Reich und glüc­klich – aber wie nach­hal­tig?

Die Schweiz ist ein Top-Ten-Land in globalen Rankings zu Wohlstand, Glück oder nachhaltiger Entwicklung. In einem Punkt schneidet das Land allerdings schlechter ab als der Rest der Welt: beim Konsum und seinen Folgen für Umwelt, Klima und Gesellschaft.

Data di pubblicazione
06-01-2023

Dass die Welt ein grosses Gefälle bei Wohlstand, Wachstum oder Zufriedenheit aufweist, gehört nicht zu den Breaking News. Und allseits bekannt ist, wie weit oben die Schweiz jeweils steht. Weitaus interessanter ist vielleicht, wer das kleine Land mitten in Europa übertrumpft: Als reichstes Land der Welt gilt Luxemburg; die Schweiz folgt auf Rang 5. Beim Glück hält sie sich auf Platz 4; zufriedener sind gemäss World Happiness Report nur Finnland, Dänemark und Island. Grösser ist der Aha-Effekt allerdings, wenn die Ranglisten der Glücklichen und Reichen mit dem globalen Nachhaltigkeitsranking verglichen wird. Abermals teilen skandinavische und andere euro­päische Länder die ­Podestplätze unter sich auf. Die Schweiz steht auf Platz 8. Der Sustainable Development Report 2022 ist zwar kein offizieller Bericht der UN. Die ­Autoren gehören aber zu einem internationalen NGO-Netzwerk, das nur Informationen für das Rating verwendet, die die Länder selbst deklarieren.

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Was ebenfalls überrascht: Obwohl Glück und Nachhaltigkeit schwer messbar sind, lässt sich der ­Pulsschlag der Welt wissenschaftlich analysieren. Der Trick solcher Diagnosen ist, politisch anerkannte ­Kriterien für sozia­le, wirtschaftliche und ökologische Leistungen auszuwählen. Dafür verständigt sich die Staaten­gemeinschaft auf 17 Sustainable Development Goals. Diese lassen sich in weitere, quantifizierbare Unterziele aufteilen und im Länderindex auf einer ­Skala von 1 bis 100 einteilen.

Spitzenreiter Finnland sammelte zuletzt 86.5 Punkte; Schlusslicht Südsudan erreichte 39 Punkte, was etwas mehr als die Hälfte des globalen Durchschnitts von 66 Punkten ist. Dieser Wert blieb im Vergleich zum Vorjahr unverändert. Zwei grosse Krisen – die Corona-Pandemie und die Ukraine-Invasion – brachten die nachhaltige Entwicklung weltweit ins Stocken.

Zwei verlorene Jahre

Im letzten Sommer warnten die Vereinten Nationen: Der Zustand der Welt bessert sich nicht mehr. Der weltweite Lockdown sowie überregionale Versorgungs­engpässe bei Gas und Getreide tragen das ihre dazu bei, dass reiche, arme und aufstrebende Länder deutliche Rückschläge für das eigene soziale, ökologische und wirtschaftliche Gedeihen erleiden. 2020 und 2021 sind verlorene Jahre für die nachhaltige Gesundung des Planeten. So bald als möglich soll es aber so weitergehen wie vorher: Seit 2015 der Nachhaltigkeitsindex erfasst wird, haben viele Länder in Afrika und Asien aufgeholt und mehr Nachhaltigkeitspunkte gesammelt als zum Beispiel die reichen Länder Europas.

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Allerdings ist die Agenda 2030 kein Wettbewerb, sondern ein dringliches existenzielles Anliegen: Die gesamte Weltbevölkerung hat Anspruch auf ein Leben ohne Armut, Hunger und Diskriminierung. Und ebenso ist der Planet durch ein Eingrenzen des Klimawandels oder des Biodiversitätsverlusts zu schützen. Doch während sich die Staatengemeinschaft den ökologischen Krisen mittels gemeinsamer Abkommen und verbindlicher Ziele annimmt, vermögen die Nachhaltigkeitspflichten viel weniger zu mobilisieren. Im Vergleich zu vielen Ländern, Städten und privaten Unternehmen, die sich dem Netto-­Null-Emissionsziel anschliessen, erscheint die Agenda 2030 als schlafender Riese. Frankreich oder die USA verzichten bisher auf eine eigene Umsetzungsstrategie. Obwohl die Schweiz bisher nur ein geringes Zusatzbudget bereitstellt, zählt sie bei der Umsetzung zu den fleissigen Ländern.

Abhängigkeiten und Zielkonflikte

Letzten Sommer informierte die Schweiz die UN-Vollversammlung über den aktuellen Vollzugsstand; Aussenminister Ignazio Cassis gab sich selbstkritisch: «Unser Kurs ist, trotz einiger Fortschritte, ungenügend.» Der von der Bundesverwaltung verfasste Länderbericht benennt Zwischenerfolge, aber noch mehr Defizite.
Wenig überraschend tauchen bekannte Pendenzen aus dem Vollzugsalltag auf: Die Schweiz reduziert weniger Treibhausgase als im Pariser Abkommen versprochen. Gemessen an der nationalen Energiestrategie ist der Zubau von erneuerbaren Energien ebenfalls zu langsam. Und nicht nachhaltig ist die Siedlungsentwicklung, weil noch immer unversiegelte Böden verloren gehen oder der Bevölkerungsanteil, der unter Verkehrslärm leidet, nach wie vor steigt.

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Was den SDG-Länderbericht jedoch besser erfasst als eine Nachhaltigkeitsstatistik: Zusätzlich zu den sektoriellen Vollzugsproblemen wird auf gegenseitige Abhängigkeiten und Zielkonflikte hingewiesen. Neue Energieanlagen erfüllen zwar SDG 7 «Bezahlbare und saubere Energie», sind aber nicht per se mit dem Schutz der Biodiversität (SDG 15 «Leben an Land») vereinbar. Oder die wachsende Wirtschaft: Zur Armutsbekämpfung (SDG 1 «Keine Armut») gibt es kaum wirksamere Mittel; gleichzeitig wächst der Konsum endlicher Ressourcen mit (SDG 12 «Verantwortungsvoller Konsum und Produktion»). Und für das Bauen relevant: Die Siedlungsverdichtung schont fruchtbares Kulturland, aber sorgt nicht automatisch für bezahlbaren Wohnraum.

Interne Kritik am Länderbericht

Der Schweizer Länderbericht liefert eine Zwischenbilanz über Erfolge, Konflikte und Herausforderungen zur nachhaltigen Entwicklung. Doch darüber, wie die Defizite für jedes der 17 Nachhaltigkeitsziele zu beheben wären, erzählt er zu wenig. Auf politischer und zivilgesellschaftlicher Ebene sorgt dies für anhaltende Kritik: Einen Fahrplan mit Massnahmen wünschen sich Politiker, die dazu regelmässig parlamentarische Vorstösse einreichen, und zudem inländische Entwicklungsorganisationen, die sich noch mehr als die Umweltverbände für die Agenda 2030 engagieren. Die Schweiz müsse mehr unternehmen, klagt Caritas Schweiz stellver­tretend für diese. «Nachhaltigere Konsum- und Produk­tionsmodelle» seien für die Umsetzung unverzichtbar.

Mit dieser Kritik sehen sich auch andere reiche Länder gemäss den Autoren des SDG-Rankings konfrontiert. Trotz guter Rangierung müssen diese noch mehr leisten, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Zur Agenda 2030 definiere zwar jedes Land eigene Ziele: gegen den Klimawandel, den Verlust an Biodiversität oder die zu intensive Nahrungsmittel­produktion. Aber dazu gehören auch eine globale Per­spektive und ein weitergehendes staatliches Verantwortungsbewusstsein: Reiche Gesellschaften, die viel konsumieren, erzeugen externe Kosten, die bisweilen andernorts anfallen und wofür sich oft niemand verantwortlich fühlt.

Höchster Spillover-Effekt weltweit

Wer Glück und Nachhaltigkeit messen kann, weicht dem Verdrängungseffekt nicht aus. Der NGO-Report mit dem SDG-Ranking zählt auch dafür Negativpunkte zusammen: Dank dem «Spillover-Effekt» sind reiche Länder, die Schweiz mittendrin, in der Unterkategorie «Konsum» absolute Weltspitze. Der Spillover-Effekt registriert die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Spuren, die jede Lieferkette von Produkten oder Dienstleistungen hinterlässt.

Das Verantwortungsprinzip staatlich zu regulieren, gewinnt angesichts einer globalisierten Arbeitsteilung politisch an Bedeutung. Die Effekte der out­gesourcten Industrie lassen sich auch hierzulande nicht länger verdrängen: Wie werden lokale Ökosysteme beim Abbau der Rohstoffe gestört? Und welche Arbeitsbedingungen herrschen dort, wo immer mehr Produkte verarbeitet werden? Auch für die Agenda 2030 der Schweiz sind das relevante Themen: Die Förderung von «nachhaltigen Konsum- und Produktionsmustern» setzte der Bundesrat als Kernanliegen für die eigene Umsetzung fest. Und die nationale Umweltbehörde publiziert jährlich einen ökologischen Fussabdruck, der Inland- und Auslandanteil separat ausweist.

Schweden, im globalen SDG-Ranking fünf Plätze vor der Schweiz, zeigt allerdings, dass ein reiches Land noch konkretere Schritte gegen den Spillover-Effekt unternehmen kann. Das skandi­navische Land will mehr Konsumverantwortung übernehmen und zusätzlich zu den territorialen CO2-Emissionen ebenso den konsumbasierten Ausstoss staatlich regulieren. Als erstes Land der Welt will es sogar ein Gesetz erlassen, das die von den Produktions- und Transportketten im Ausland mitverursachten Treibhausgase zu den hausgemachten dazuzählt. Angepasste Emissionsbilanzen beziffern, um wie viel grösser die Hausaufgabe wird: Der Reduktionsbedarf von Schweden würde um einen Drittel erhöht. Auch für die Schweiz lässt sich ein solches Plus berechnen: Die konsumbasierte Treibhausbilanz ist zwei Drittel höher als die bislang ausgewiesenen Emissionen. Pläne, diese in das offizielle CO2-Register aufzunehmen, gibt es hierzulande jedoch nicht.

Vor acht Jahren nahm die internationale Staatengemeinschaft die Agenda 2030 in Angriff. In acht Jahren will sie Resultate liefern. Ob die zweite Hälfte der Umsetzungsphase einen Durchbruch für alle 17 SDG-Themen bringt, darf offen bleiben. Wichtiger ist die Erkenntnis: Ohne stärkeren staatlichen Support gelingt eine nachhaltige Entwicklung nicht. Die Welt hat aber Anrecht auf diese Breaking News.

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