt zahlreiche nicht aktiv genutzte Flächen, auf denen das Gras hoch wachsen darf.

Der Friedhofsbesucher trifft auf anonyme Gemeinschaftsgräber, lange Urnenwände, historische Familiengräber oder eben die bekannten Gräberreihen. Er begegnet Menschen im Zwiegespräch mit verstorbenen Angehörigen, Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder solchen, die dort ihre Mittagspause verbringen. Menschen, die die besondere Atmosphäre schätzen. Ein Ort, der ruhig bleibt, obwohl im Hintergrund Geräusche einer hektischen und lauten Umgebung zu hören sind. 

Die Friedhöfe sind abwechslungsreicher geworden und werden vielfältiger genutzt. Der Anteil der Feuerbestattungen1 liegt heute schweizweit bei rund 85 %.2 Dennoch wird sich die Kremation als Bestattungsform bei etwa 75 % stabilisieren3 – was damit zu tun hat, dass der Anteil der Bevölkerung, der religiöse Bestattungsvorschriften kennt, zunehmen wird. Die jüdischen und die islamischen Riten gestatten es den Gläu­bigen nicht, die Verstorbenen einzuäschern.

Darauf haben die Verantwortlichen in einigen Städten reagiert und islamische Grabfelder errichtet. Die jüdische Bevölkerung nutzt oft eigenständig betriebene israelitische Friedhöfe. «Das hat einen historischen Hintergrund. Vor 100 Jahren hat man so auf die verschiedenen Religionen reagiert. Heute versuchen wir alle Religionen zu vereinen», sagt Christoph Schärer, Leiter von Stadtgrün Bern.

Stätten des Gedenkens und des Friedens

Von den eingeäscherten Verstorbenen werden heute rund 40 % in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt. Für Einwohner von Basel-Stadt werden pro Jahr rund 380 Bewilligungen für eine Beisetzung der Asche ausserhalb des Friedhofs erteilt. Obwohl die Anzahl in den letzten Jahren zugenommen hat, bleibt der Friedhof für die Menschen ein Ort des Abschieds, der Erinnerung und des Trosts.

Für Emanuel Trueb, den Leiter der Stadtgärtnerei in Basel, ist der Gedanke absurd, dass eine Friedhofsanlage wie der Basler Zentralfriedhof Hörnli einst nicht mehr gebraucht werden könnte, weil der überwiegende Teil der Verstorbenen ausserhalb beigesetzt wird. «Das entbehrt jeder realistischen Grundlage», meint er. 

«Die Angehörigen und Hinterbliebenen brauchen einen Ort, der ihnen ermöglicht, ihre Verstorbenen zu betrauern. Aber auch einen Ort, an dem sie ihre Trauer zurücklassen können, um dann ins Leben zurückzukehren. Wer eine Urne im Garten beisetzt oder zu Hause aufstellt, kann nicht loslassen», so die persönliche Einschätzung von Schärer. Es hat sich gezeigt, dass bei anonymen Bestattungen Hinterbliebene darunter leiden, nicht zu wissen, wo ihre Angehörigen bestattet wurden.

Der Friedhof bietet die Möglichkeiten einer Begegnung mit den Verstorbenen und den Lebenden sowie einer Auseinandersetzung mit den Fragen von Leben und Tod. Für Trueb sind die Friedhöfe auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung gegenüber den Toten. Den Friedhof sieht er als am Ende alles zusammenführende Stätte für die Gesellschaft; als Stätte des Gedenkens, der Zusammengehörigkeit und des Friedens. 

Platz ist kein Problem

Heute gibt es fast schon unübersichtlich viele Möglichkeiten einer Beisetzung. Während Familiengräber und Reihengräber für Särge oder Urnen an Bedeutung verlieren, werden Gemeinschaftsgräber immer beliebter. «Heute leben Familien oft geografisch weit verstreut. Viele Menschen können oder wollen das Grab ihrer Angehörigen nicht mehr regelmässig besuchen und pflegen», erklärt Rolf Steinmann vom Bestattungs- und Friedhofamt der Stadt Zürich.

Auch der umgekehrte Fall ist häufig: Menschen, die sich mit ihrem Tod und ihrer Beisetzung befassen, entscheiden sich für ein Gemeinschaftsgrab, um niemandem zur Last zu fallen oder weil ihnen die standardisierte Anordnung der ­Reihengräber nicht gefällt. Doch es gibt ein Aber. «Wir haben festgestellt, dass das Gemeinschaftsgrab seine Schwächen hat», sagt Schärer. «Der Wunsch der Angehörigen, zu wissen, wo der Verstorbene bestattet ist, ist nicht zu übersehen.»

Auf den Friedhöfen in Bern hat man deshalb die drei Urnenthemenfelder Rosen, Wald, Blumenblüten vorbereitet. Dort ist es möglich, eine Tafel mit Namen und Daten aufzustellen und das Grabmal mit kleinen individuellen Zeichen zu bestücken. Die Pflege der Anlage übernehmen die Friedhofsgärtner. 

Alternative Bestattungsarten werden ebenfalls immer beliebter, seien dies ein Wald für Aschebeisetzung, eine Luft- oder eine Wasserbestattung. Diese Entwicklungen führen dazu, dass die Friedhöfe trotz steigender Bevölkerungszahlen ausreichend Platz bieten. «Sofern sich die Bestattungsgewohnheiten nicht radikal ändern, reicht der Platz auf unserem Zentralfriedhof noch Jahrzehnte», sagt Trueb über den Basler Friedhof Hörnli. Platzmangel ist also nicht das Problem – im Gegenteil, denn die neuen Bestattungsformen beanspruchen deutlich weniger Raum.4

Familiengräber werden in der Regel nach 40 Jahren, die übrigen Gräber nach 20 Jahren Ruhezeit aufgehoben.5 Werden sie nicht wieder belegt, entstehen Lücken in den Gräberreihen. Mancherorts wirken die Grabmale regelrecht vereinsamt.

Bei Gemeinschaftsgräbern, unabhängig ob für Urne oder Sarg, liegt es in der Natur der Sache, dass sie leer wirken, obwohl Tausende auf diesen Flächen beigesetzt sind. Doch auch sie müssen unterhalten werden. Allein aus Kostengründen gibt es also ein Bestreben, attraktive und neuartige Angebote zu offerieren, um die Verstorbenen auf den Friedhöfen beisetzen zu können. 

Obstgarten statt Gottesacker

Der Ökologie kommen solche Überlegungen entgegen. Der Unterhalt wird aus Kostengründen und aus ökologischen Aspekten zurückgefahren. Man rechnet mit einer Trauerphase von ein bis zwei Jahren, in dieser Zeit werden die Gräber häufig besucht und diese Abteilungen entsprechend intensiv gepflegt. Areale, wo die Toten bereits zehn Jahre oder länger bestattet sind, sind weitaus weniger frequentiert und werden dementsprechend seltener gemäht.

Abgeräumte Flächen liegen drei oder vier Jahre brach, dort entwickeln sich wertvolle Flächen für Fauna und Flora. Die Artenvielfalt auf Friedhöfen ist enorm und wird durch den Anbau von Wildhecken oder, wie im Fall des Bremgartenfriedhofs in Bern, alten Apfel- und Birnensorten aktiv gefördert.6 Wertvolle alte Baumbestände tun ihr Übriges. Den heutigen Anlagen kann ein gewisser Versuchscharakter nicht abgesprochen werden.

Schützenswerte Grabmale

Ein weiteres Experimentierfeld ist der Umgang mit den schützenswerten Grabmalen. Auf dem Wolfsgottesacker in Basel befinden sich die Familiengräber einiger Grössen der Chemie. Die Anlage steht unter Denkmalschutz; das beinhaltet die Bauwerke, den Garten und die Umfassung, nicht aber einzelne Gräber. Grabmale, die zu erhalten sind, bleiben im Besitz der Stadt und werden von der Stadtgärtnerei gepflegt.

Des Weiteren gibt es Gräber, die mit Auflagen verkauft werden, zum Beispiel kann das heissen, nur die Tafel am Grabstein darf ersetzt werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Familiengrab nach der Totenruhe aufgehoben wird. 

Auf Zürichs Friedhöfen kann man den Einfluss der Industrialisierung an den Familiengräbern sehen. Allein auf dem Friedhof Sihlfeld befinden sich 350 historische Gräber verschiedener Epochen. Es wird unterschieden zwischen Grabsteinen, die unter Denkmalschutz stehen, und schützenswerten Grabmalen, die handwerklich nicht unbedingt überzeugen, bei denen aber das Ensemble und die Harmonie Grund sind, dass sie nicht aufgehoben werden. Auch hier besteht die Möglichkeit, ein historisches Grab zu mieten. 

In Bern gibt es ebenfalls bemerkens- und erhaltenswerte Grabmäler. Hier haben sich die Verantwortlichen gegen eine Weiterverwendung entschieden. Die Gräber werden zwar nicht abgeräumt, aber auch nicht verkauft, nur minimal unterhalten und weitgehend dem natürlichen Verfall überlassen.

Multikulturalität auf den Friedhöfen

Damit alle Religionen ihre Verstorbenen nach ihren Gebräuchen auf Schweizer Friedhöfen bestatten könnten, brauche es manchmal einen Kompromiss, sagt Schärer. «Wir haben das Grabfeld für die Muslime so eingerichtet, dass die Ausrichtung stimmt und der Kopf nach Mekka geneigt werden kann, auch wenn diese Anordnung nicht dem vorgesehenen Raster der ursprünglichen Anlage entspricht. Die Bestattung muss aber zwingend in einem Sarg erfolgen.» Das ist aufgrund der Hygienevorschriften wichtig. In den Ursprungsländern werden die Leichname meist in Tüchern eingewickelt beigesetzt. 

Der Wunsch nach einem eigenen Grabfeld von muslimischen Einwohnern ist relativ jung. Die ersten Bestattungen stammen aus den frühen 2000er-Jahren. Die vorhergehenden Generationen wurden oft noch ins Heimatland überführt. Ganz untypisch für die muslimischen Gepflogenheiten ist der Grabschmuck, den man oft antrifft. Schärer sieht darin ein Zeichen für eine gelungene Integration.

Eine Herausforderung für die Friedhofsverwaltung in Bern ist die Auflage, dass es auf künftigen muslimischen Grabfeldern zuvor keine Urnenbestattung geben durfte. «Wir haben noch solche Flächen auf den Friedhöfen», erklärt Schärer. «Zudem gibt es ausserhalb Reserveflächen, die wir mobilisieren könnten. Zurzeit befindet sich auf dieser Fläche eine Sportanlage.»

Powernap und Totenruhe

Der Friedhof als Ort für kulturelle Anlässe: Ausstellungen, Theateraufführungen, Lesungen oder Führungen zu prominenten Persönlichkeiten sind für Rolf ­Steinmann Möglichkeiten, auf die Themen Tod und Friedhof aufmerksam zu machen. Es sind Themen, die man gern von sich wegschiebt. «Wir möchten mit unseren Angeboten den Menschen helfen, einen Zugang zum Umgang mit dem Tod zu finden, und darüber hinaus den Räumlichkeiten einen Wert geben, wie dem alten Krematorium.»7 (Vgl. Kasten unten.)

Er gibt aber auch zu, dass man sich in einem Spannungsfeld bewegt, wenn der Friedhof zum Park wird. Insgesamt halten sich die Besucher an die Regeln und verhalten sich entsprechend, z. B. durch Vermeidung von Geschrei oder lautem Lachen. Dennoch sind die Grenzen subjektiv: Für manche ist das Sonnen oder der Konsum von Nahrungsmitteln bereits ein Tabu.

Deshalb ist es wichtig, in gutem Kontakt mit der Bevölkerung zu stehen und auch über Werte zu diskutieren. «Ich möchte möglichst wenig verbieten und möglichst viel ermöglichen», sagt Steinmann. Dies biete auch die Chance, den Friedhof positiv wahrzunehmen. Ihm gehe es darum, Altbewährtes zu erhalten, ohne sich Neuem zu verschliessen.

Auf dem Bremgartenfriedhof möchte man aktiv einen ersten Schritt machen und Teile der Anlage als öffentlichen Park nutzen. Ein Bereich ist dabei für ruhige Freizeitnutzungen wie Lesen oder Sonnenbaden vorgesehen. Er liegt in unmittelbarer Nähe zu den aktiv genutzten Urnenthemenfeldern und soll baulich nicht abgegrenzt werden. Auf dem angrenzenden Areal – der ehemaligen Friedhofsgärtnerei – darf es auch mal lauter werden.Der entstehende Park dient künftig als Reservefläche und wird deshalb nicht verkauft oder gar überbaut.

Man müsse den Friedhof als Ganzes sehen; es würde die Ruhe auf der Anlage erheblich beeinträchtigen, wenn Teile abgetrennt würden, sagt Christoph Schärer. Auf diese Art kann man all jenen, die einen besinnlichen Ort mitten im Leben suchen, entgegenkommen. Schärer gibt weiter zu bedenken: «Wir planen bei Friedhöfen in ganz anderen zeitlichen Dimensionen. Die Entwicklung auf Jahrzehnte vorauszusehen ist schlicht nicht möglich. Derzeit ist glücklicherweise kein grosser Druck für eine Umnutzung vorhanden.»

Emanuel Trueb meint: «Sollte der Druck zu gross werden und müsste man den Zentralfriedhof Hörnli aufgeben und zum Beispiel als Bauland nutzen, wäre das aus Sicht der Trauernden kein Problem. Die Umnutzung von Friedhöfen hat in Basel, wie auch in anderen Grossstädten, Tradition.» An Plätzen, wo einst die Toten ruhten, rauscht heute der Verkehr, stellen Cafés ihre Tische nach draussen oder gastieren wie in Basel Zirkusse und die Herbstmesse.

Aus alten Friedhöfen wurden meist Parkanlagen, viel seltener wurden sie überbaut. Aufgrund des explosionsartigen Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert wurde es auf den vorhandenen Friedhöfen eng. Auch die Aussicht, durch Feuerbestattungen Platz zu sparen, half nicht, und viele Städte eröffneten neue Anlagen – oft auf der grünen Wiese.

Dass die heutigen Friedhöfe umgenutzt werden, ist aus vielen Gründen unwahrscheinlich, aber, wie die Geschichte zeigt, nicht unmöglich. Trotzdem wäre es wünschenswert, dass Friedhöfe in Zukunft keine Grünflächen unter anderen sind, sondern dass den Menschen ihre Sonderstellung aus kultureller und ökologischer Sicht wichtig bleiben wird.

Anmerkungen

1 Grundsätzlich gibt es nur zwei Bestattungsarten, die Erd- und die Feuerbestattung. Aus deren Wahl ergeben sich dann verschiedene Möglichkeiten einer Beisetzung.
2 Statistik «Kremationen in der Schweiz», Schweizerischer Verband für Feuerbestattung SVFB, 1889–2014.
3 Peter Gabriel, Franz Osswald (Hrsg.): Am Ende des Weges blüht der Garten der Ewigkeit, 75 Jahre Friedhof am Hörnli, Bestattungskultur im Kanton Basel-Stadt, 2007, S. 303.
4 Laut Friedhofsverwaltung braucht ein Reihengrab für Urnen rund ein Drittel weniger Fläche als ein Reihengrab für eine Erdbestattung, die Aufbewahrung in einer Urnennische spart noch mehr Platz und das Gemeinschaftsgrab oder die Gruft sowieso. Auf wenigen Quadratmetern werden Tausende Verstorbene beigesetzt.
5 Seit 1846 gilt in der Schweiz eine Totenruhe, das heisst ein Turnus der Wiederbelegung von Gräbern, von 20 Jahren. Auf dem Friedhof Hörnli in Basel wird rund ein Drittel der Urnen, die herausgenommen werden, wieder beigesetzt.
6 Stadtgrün Bern: Der Bremgartenfriedhof, Ein Spaziergang mit Geschichten, 2015.
7 Christine Süssmann, Daniel Müller: Kremation, Vom Verbrennen der Toten in Zürich, 2013.


100 Jahre Krema­torium Sihlfeld D

Im 19. Jahrhundert hatten Platzprobleme auf Friedhöfen die Einführung der Kremation begünstigt. Bereits 1889 erhielt der Raum Zürich mit dem Krematorium Sihlfeld A die erste Anlage für Feuerbestattungen der Schweiz und die dritte in Europa. Den Nachfolgebau, das Krematorium Sihlfeld D, entwarf Architekt Albert Froelich (1876–1953), gebaut wurde er von 1913 bis 1915.  Die Schweizerische Bauzeitung schrieb darüber: «Die etwas archaisch-derbe Architektur ist kennzeichnend für Froelichs Sakralbauten; wir erinnern an sein Krematorium in Aarau und die noch frühere Abdankungshalle in Brugg. Zu dem damit beabsichtigten Effekt fehlen heute noch (…) zwei Voraussetzungen: die Patina des Alters und der Hintergrund hoher, ernster Bäume.»1 Doch die eigentliche Aufgabe übernimmt seit 1991 das Krematorium Nordheim. Das Krematorium Sihlfeld D wurde in den 1990er-Jahren umfassend ­restauriert und ist heute nahezu in seinem ursprünglichen Zustand erhalten. Es wird seit 1992 als Ab­dankungshalle genutzt. (dd)
Anmerkung 1 Schweizerische Bauzeitung, 1916, Band LXVIII, Nr. 2, S. 15–17 und Nr. 3, S. 24–25.

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