Sorg­fäl­ti­ges Ab­wä­gen

Die vorgesehene Stilllegung des historischen Albulatunnels, die massiven Eingriffe, die für seine Nutzung als Sicherheitsstollen erforderlich sind, und der Bau eines neuen Paralleltunnels widersprechen wichtigen denkmalpflegerischen Grundsätzen. Obwohl der Scheiteltunnel ein wesentlicher Bestandteil des Weltkulturerbes ist, setzte die Rhätische Bahn das Neubauprojekt durch. Immerhin sollen durch einen «Masterplan Gestaltung» historische Elemente auf den Vorgeländen der Portale geschützt und die Neubauteile adäquat gestaltet werden.

Data di pubblicazione
25-04-2013
Revision
25-10-2015

Die 1903 eröffnete Albulastrecke der Rhätischen Bahn (RhB) ist in vieler Hinsicht ein aussergewöhnliches Werk. Zunächst ist die technische Leistung hervorzuheben, eine Alpenbahn als reine Adhäsionsbahn zu bauen, um auf einer Strecke von 67km mit 42 Tunnels und ­Galerien und 144 Viadukten und Brücken nahezu 1100 Höhenmeter zu überwinden. Ebenso bedeutend ist die Integration der Bahnstrecke in die Landschaft und die architektonische Qualität sowohl der Tief- (Tunnelportale und Brücken) als auch der Hochbauten (Stationsgebäude oder technische Bauten). Der Bahnbau erlaubte es den Alpentälern, ihre Isolation zu überwinden, und leistete damit einen entscheidenden sozioökonomischen Beitrag.

Der universelle Wert der Albulabahn kommt in der Aufnahme in die Welterbeliste der Unesco im Jahr 2008 zum Ausdruck.1 Diese ist eine Anerkennung ihres Rangs und der für ihren Schutz vorgesehenen Massnahmen, bringt internationale Aufmerksamkeit und lässt sich touristisch verwerten. Sie bedeutet aber auch eine grosse Verantwortung. Diese ist in erster Linie durch die RhB wahrzunehmen, unterstützt und überwacht durch den Kanton Graubünden.2 Die Schweizerische Eidgenossenschaft als Signatarstaat des «Überein­kommens zum Schutz des Kultur- und Naturgutes der Welt»3 steht subsidiär in der Pflicht. 

Der schleichenden Entwertung entgegenwirken

Ein technisches Bauwerk von diesem Umfang in seinem kulturellen Wert vollständig zu erhalten ist fast unmöglich. Täglich sind Bauequipen für Kontrolle und Unterhalt unterwegs; vieles wird verändert. An den Stationsgebäuden und Bahnanlagen ist erkennbar, wie sich kleine Eingriffe in ihrer Summe gravierend auswirken können. Der schleichenden Entwertung kann nur durch eine unternehmensinterne Kultur des Respekts vor dem Bestand entgegengewirkt werden, unterstützt durch entsprechende Leitlinien.4

Bei grösseren Vorhaben sind die Zuständigkeiten geregelt, und neben den technischen Aspekten werden die Schutzanforderungen einbezogen. Die technischen Fragen betreffen vorrangig die Sicherheitsaspekte und den reibungslosen Bahnbetrieb. Die heutige mittel­europäische Gesellschaft erwartet eine Minimierung jeglicher möglichen Gefahr um fast ­jeden Preis, und entsprechend werden die behördlichen Anforderungen Jahr für Jahr erhöht. Diese Aufwärtsspirale der Regulierungen betrifft keineswegs bloss die Bahnen, es scheint aber so, als sei sie hier besonders ausgeprägt.

Vorschriften werden häufig absolut genommen, ein Abwägen findet nicht statt. Bei den Schutzanforderungen geht es um das Erhalten der baulichen Substanz und den Schutz der äusseren ­Erscheinung. Es ist wichtig zu betonen, dass es nicht genügt, die Veränderungen lediglich so zu begleiten («managing change»), dass nach einem Eingriff wieder ein annähernd ­gleiches Bild geschaffen wird.5

Der Entscheid für einen Neubau am Albula


Der Scheiteltunnel ist ein überaus bedeutender Bestandteil des Gesamtwerks der Albula­linie. Die Portale sind wichtige architektonische Einzelwerke, die gradlinige Zufahrt zu den Portalen, die landschaftliche Situation und die beidseits angeordneten Stationsanlagen mit den technischen Gebäuden haben einen hohen Situationswert.

Allerdings ist die Tunnel­röhre in einem schlechten Bauzustand. Die RhB sieht deshalb einen neuen Paralleltunnel vor, der unabhängig vom Betrieb des alten Tunnels erstellt werden kann; der bestehende Tunnel wird danach zu einem Sicherheits­stollen ausgebaut (vgl. «Der alte Albulatunnel bleibt Teil des Systems»).

Ein ausführliches Gutachten der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege vom 10. Dezember 2010 empfiehlt, die Variante «Neubau» weiterzuverfolgen und die Personensicherheit als wichtigen Faktor zu verbessern.6 Es stellt sich in der Tat die Frage, ob in dem seit mehr als hundert Jahren unfallfrei betriebenen Tunnel ein separat geführter Flucht- und Rettungsstollen überhaupt sinnvoll ist.

Technisch ist es möglich, den bestehenden Tunnel unter Betrieb instand zu setzen und danach für weitere Generationen zu betreiben. Gestützt auf das Gutachten wurde auch eine «Instandsetzung Plus» geprüft. Sie sah den Bau eines parallelen Sicherheitsstollens neben dem instand gesetzten Tunnel vor. Wegen der gegenüber der Basisvariante höheren Kosten und der längeren Bauzeit wurde sie verworfen.

Das Bundesamt für Verkehr und das Bundesamt für Kultur wogen die beiden grundlegenden Vorgehensweisen Instandsetzen des Bestands oder Neubau gegeneinander ab (vgl. Kasten). Sie liessen schliesslich die Neubauvariante weiter verfolgen. Der Verlust der originalen Linienführung und die Stilllegung des Tunnels sei zu verantworten, vor allem weil bei einer Instandsetzung Einschränkungen im Betrieb während der Bauzeit hätten in Kauf genommen werden müssen und weil das Sicherheitsdispositiv den heutigen Vorstellungen nicht mehr entsprochen hätte.

Das Bundesamt für Kultur stimmte dieser aus denkmalpflegerischer Sicht falschen Lösung zu; dabei war wohl die Einsicht massgebend, dass bei einer Interessenabwägung seitens des Bundes die Frage der Personen- und Betriebs­sicherheit sowie die finanzielle Verhältnismässigkeit überwiegen würden. Allerdings wäre es verheerend, wenn die nun für den Scheiteltunnel angewendeten Neubaukriterien auf weitere Bauwerke oder Streckenabschnitte der Albulalinie übertragen würden. 

Grundsätzliche Vorarbeiten und Abklärungen

Nach dem Entscheid für einen neuen Paralleltunnel wurde eine «Arbeitsgruppe Denkmalpflege» eingesetzt. Sie begleitete die Planung und sorgte dafür, dass zumindest bei Einzelentscheiden sorgsam mit den wertvollen Bestandteilen der Albulalinie umgegangen wird.7

Als ersten Schritt veranlasste die Arbeitsgruppe, dass ein bauhistorisches Inventar der Portalzonen erstellt wurde.8 Es umfasst die Hoch- und Tiefbauten, die Spuren der Baustellen­installation von 1903 sowie die Bahnanlagen und militärische Einrichtungen. Das Inventar bildet die Grundlage, um den Umgang mit den historischen Elementen während der verschiedenen Projektphasen festzulegen.

Weiter wurde eine Zwischenlösung vorgeschlagen. Der Paralleltunnel würde unabhängig gebaut, das Verschwenken in die alte Bahnachse indessen nicht vor den Portalen, sondern im Berg vorgenommen. So würden die bestehenden Portale in Betrieb bleiben und Schwierigkeiten wie das Versetzen von Gebäuden oder der Neubau der Brücke über den Beverin entfallen. Um die Verschwenkung zu bauen, wäre indessen ein Betriebsunterbruch von gut einem Jahr notwendig, und die Baukosten wären wesentlich höher gewesen – die Variante wurde daher fallen gelassen.  

Sorge für Bestand und für Neubauten tragen

Nicht bloss Schutz und Erhaltung des Altbestands sind für die Pflege eines Denkmals wichtig, sondern auch eine hohe gestalterische Qualität von ergänzenden Neubauten des Ensembles. Auf Verlangen des Bundesexperten wurde daher ein Verfahren für die Gestaltung der beiden Tunnelportale sowie für den Umgang mit den Vorgeländen durchgeführt.9

Der Gewinner Rolf Mühlethaler aus Bern erarbeitete mit der Arbeitsgruppe den «Masterplan Gestaltung»10, der die zu treffenden Massnahmen im Hoch- und Tiefbau umschreibt. Auch hier ging es immer wieder um ein sorgfältiges Abwägen zwischen der betrieblichen Ideal­lösung, den im Bauvorgang des neuen Tunnels am leichtesten umzusetzenden Massnahmen, den Kosten und dem angemessenen Weiterbestand der Zeugnisse. Es war nicht ­einfach zu vermitteln, dass für die architektonische Gestaltung von Alt- und Neubauten selbst Einzelheiten wie Materialien, ihre Behandlung, Anschlüsse und Farben wichtig sind und klar festgelegt werden müssen.

Zentral war die Frage, wie mit Hochbauten umzugehen sei, die im Bereich des neuen Trassees stehen. Zwei Beispiele: Während das Schalthaus auf der Seite Spinas nicht tangiert ist, wird sein Pendant auf der Seite Preda – ein hoch aufragender charakteristischer Turm aus mas­sivem Mauerwerk – verschoben. Das hölzerne Wärterhaus in Preda muss für die Baustelleninstallation demontiert werden; es wird nach der Fertigstellung des Tunnels an leicht verschobenem Standort wieder aufgebaut.

Für die neuen Portale führten Abwägungsprozesse zu Lösungen, die zwar eine Verwandtschaft zu den bestehenden Anlagen haben, ihre um 110 Jahre spätere Entstehungszeit aber klar zeigen. So wird namentlich beim Doppelportal auf der Seite Spinas der Eindruck vermieden, es handle sich beim Albulatunnel um eine Anlage, die wie der Simplontunnel bereits ursprünglich mit zwei Röhren gebaut worden sei. 

Auch die zusätzlichen Hochbauten für die technischen Einrichtungen und namentlich die neue Perronüberdachung mit Unterführung in Preda lösten kontroverse Diskussionen bezüglich Disposition und Gestaltung aus. Es ist erstaunlich, mit welchem Aufwand in der Schweiz eine völlig unbedeutende, kaum frequentierte Bahnstation ausgebaut wird – das separat geführte Gleis für die rege benutzten «Schlittlerzüge» ist davon unabhängig. In der eigentlichen Station werden für die wenigen Reisenden eine Unterführung mit Treppe, Rampe und eine grossflächige Perronüberdachung erstellt. Glücklich das Land, das über so grosse finanzielle Möglichkeiten verfügt 

Anmerkungen
1 http://whc.unesco.org/en/list/1276 (Abrufdatum 6. März 2013).
2 Internationale Abkommen, die von der Eidgenossenschaft unterzeichnet werden, binden auch die Kantone. Aufgrund der schweizerischen Gesetzgebung, die den Bereich der Kultur und damit die Erhaltung des Kulturerbes in die Zuständigkeit der Kantone gibt, ist primär der Kanton Graubünden für die Umsetzung der Verpflichtungen aus der Welterbekonvention zuständig.
3 Convention concernant la protection du patrimoine mondial, culturel et naturel, angenommen von der Generalkonferenz der Unesco am 16. November 1972.
4 Beispiel solcher genereller Leitlinien: Erhaltung historischer Verkehrswege, technische Vollzugshilfe. Bundesamt für Strassen Astra, 2008.
5 Bernhard Furrer: Das Denkmal zwischen materiellem Zeugnis und ideellem Wert. In: Kunst und Architektur in der Schweiz 1 – 2012. S. 6 ff.
6 Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege: GR Preda – Spinas, Albulatunnel. Gutachten vom 23. Dezember 2010.
7 Die Arbeitsgruppe tagte von Oktober 2011 bis Oktober 2012 mit kontroversen Standpunkten, aber stets in einem guten Gesprächsklima. Sie bestand aus den für die Planung des Tunnels zuständigen Personen der RhB sowie je einem Vertreter der kantonalen Denkmalpflege und des Bundesamts für Kultur.
8 Leza Dosch: Bauhistorisches Arealinventar der Station Preda und Bauhistorisches Arealinventar der Station Spinas, verfasst im Auftrag der RhB unter Mitwirkung von Gion Caprez, Juni 2012.
9 Für eine Ideenstudie im Rahmen der «Ausschreibung Mandat Spezialist Gestaltung» wurden fünf qualifizierte Büros eingeladen: ARGE Roost /Menzi Bürgler, Zürich; Conzett Bronzini Gartmann, Chur; Feddersen & Klostermann, Zürich; Rolf Mühlethaler, Bern; Studio We, Lugano.
10 Rolf Mühlethaler: Neubau Albulatunnel II, Masterplan Gestaltung. 31. Oktober 2012.

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