Die Ver­gan­gen­heit im Prä­sens

Zwei Umbauten oberhalb von Locarno von Bartke Pedrazzini Architetti bescheren der Vergangenheit eine unerwartete, ästhetisch und politisch starke Präsenz inmitten einer Spekulationslandschaft, wie sie längst sehr viele Südhänge im Tessin besetzt hat.

Data di pubblicazione
31-03-2022

Die Via delle Vigne in Minusio bildet eine Höhenlinie. Parallel zum Hang nicht nur, sondern auch zum weit unten liegenden Seeufer des Lago Maggiore. Und zugleich ist die Via delle Vigne eine Geschichte. Eine Erzählung der letzten vier, fünf Jahrzehnte des Tessins, die lesen kann, wer die Strasse entlanggeht.

Die Erzählung gehört zum Genre absurde Literatur. Die Abschnitte passen nicht zusammen. Passagen gähnender Hässlichkeit wechseln mit plötzlichen Momenten des Pastoralen, die sofort wieder konterkariert werden von einem Stakkato des Konventionellen und dessen, das sich vermeintlich gut verkauft.

Zum historisch Absurden gehört, dass, was hier einst war, heute fehl am Platz wirkt. Jahrzehnte und enorme Mengen an banalcremeweiss verputzten Backsteinkuben, an Sicht- und unsichtbarem Beton, an Panoramafenstern und Glasbrüstungen, an Autoabstellplätzen und Garagentoren und Tiefgarageneinfahrten haben erfolgreich vermocht, ins Abseits zu drängen, was zuerst hier war.

So wie die namengebenden Weinberge entlang der Strasse reduziert sind auf versprenkelte Rebenreihen, so stehen die wenigen verbliebenen Bauten aus Stein und rauem, grauem Putz verloren und fremd in diesem Kontext. Obwohl Granitmauern, Palmen, glucksende Bachläufe und sich den Hang hinaufschlängelnde Fusspfade immer noch auf den bekannten und beliebten Ort verweisen, der er mal war.

Ein wundersamer Knick

Bartke Pedrazzinis Intervention in diesem Umfeld kann man als eine Korrektur dieser Erzählung begreifen. Diese ist gerade deshalb so gelungen, weil sie der an den Rand gedrängten Geschichte zu einer neuen Präsenz verhilft, ohne im Geringsten nostalgisch zu sein. 2018 bekamen die Architekten den zunächst relativ schlichten Auftrag, ein unscheinbares Wohnhaus an der Via delle Vigne energetisch zu sanieren.

Beim Aufmass des Bauwerks stellte sich der Grund für einen wundersamen Knick in der Strassenfassade heraus: Die rechte Hälfte des Hauses war ursprünglich ein Bruchsteinbau aus bis zu 80 Zentimeter dicken Mauern, ganz ähnlich konstruiert wie ein dazugehöriger, ebenfalls an die Strasse grenzender rustico. Dessen Alter machten die steinsichtige Fassade und das mit Steinplatten gedeckte Satteldach offenbar.

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Der historische Fund und die Tatsache, dass das auf dem Grundstück erlaubte zusätzliche Neubauvolumen bereits von einem dahinter den Hang erklimmenden Terrassenhaus aufgebraucht war, inspirierte einen fundamentalen Umbau sowohl des Wohnhauses als auch des rusticos.

Die linke, später hinzugekommene Hälfte des Hauses wurde abgebrochen, der Bau auf seinen steinernen ältesten Kern reduziert; auch das Innere wurde komplett entfernt. Dass damit kein Zurückdrehen der Zeit intendiert war, bewies die Vorgehensweise beim Stall nebenan. In erstaunlich radikaler Manier verlor dieser sein Satteldach und einen malerischen lauben­artigen Anbau.

Die neue Ausgangslage bestand damit aus zwei rechteckigen kubischen Baukörpern aus Bruchsteinmauerwerk. Zudem stand nun baurechtlich und physisch die Kubatur, die abgerissen worden war, als potenzielles Erweiterungsvolumen zur Verfügung.

Gespür für Geschichte ohne Furcht vor Neuem

Dieses sensible Interesse für den steinernen Bestand bei gleichzeitiger Furchtlosigkeit gegenüber einer entschiedenen Modernisierung bestimmt das Ergebnis. Die Steinfassaden wurden komplett freigelegt, die ursprünglichen Öffnungen mit nahezu archäologischer Akribie oder doch zumindest mit augenscheinlicher Freude an den formalen Unberechenbarkeiten der Zeitläufte aufgespürt. Das beschert insbesondere der Ostfassade des Wohnhauses, heute «Ca’ del Tero», eine Lebendigkeit, die sich so kaum hätte planen lassen.

Zugleich bestehen die Rahmen dieser zahlreichen verschiedenformatigen Fensteröffnungen aus Beton. Dieser kleidet auch die Laibungen der Öffnungen aus und stabilisiert so die gesamte, in der Bauphase sehr fragile Struktur. Die Westfassade, die jahrzehntelang als Innenwand gedient hatte, war sehr viel stärker verletzt. Hier bestehen nun ganze Wandfelder aus Sichtbeton. Auch den oberen Abschluss des Wohnhauses bildet ein breites Betonband, das wie ein mächtiger Fries die bewusst disparate Komposition formal zusammenhält.

Das durch den Abriss gewonnene Volumen wurde beiden Gebäuden in Form von neuen Anbauten, die sich rechtwinklig an den Bestand lagern, wieder hinzugefügt. So entstanden zwei L-förmig von Baukörpern umschlossene Höfe, Räume unter offenem Himmel, die sich zur Strasse hin mit neu geschaffenen Mauern abgrenzen. Teils bestehen diese aus den Steinen, die der Abriss haufenweise zur Verfügung stellte. Auch für die Pflasterung wurden die Steine wiederverwendet, einschliesslich eines Teils des Grundstücks zur Strasse hin, den man als Zuschlag zum öffentlichen Raum betrachten kann.

Dabei wurde ein Stein an den anderen gelagert, als handle es sich um eine gekippte Mauer. «Parete buttata» nennen die Arbeiter das treffend. Die Haltung, kreativ mit dem Vorhandenen umzugehen, schliesst neben der Wiederverwendung der vorgefundenen Steine auch die wieder montierte Photovoltaik-Anlage und eine alte Pergola im Garten ein.

Die energetische Ertüchtigung des Bestands erscheint bei all diesen konzeptuell ebenso wie ästhetisch überzeugenden Eingriffen nur mehr wie eine Nebenaufgabe, eine Erinnerung an den ursprünglichen Auftrag. Aber sie hat doch entschiedene architektonische Konsequenzen. Das Wiederauflebenlassen der Steinfassaden machte es nötig, die Dämmebene nach innen zu legen. Alle Wände wurden mit Mineraldämmplatten aus aufgeschäumtem Kalk und Sand verkleidet und mineralisch verputzt.

Auf Dampfsperrfolien konnte komplett verzichtet werden. Die Innendämmung bedeutet für die Wirkung der Fassaden, dass auch die Fenster innen zu liegen kommen und damit nach aussen hin ihre tiefen Laibungen sichtbar belassen. Das macht die Bauten sehr trutzig und selbstbewusst.

Kratzen an den Glasbrüstungen

Hinter den alten Aussenmauern befinden sich nun Wohnungen, deren Grundriss wenige eingestellte dünne neue Wände bestimmen. Bisweilen erlauben diese ein Umlaufen um den Kern, in den sich Küche und Bad legen. Immer wieder schaffen sie sehr schmale langgezogene Räume, die den Effekt der folgenden grossen Wohnräume, die das Volumen von Fassade zu Fassade ausfüllen, geschickt steigern. Besonders eindrucksvoll ist das dort, wo diese sich vollkommen unerwartet doppelgeschossig nach oben öffnen und innerhalb der eigentlich sehr schmalen Baukörper eine plötzliche Weite bieten.

In dieser baulichen, ja handwerklichen Rückbesinnung auf den Stein und dessen Verbindung mit Sichtbeton gelingt Bartke Pedrazzini eine Architektur, die der Geschichte des Orts zu einer neuen, selbstbewussten Präsenz verhilft. Am erfrischendsten ist diese presenza del passato bezeichnenderweise dort, wo Stein und Beton sich augenscheinlich reiben, und vor allem in der Zusammenschau mit der Nachbarschaft, wenn der rohe Stein an den Glasbrüstungen der Spekula­tionsbauten zu kratzen scheint.

Der Mut zur Konfrontation von Stein und Glas macht die Häuser zu einer gebauten Architekturkritik. Das verhilft dem Projekt, dessen Nutzung es nicht wirklich sozialkritischer macht als seine Nachbarn, zu einer politischen Position und einer Dimension von Öffentlichkeit.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 10/2022 «Ticino: tendenziell anders?».

Bauherrschaft
privat

 

Architektur
Bartke Pedrazzini Architetti, Locarno

 

Ingenieure
De Giorgi, Muralto

 

Baumeister
Verzeroli Elia e figli, Ronco

 

Schreinerarbeiten
Alfa Pro, Riazzino

 

Aluminiumfenster und -türen
Maturi e Sampietro, Mezzovico

 

Holzfenster und -türen
Scerpella, Giubiasco

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