Land­schaf­tsbrüc­ke

Fussgänger-/Veloverbindung Kreis 4–5; Einstufiger, selektiver Studienauftrag

Zürich erhält eine weitere Brücke über das Gleisfeld vor dem Hauptbahnhof. Das Siegerprojekt «Landschaftsbrücke» aus dem Studienauftrag verbindet in einem dreidimensional gedachten, eleganten Schwung die Kreise 4 und 5. Dabei wird die Brücke ihrem Namen gerecht und ist zugleich Aufenthaltsraum im urbanen Kontext.

Data di pubblicazione
22-09-2022

Einer Schneise gleich trennt das gewaltige Gleisfeld vor dem Zürcher Hauptbahn­hof die Kreise 4 und 5 voneinander. Punktuell gibt es Verknüpfungen der beiden Seiten. Heute verbinden die Duttweiler- und die Hardbrücke, die Lang­stras­senunterführung, der Negrellisteg sowie ab 2024 der Velo­tunnel unter dem Hauptbahnhof die Quartiere. Ausserdem sieht der kommunale Verkehrsrichtplan der Stadt Zürich zwischen der Hohl- und der Geroldstrasse eine weitere Fussgänger- und Veloverbindung vor. Diese befindet sich an der Schnittstelle von Entwicklungsgebiet und Blockrand­quartier und in direkter Nachbarschaft zum denkmalgeschützten Wipkinger- und Lettenviadukt. Ausserdem gehört sie gemäss regionalem Richtplan zum übergeordneten Veloroutennetz. Für diesen neuen Übergang führte das Tiefbauamt der Stadt Zürich mit den SBB von 2016 bis 2018 eine Machbarkeitsstudie durch und veranlasste 2019 bauliche Vorinvestitionen. Im Zusammenhang mit dem Neubau des Polizei- und Justizzentrums (PJZ) liess sie Bohrpfähle für die Lastabtragung erstellen. Die spätere Zugänglichkeit mit Grossbohrgeräten wäre sonst nicht mehr gegeben. Aufgrund der vielfältigen Rahmenbedingungen und der komplexen Planung der neuen Brücke führte man 2021 einen einstufigen, nicht anonymen Stu­dienauftrag mit Präqualifikation durch. Gesucht wurde ein Projekt, das mit eingehaltenen Rahmenbedingungen konstruktiv und gestalterisch überzeugt, sich optimal in den Stadtraum integriert, sorgfältig auf die Schutzobjekte abgestimmt ist und unter Bahnbetrieb erstellt werden kann. Da es sich bei der Brücke um ein Bauwerk im hochverdichteten städtischen Kontext handelt, das mehr als nur eine Verbindung ist, waren im Rahmen des Studienauftrags neben tragwerkspezifischen auch städtebauliche Aspekte zu ­bedenken. Gestaltung und Verflechtung in die angrenzenden Stadt­räume, eine Konstruktionsbreite von mindestens 6 m, Umgang und Berücksichtigung der geschützten Objekte, Beleuchtung, Massnahmen zur ökologischen Vernetzung und zur Hitzeminderung waren Themen.

Fünf vielfältige Entwürfe

Die Brücke führt künftig vom PJZ bei der Remisen- zur Viadukt-/Geroldstrasse mit Anschluss ans Lettenviadukt. Dabei flicht sich der Weg komplex in den städtischen Bestand ein: Vom Kreis 4 führt er unter der Kohlendreieckbrücke der Durchmesserlinie hindurch, schwingt sich über das Gleisfeld und entlang des Wipkingerviadukts und fügt sich ins Wegenetz des Kreises 5.

Obwohl die Rahmenbedingungen komplex und einschränkend waren und alle Projekte als Stahlkonstruktionen entwickelt wurden – eine geeignete Materialisierung für Projekte, die aufgrund eingeschränkter Lichtraumprofile eine hohe Schlankheit bedingen –, ergaben sich, wie so oft in Wettbewerbsverfahren, vielfältige Eingaben. Vier der fünf Teams haben einen rund 530 m langen Durchlaufträger in der vorgegebenen Linienführung mit den gleichen Stützenstandorten und Spannweiten verwendet. So unterscheiden sich die Projekte hauptsächlich bezüglich ihrer Brückenquerschnitte, der Ausgestaltung der Stützen und den entworfenen ­Anschlusspunkten an den Brücken­enden. Hinsichtlich Nutzung und Funktionalität liegt die Herausforderung in den Übergängen ins umgebende Fussgänger- und Velonetz, da sich hier die offensichtlichsten projektspezifischen Qualitäten und Konfliktpotenziale andeuten. Zwar sind auch die Fundationen projektspezifisch unterschiedlich ausgestaltet, doch wirkt sich die gewählte Lösung nicht auf die sichtbare Form des Bauwerks aus.

Siegerprojekt: breit, begrünt, geschwungen

Aus den fünf Beiträgen hat das Beurteilungsgremium das Projekt «Landschaftsbrücke» von schlaich bergermann partner zur Umsetzung empfohlen. Es ist eine Stahlkon­struktion, die durch ihr integrales Gesamtkonzept überzeugt. Die komplexen Rahmenbedingungen, die Aspekte zur ökologischen Vernetzung und der Beitrag zur Hitzeminderung wurden sorgfältig und ernsthaft berücksichtigt. So schafft «Landschaftsbrücke» auch einen Mehrwert für den Stadtraum.

Die Brücke ist in nur drei Dilata­tionsabschnitte unterteilt und an den Aufgängen 6.5 m und im Mittelteil sogar 8 m breit. Auch wenn diese Abmessungen mehr an eine ­Plattform als an eine Verbindung erinnern, ist das neue Bauwerk dennoch primär als Transitbrücke gedacht, auf der nicht länger verweilt werden soll. Die grosszügige Breite aber ­ermöglicht, die Fahrbahnen zu trennen, sodass verweilende Personen den Transitverkehr nicht behindern und das Konflikt­potenzial zwischen den Nutzenden auf der Brücke minimiert wird. Ein 1.5 m breiter Grünstreifen trennt den Fussweg über praktisch die gesamte Brückenlänge vom Veloweg, und während heissen Sommertagen wirkt dieser kühlend. Diese Charakteristik des Projekts als integrales gestalterisches Element des Bauwerks steigert die gewünschte Aufenthaltsqualität und verbessert – gemäss dem Beurteilungsgremium und entsprechend dem Ziel der Stadt – die Zugänglichkeit zum städtischen Freiraum­angebot. Auch das transparente Brückengeländer trägt dazu bei, denn es ermöglicht eine freie Sicht auf das Gleisfeld und die Stadtlandschaft. «Sichtbezüge», so Andreas Keil, Projektverfasser bei schlaich bergermann partner, «die eine Trogbrücke nicht hätte ermöglichen können. Sie hätte eine ungewünschte kanalisierende Wirkung erzeugt.» Allerdings ist der Fuss­gängerbereich infolge des Grünstrei­fens etwas zu schmal, wenn ein Reinigungs- oder Unterhaltsfahrzeug ­beispielsweise einen Rollstuhl oder Kinderwagen kreuzen sollte. Das Beurteilungsgremium schätzt das Potenzial einer leichten Verbreiterung, ohne dass die Brücke gestalterisch oder konzeptionell verlieren würde, als gross ein.

Die «Landschaftsbrücke» ist mit ihrem dreizelligen, mit Trapezsteifen verstärkten Hohlkasten statisch effizient. Denn sie ist leicht und schlank. Die statische Höhe korreliert zudem mit den Spannweiten der Brückenfelder; so entsteht ein statisches System, das auf die Funktion des Bauwerks für den Fuss- und Radverkehr abgestimmt ist. Die Stützen des vielfeldrigen Durchlaufträgers sind mit dem Träger biegesteif verbunden, wodurch Brückenlager und deren Unterhalt entfallen, und bei den beiden Fahrbahnübergängen sind Doppelstützen angeordnet. Nicht zuletzt ist der Hohlkastenträger nicht nur ein Tragelement, sondern trennt auch den Fuss- vom Veloverkehrsbereich. So verknüpfen sich die Funktionen sinnvoll.

Ins Stadtgefüge geflochten

Herausfordernd, um eine Brücke in einen hochverdichteten Kontext einzufügen, sind die Auf- und Abgänge. Hier kommt erschwerend dazu, dass die Abgänge in zwei komplett unterschiedliche Stadtquartiere münden. Im Norden in das dynamische ehemalige Industriequartier mit den Viadukten und im Süden in das dicht bebaute Wohnquartier Aussersihl mit dem bedeutenden Strassenraum, der über die Hohlstrasse mit den Nachbarquartieren Hard und Lang­strasse vernetzt ist.

Im Norden hält die Brücke zwar respektvoll Abstand von den denkmalgeschützten Viaduktbögen, trotzdem aber verflicht sie sich mit ihnen. Als favorisierte Variante ersetzt das Siegerteam nämlich die bestehende Verbindungstreppe, die heute als solides Element konzipiert ist, sich aber von der typischen Bogenstruktur radikal unterscheidet, durch eine spiralförmige Treppenrampe. Andreas Keil spricht von einem Wendel, «der das Bild eines Knotens zwischen den Epochen, den städtischen Ebenen, den Schichten der Geschichte schafft». Dafür müssen ein Bogen ausgeräumt und Ersatzräume für die Haustechnik der Viaduktbögen gesucht werden. Die neue Konstruktion lässt die Abfolge der Bögen und den Bestand der SBB-Brücke unberührt. Es entsteht ein gelungenes Nebeneinander von Historischem und Neuem, eine städtebauliche Weiterentwicklung: Früher stand der Viadukt im Grünen, die Bögen bereits als «Durchlässe» für das städtische Wachstum vorgesehen. Heute steht es in der Stadt, und die Bögen fungieren als urban und verkehrstechnisch nutzbarer Raum.

Nach Süden flicht sich der Brückenabgang unaufgeregt in den Strassenraum ein. Die farbliche Gestaltung der Trottoiroberfläche macht die Veloroute selbsterklärend. Selbst neue Abgänge, falls sie künftig notwendig werden, sind ohne grosse Anpassungen an das Tragwerk anschliessbar. Das unter der Gehfläche angeordnete Tragwerk lässt Anbauten an beliebiger Stelle zu. Neue Wegknoten können ohne Eingriffe beidseitig am Tragwerk der Hauptbrücke angeschlossen werden. Dies bietet Flexibilität bei der Gestaltung der Wegeführung. So können beispielsweise die südlichen Abgänge zur Bogen- oder zur Brauerstrasse beim Bau der Brücke berücksichtigt oder erst nachträglich hinzugefügt werden.

Ingenieurbauwerk als Teil der Stadtarchitektur

An der differenzierten Einbindung des Bauwerks in den urbanen Kontext lässt sich erkennen, wie schwierig es auf architektonischer und tragwerkspezifischer Ebene ist, Infrastrukturbauten in die Stadtarchitektur einzufügen. Es sind komplexe Rahmenbedingungen zu erfüllen – Grenzabstände, Emis­sionsbegrenzungen, Platzmangel, Wirtschaftlichkeit, Tragsicherheit, Gestaltung –, Sachverhalte, die in langjährigen Analysen und auf­wendigen Abwägungen entstanden sind und die dennoch kritisch hinterfragt werden dürfen. So wählte das Team 2 eine andere, von der Machbarkeitsstudie abweichende Linien­führung. An der Zwischenbesprechung wurde diese zwar nicht verworfen, doch die Genehmigungsfähigkeit war unsicher, was ein Projektrisiko darstellte. Man beschloss, diese Risiken mit den funktionalen, konstruktiven, stadträumlichen und verkehrstechnischen Vorteilen des Projekts abzuwägen. Aufgrund des durch die SBB im Bereich zwischen PJZ und Gleisen geplanten Unterwerks, das für den Grossraum Zürich und damit den Bahnbetrieb für die Schweiz unabdingbar ist und nicht an anderer Lage erstellt werden kann, ist der Projektvorschlag des Teams 2 aber letztlich doch nicht umsetzbar.

Die «Landschaftsbrücke»  hält sich an die vorgegebene Linienführung. Das Projektteam hatte aber den Mut, mit dem Wendel im Viaduktbogen eine unkonventionelle Wegführung zu entwerfen. «Auf und Abgänge sind ein äusserst wichtiger Teil von Brückenprojekten. Wir beschäftigen uns ausführlich mit solchen Punkten. Dafür braucht es ein fundiertes Verständnis für die vorliegende und für die neu zu schaffende Situation. Da hilft unsere Erfahrung. Sie gibt einem das Gefühl für die richtigen Proportionen und für die passende Massstäblichkeit im dreidimensional zu denkenden Perimeter. Aus unserem ständig wachsenden Repertoire an Ansätzen können wir Dinge so kombinieren, dass etwas Ganzheitliches entsteht. Dabei übergreifen sich Disziplinen – Architektur, Ökologie, Ingenieurbaukunst und Beleuchtung. Das Beurteilungsgremium ist wohl gerade deshalb der Meinung, dass die «Landschaftsbrücke» aufgrund ihres durchdachten und integralen Gesamtkonzepts überzeugt und ein zielführender Beitrag ist, der für die Weiterentwicklung der Stadt Zürich ein Leuchtturmprojekt mit Strahlkraft und hohem Identifikationspotenzial sein könnte.

Die niedrigsten Emissionen

Auch bezüglich des CO2-Fussabdrucks überzeugt die «Landschaftsbrücke». Die ermittelten Emissionen beschränken sich lediglich auf die Phasen von Erstellung, Betrieb und den Rückbau und umfassen keine Angaben zu Verkehrsumlagerungen. Bei allen fünf Projekten ist die prozentuale Verteilung der Emissionen auf die unterschiedlichen Phasen ähnlich, weil sich die Projekte punkto Materialisierung nicht wesentlich unterscheiden.

Die niedrigsten Emissionen pro Brückenfläche weist aber das Projekt des Teams 5 aus, da am wenigsten Stahl pro Quadratmeter verbraucht wird. Die Emissionen aus der Stahlproduktion machen mehr als 70 % der Gesamtemissionen aus. Doch gemäss Beurteilung hat das Projekt Optimierungspotenzial. Das betrifft vor allem das vorgeschlagene Beleuchtungskonzept. Auch die vorgesehenen Photovoltaikelemente auf dem seitlich angeordneten Berührungsschutz sind begrüssenswert, leider aber wegen des Betriebs und des Unterhalts nicht umsetzbar. Das Gremium hält das Projekt mit grossem Wiedererkennungswert jedoch für innovativ und technisch umsetzbar. Das Brückenkonzept sei sowohl konstruktiv und funktional als auch gestalterisch von herausragender Qualität.

Die Gesamtkosten belaufen sich schätzungsweise auf 75 Mio. Fr. Nach den öffentlichen Planauflagen ist – nach heutigem Stand – für 2027 eine Volksabstimmung über das Bauvorhaben geplant. Baubeginn ist frühestens 2028.

Jurybericht und Pläne auf competitions.espazium.ch

Empfehlung zur Weiterbearbeitung

Team 5: schlaich bergermann partner (Federführung), Stuttgart; Emch + Berger, Bern; Itten + Brechbühl, Zürich; ghiggi paesaggi, Zürich

Weitere Teilnehmende

Team 1: Afry Schweiz (Federführung), Zürich; Gottlieb Paludan Architects, Kopenhagen
Team 2: Bänziger Partner (Feder­führung), Buchs; 10 : 8 Architekten, Zürich; Stadt Raum Verkehr, Zürich; Sieber Cassina + Partner, Bern; Vogt Partner Lichtgestaltende Ingenieure, Winterthur
Team 3: dsp Ingenieure + Planer (Federführung), Uster; Conzett Bronzini Partner, Chur; Knight Architects, London; asa, Rapperswil-Jona; DGJ Landscapes, Zürich; Bartenbach, Aldrans (Austria)
Team 4: Flückiger + Bosshard (Federführung), Zürich; Scheiwiller Architekten, Zürich; Priska Meier Lichtkonzepte, Turgi; Hefti Hess Martignoni, Zug; Verkehrsteiner, Bern

FachJury

Kristian Schellenberg, Bauingenieur (Vorsitz), Zürich; Claudia Neun, Amt für Städtebau der Stadt Zürich; Albin Kenel, Bauingenieur, Zürich; Kai Flender, Architekt, Ühlingen-Birkendorf; Arno Lederer, Architekt, Stuttgart

Sachjury

Simone Rangosch, Tiefbauamt der Stadt Zürich; Felix Bissig, Projekt­management Region Ost, SBB; Lukas Knörr, Denkmalpfleger, Berlin, Bauberatung Kantonale Denkmal­pflege Zürich; Hannes Schneebeli, Werterhaltung Tiefbauamt der Stadt Zürich

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