«Wir ha­ben je­de Men­ge Schaf­fens­lust. Und ein biss­chen ge­sun­de Nai­vi­tät.»

Bartke Pedrazzini Architetti und Studioser sind Teil einer neuen Generation von Tessiner Architektinnen und Architekten. Mit Umbauten in Minusio und sensiblen stadträumlichen Eingriffen in Monte hinterlassen sie eigene Spuren. Ein Gespräch über Positionen, erste Aufträge, die nonni der «Tendenza» und natürlich das territorio.

Publikationsdatum
01-04-2022

TEC21: Wir sitzen hier in der Bibliothek der Accademia in Mendrisio. Der Kontakt zu euch ist aber über die ETH Zürich entstanden. Ist das symptomatisch? Warum habt ihr nicht hier an der Accademia studiert?

Rina Rolli: Tiziano und ich haben beide in Zürich studiert. Ich erinnere mich, dass ich mal mit einem an der ETH ausgebildeten Ingenieur sprach, der zu mir meinte: Ein wahrer Architekt ist einer vom Politecnico. «L’è nai in denta a stüdià!»1

Tiziano Schürch: In der Tessiner Mentalität gilt das quasi als Initiationsritus: Man geht auf die andere Seite der Alpen und kommt erfahren zurück.

Lukas Bartke: Ich habe zunächst in Weimar studiert, und es hat mich eigentlich interessiert, in Mendrisio weiterzustudieren. Ich hatte sogar schon ein Stipendium. Aber als ich hier war, hatte ich das Gefühl, ich muss – auch nach der Kleinstadterfahrung von Weimar – mehr in die Urbanität rein und habe deswegen nach ein paar Wochen die Reissleine gezogen und bin nach Wien gegangen. Ein bisschen bereut habe ich es manchmal. Dass ich jetzt wieder im Tessin gelandet bin, habe ich Marina, etwas Glück und unseren Umbauten in Minusio zu verdanken. Das Tessin ist so voll von Kraft und interessanten Dingen, von fantastischer Architektur, von einer Landschaft, die es wirklich nicht so oft gibt.

Ist es nicht interessant, nach Mailand zu gehen?

Marina Pedrazzini: Die Schweiz bietet gerade für das Architekturstudium wirklich sehr gute und vielfältige Möglichkeiten. Daher bleibt man nach dem Schulabschluss zum Studium eher hier, anstatt eine Hochschule im Ausland zu wählen.

Tiziano Schürch: Nach Mailand zu gehen, würde für einen 18-Jährigen einen zusätzlichen Aufwand bedeuten. Man müsste schon ein ganz spezielles Interesse für Architektur mitbringen, um zu ent­scheiden: Ich gehe nach Mailand anstatt nach Zürich. In dem Alter ist es doch schon was, wenn man überhaupt eine Vorahnung davon hat, was Architektur ist.

Studioser, Zürich, Lugano (seit 2019) – Hintergrund, Entstehungsgeschichte und Projekte

Bartke Pedrazzini Architetti, Locarno (seit 2018)

 

Marina Pedrazzini, *1988 in Locarno

  • Studium der Innenarchitektur in Luzern und Lugano 2009 bis 2012, der Erneuerbaren Architektur und des Städtebaus in Valencia 2013 bis 2015
  • Mitarbeit: David Chipperfield, Studio Olafur Eliasson

 

Lukas Bartke, *1983 bei Nürnberg (D)

  • Studium in Weimar 2005 bis 2014 mit Gastsemestern in Wien und einigen Wochen in Mendrisio
  • Realisierung Wettbewerbsprojekt in Finsterwalde (D) beide seit Januar 2019 ausschliesslich selbständig tätig

 

Der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der beiden in Berlin folgte eine Zeit des Transits zwischen Berlin und Locarno, bis ausreichend Projekte im Locarnese an Land gezogen waren. Die Entwürfe entspringen aus der Diskussion, die sie vor dem Hintergrund unterschiedlicher regionaler und gestalterischer Prägung führen. Die Architekten legen grössten Wert auf eine nachhaltige, langlebige und ökologische Bauweise.

 

Zu ihrem jüngsten Projekt in Minusio: «Die Vergangenheit im Präsens»

Und wie ist es mit dem Tessin als Arbeitsort? Ist das eine Heimkehr nach der Grand Tour in den Norden?

Rina Rolli: Der Zündfunke für mich war der Zufall, dass wir den ersten Auftrag im Tessin bekommen haben. Alles was danach kam, war aber doch von unserer Faszination für diese Region inspiriert – ein territorio2, das extrem interessant ist, zugleich aber mit einem lückenhaften architektonischen Bewusstsein konfrontiert ist.

Tiziano Schürch: Wenn man als Architekt ins heimatliche Tessin zurückkehrt, drückt sich darin eine Liebe zum Tessin aus – auch wenn das bedeutet, mit einem Trauma zu leben. Man sieht ständig diese misshandelte Landschaft, Opfer wirklich gewalttätiger Ereignisse gegen das Land: Die ganze Suburbanisierung, ein völliger Mangel an Gefühl für Geschichte …

Marina Pedrazzini: … an Liebe für das territorio

Tiziano Schürch: … also habe ich mir irgendwann gesagt: Mein Interesse ist das Tessin. Denn nur hier will oder kann ich etwas unternehmen als Antwort auf all die Erfahrungen, die ich seit meiner Kindheit in mir trage.

Marina Pedrazzini: Auch wir empfinden diese Passion, dieses Feuer würde ich es sogar nennen, etwas zu tun – zu provozieren, mit den kleinen Nadelstichen, die unsere Eingriffe sein können.

Werdet ihr gehört? Wie kommt ihr zu den Aufträgen?

Marina Pedrazzini: Unsere erste Bauherrin hier ist eine Freundin von Freunden. Der Auftrag bestand zunächst nur in einer energetischen Sanierung. Vor Ort wurde dann schnell klar, dass man grundlegender eingreifen muss. Und das Aufmass offenbarte die Geschichte des Baus in den mächtigen Mauern und das Potenzial einer umfassenden Intervention. Nach anfänglichem Zögern hat die Auftrag­geberin sich dafür begeistern lassen.

Tiziano Schürch: Mir scheint, unsere beiden Fälle haben gemein, dass uns ein Auftraggeber um etwas gebeten hat, das wir dann ganz anders interpretiert haben. Mit unserem Enthusiasmus und einer Willenskraft, die gewiss viel damit zu tun hat, dass wir am Anfang stehen. Einen kleinen Studienauftrag verwandelt man in ein Projekt von landschaftsplanerischen Ausmassen.

Rina Rolli: Ich glaube, wir profitieren sehr davon, dass wir so jung sind. Wir haben jede Menge Schaffenslust. Und ein bisschen gesunde Naivität.

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Spielen die alten Herren der «Tendenza»3 – Flora Ruchat-Roncati war ja eigentlich immer die einzige Frau, die da genannt wurde – und ihr Denken noch eine Rolle für euch?

Tiziano Schürch: Ich denke, wir alle beziehen uns doch nicht allein auf die kultivierte Architektur der «Tendenza», sondern auch und vor allem auf das, was darum herum steht. Die Masse des Gebauten ist von ganz anderen Faktoren und Phänomenen ab­hängig. Und die sind für uns extrem wichtig. Denn daraus ergeben sich Problematiken, die sich in Potenziale verwandeln lassen. Das motiviert uns viel mehr als die glanzvollen Vorbildbauten.

Warum baut ihr weiterhin Einfamilienhäuser?

Lukas Bartke: Wir haben ein baulich mehrfach erweitertes Mietshaus halbiert und es so auf sein ursprüngliches Volumen zurückgebaut. Und beim Bau nebenan hat die Transformation des rustico dessen Erhalt und damit die Bewahrung des patrimonio ermöglicht. Die Nutzung des einstigen Stalls als Einfamilienhaus war aus unserer Sicht in diesem Fall folgerichtig.

Marina Pedrazzini: Wen kümmerts, dass unser Projekt in Minusio ein privates Wohnhaus ist! Es eröffnet doch vielmehr einen kritischen Dialog mit dem Kontext. Diesen rustico hat nie jemand angeschaut. Und nun halten die Leute an und sprechen uns an. So stellen wir einen Dialog her. Und ist es nicht das, was wir machen wollen? Die Leute zum Nachdenken bringen. Denn unser territorio retten – das können wir nicht mehr.

Wir finden es interessant, dass ihr alle mit Bestand umgeht. Würdet ihr auch einen Neubau machen?

Tiziano Schürch: Weiterbauen anstatt neu bauen, das ist gerade überall angesagt. Aber im Tessin ist so wenig Historisches übrig, dass man einen ganz anderen Ausgangspunkt hat. Ein Bau, der anderswo sekundär wäre, wird in Lugano zu einem Objekt von herausragender Bedeutung.

Marina Pedrazzini: In der Vergangenheit wurden so viele Bauten von historischem Wert abgerissen, dass die heutige Tendenz ist, alles unter Schutz zu stellen. Das beschränkt die Freiheit zu baulichen Eingriffen enorm. Die könnten manchmal interessanter oder radikaler ausfallen, aber man
darf nichts mehr berühren.

Tiziano Schürch: Aber ich glaube, dass man angesichts des spärlichen identitätsstiftenden Erbes schon sehr gut abwägen muss, ob man etwas ab­reissen will.

Uns würde die Frage der Inspiration und der Ein­flüsse interessieren. Hat das Gelbe Haus von Flims für euch, Marina und Lukas, eine Rolle gespielt? Als Architekturkritiker denkt man unweigerlich daran, wenn man euer Haus sieht. Oder bringst du, Tiziano, etwas aus Barcelona mit?

Rina Rolli: Ich glaube, in einer globalisierten Welt wird der Kontext immer wichtiger und ist für uns auf jeden Fall immer der Ausgangspunkt. Da kommen nicht zuerst Referenzen an andere. Die Analyse von diesem Kontext ergibt den grössten Teil dessen, was wir dann in unser Projekt integrieren und weiterentwickeln. In den Details kommen sicher noch Einflüsse vom Studium vor und von dort, wo wir unabhängig voneinander arbeiten, also ich bei Jan de Vylder an der ETH, und vielleicht mit Tizianos Arbeit an der Uni in Barcelona auch Einflüsse von dort. Aber für uns ist die wichtigste Referenz der Kontext.

Lukas Bartke: Dem kann ich mich nur anschliessen. Natürlich kennen wir das Gelbe Haus und schätzen den Architekten. Aber die Lösung bei unserem Projekt hat sich ergeben durch die Probleme, mit denen wir uns vor Ort konfrontiert sahen. Nach Freilegung der Fassade wurden Risse und ­statische Prob­leme sichtbar, die wir mithilfe der neu betonierten Fensterlaibungen lösen konnten. Das war entscheidend.

Auf was für eine mediale Aufmerksamkeit, gerade auch nicht fachliche, seid ihr mit euren Projekten gestossen?

Rina Rolli: Im Fall von Monte haben wir nicht mit einer so grossen Resonanz gerechnet, da es sich um ein kleines Projekt für ein Dorf mit 100 Einwohnern handelt. Das Interesse der Lokalpresse, des Radios und einiger Architekturzeitschriften hat wahrscheinlich dazu beigetragen, das Vertrauen des Auftraggebers in den Vorschlag und in unsere Arbeit zu stärken. Diese Aufmerksamkeit für das Projekt hat zum Beispiel andere Gemeinden, darunter auch Breggia, ermutigt, sich für die mögliche Durchführung ähnlicher Projekte zu interessieren.

In der Zwischenzeit wurde das Projekt von Monte vom Bund als Vorhaben für nachhaltige Raumentwicklung anerkannt, vielleicht weil wir eine Nische gefunden haben, in die bisher nur wenige vorgestossen sind. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir uns mit einem Thema befasst haben, dem des Altwerdens, das für viele Architekten nicht als interessant galt, aber im Tessin eine sehr wichtige Realität darstellt. Denn das Tessin ist schliesslich – wie soll ich sagen …

alle: … das Altersheim der Schweiz! (lachen)

Rina Rolli: So wollte ich das natürlich nicht sagen.

Habt ihr eine Vision vom Tessin in 20 Jahren?

Rina Rolli: Ich wünsche mir, dass die Architektur, die im Tessin gebaut wird, die Betrachter und die Bewohner stimuliert. Es sollen Bauten sein, die eine identitätsstiftende Wirkung haben – die grosse Masse dieser Bauten, auch die Spekulationsbauten, nicht nur einzelne herausragende Exemplare. Wie oft sagen wir: Mir gefällt oder missfällt dieses oder jenes Haus von Botta oder von wem auch immer – aber das ist Meckern auf sehr hohem Niveau. Mir ist es wichtiger, etwas zu sehen, das mich anregt und das dem Tessin Charakter verleiht.

Tiziano Schürch: Ich glaube, dass hier im Tessin – nicht nur in der Architektur, sondern generell – das Wichtigste für die Zukunft ist, dass wir eine gemeinsame Identität finden und definieren.

Kann man denn das Tessin überhaupt als einen Ort bezeichnen?

Tiziano Schürch: Früher teilte sich das Tessin in Sopraceneri und Sottoceneri, auch wegen unterschiedlicher Baukulturen, die auf der Verfügbarkeit von Materialien beruhten. Heute ist die Trennung viel­leicht eher die in Ebenen und Täler. Also zwei sich gegenüberstehende landschaftliche Identitäten. Die erstere, charakterisiert durch Einfamilienhäuschen mit einer anderthalb Meter hohen Einfassungsmauer aus bewehrtem Beton, die das Gebiet von Chiasso bis nach Airolo prägen, oder zumindest bis Biasca. Und dann die Täler mit ihren Dorfzentren und dem Ausgreifen der Architektur in die Umgebung. Das ist die neue Trennung von Landschaften und Identitäten im Tessin.

Wenn es ein der Generation «Tendenza» gemeinsames Material gab, dann war das der Beton. Alle eure Projekte haben mit Stein zu tun. Spielt für euch Stein zukünftig eine Rolle?

Lukas Bartke: Ich glaube schon, dass im Stein ein Wert liegt, bei unserem Projekt natürlich ein grosser Wert, weil wir versucht haben, ihn wiederzuverwenden. Es gab wirklich einen Arbeiter, der hat drei Wochen lang nur die Steine zerhauen und sie mit der Hand zu neuen Formen zusammengesetzt. Und jeder Maurer hat seine eigene Sprache und hat eine eigene Mauer gemacht, die dann ein bisschen anders aussieht. Aber in unseren Umbauten spielt Beton mit seinen reichhaltigen Möglichkeiten und Schattierungen eine ähnlich grosse Rolle wie Stein. Er tritt an vielen Stellen als moderne Ergänzung sichtbar in Erscheinung und hält alles zusammen. Wenn man heute mit Stein baut, hat das nichts mit dem Steinbau von einst zu tun, zumal er ja ohnehin meist nur als Verblendung und nicht tragend verwendet wird. Und die massiven, tragenden Grenzmauern der Gemeinden werden hier dann mit den industriellen Blöcken aus dem Valle Maggia errichtet. Das ist kein schöner Stein, und so etwas hat nichts mit Lokalität zu tun. Stein an sich ist kein Allheilmittel. Aber er hat ein grosses Poten­zial, das die «Tendenza» eher vernachlässigt hat.

Rina Rolli: Für die gegenwärtige Bedeutung des Steins im Tessin finde ich eine Geschichte ziemlich vielsagend, die wir erlebt haben, als wir mit dem Steinbruch von Arzo zu tun hatten. Von dort kommt eine der wenigen Marmorsorten, die es überhaupt in der Schweiz gibt. Und den Betreibern des Steinbruchs gelingt es nicht, den Marmor zu verkaufen. Sie bieten ihn für 120 Franken den Quadratmeter an, unglaublich wenig also – denn man lässt lieber Stein aus China, aus Indien, aus Südamerika kommen, anstatt lokales Material zu nutzen, das nicht mehr als im­portiertes kostet. Wenn es gelingt, das wieder wertzuschätzen, was wir fünf Meter von unserer Haustür liegen haben, dann, würde ich sagen, kann der Stein eine Zukunft darstellen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 10/2022 «Ticino: tendenziell anders?».

Das Interview fand auf Deutsch und Italienisch statt.

Wir danken der Bibliothek der Accademia di Architettura in Mendrisio herzlich für die Gastfreundschaft. Dank auch an Fabienne Girsberger, Studentin an der ETH Zürich, für ihre Unterstützung bei der Recherche nach jungen Tessiner Büros.

Anmerkungen

 

1 Dialekt für: È andata indentro a studiare, d.h.: Sie ist in die Deutschschweiz studieren gegangen.

 

2 Zum Begriff des territorio vgl. «Abdankung der Tendenza»

 

3 Der Begriff «Tendenza» verweist auf die epochemachende Ausstellung «Tendenzen – Neuere Architektur im Tessin» des gta Zürich 1975. Sie zeigte die Arbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre von 20 ausgewählten Architekten des Tessins, darunter Luigi Snozzi, Aurelio Galfetti, Mario Botta und Flora Ruchat-Roncati. Durch die Ausstellung gelangten die Protagonisten zu internationaler Bekanntheit.

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