Erl­kö­ni­ge, Sy­ste­m­kü­chen und ein Mie­ter­ca­fé

Ein Investor, der 40 Jahre voraus denkt. Ein Architekt, der fast keine Spuren hinterlässt. Und ein Bauleiter, der niemandem ­Sonderschichten aufbrummt. Die Sanierung der Aarauer Telli-Hochhäuser ist ein Lehrstück für diszipliniertes Bauen. Die Bewohnerschaft ist dankbar.

Data di pubblicazione
02-12-2021

Das Telli-Quartier in Aarau ist so unübersehbar wie ungewöhnlich. Trotzdem ist einiges nicht ganz so, wie es wirkt: Zwar steht nirgends sonst in der nördlichen und östlichen Schweiz eine derart grosse Siedlung, die im Bauboom der 1970-Jahre entstand. Doch in Wirklichkeit war sie erst zwei Jahrzehnte später fertig; die Verzögerung blieb dem Originalentwurf weitestgehend treu.

Bis heute erstaunen die daraus realisierten Dimensionen. Umso mehr lobt die Fachwelt, wie geschickt das Ensemble (Marti + Kast Architekten) eingebettet ist. Das Telli-Quartier ist in einen künstlich gestalteten Park eingewachsen, der nahtlos in den natürlichen Auenwald entlang der Aare übergeht.

Auch die Qualität der Grossbauten, in denen etwa 4000 Menschen leben, ist wohnlicher als gemeinhin angenommen: Die Hauszeilen halten reichlich Abstand zueinander und versprühen mehr Charme als vergleichbare Betonarchitektur anderswo. Der Standort ist gut zehn Gehminuten vom Aarauer Stadtzentrum entfernt, bietet aber selbst eine vielfältige Versorgungs- und Gemeinschaftsinfrastruktur. Was hier vor über zwei Generationen entworfen wurde, wird auch ak­tuellen Lebens- und Wohnansprüchen gerecht, ist Architekt Markus Peter überzeugt. Seine Meinung fusst auf Einsichten und Eindrücken, die er aus der Planung des Umbaus von zwei Telli-Hochhäusern gewann.

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Was also soll die laufende Erneuerung verbessern? Oder anders gefragt: Wie viel muss dafür verändert werden? Tatsächlich will die AXA-Anlagestiftung, Besitzerin der Hauszeilen B und C mitten im Quartier, Wesentliches bewahren. «Zu respektieren sind der einheitliche Charakter und die Bewohner», präzisiert ­Architekt Peter die Sanierungsziele. Obwohl es einiges an der Aussenhülle auszutauschen gilt, werden die Bauarbeiten im bewohnten Zustand durchgeführt.

Betonbau vom Zimmermann

In diesem Punkt deckt sich der Zustand mit der Vermutung: Die Telli-Granden sind typische Vertreter für das Bauen vor der Erdölkrise. Ihre Machart veranschaulicht die Bevorzugung des rationellen Bauens und eine Vernachlässigung der Energieeffizienz. Zwar wurde hier nicht die damals beliebte Plattenbauweise ein weiteres Mal kopiert, vielmehr adaptierte ein Schreiner und Küchenbauer das massive Schottenbausystem für seinen Zweck: Der Investor Josef Wernle wollte sich mit dem Bau des Quartiers als Generalunternehmer etablieren und steuerte seinerseits Systemküchen und Bäder aus eigener Vorfabrikation bei.

Dazu entwarf er einen offenen Wohnungstyp, der dutzendfach aneinandergereiht und übereinandergestapelt jeweils eine abgestufte Hauszeile ergab. Die Bauserie erhielt einen eigenen Produktnamen, doch ein Markterfolg blieb dem «Rastel-Granit» verwehrt. Der Investor ging vorzeitig in Konkurs, weshalb die damals schon beteiligte Winterthur-Versicherung die Vollendung übernahm, fast ohne vom Originalplan abzuweichen.

Mittlerweile sind die Fassaden aber zur Last geworden. Leichtgewichtige Holzbauelemente trennen die Balkonreihen vom Schottenbau – im Westen grenzen die Wohnzimmer und im Osten die Schlafzimmer daran. Die nicht tragenden Aussenwände sind nur marginal gedämmt. Gemessen an den aktuellen ­Anforderungen ist der Wärmeschutz vier bis fünf Mal schlechter als bei einem Neubau von heute. Ein dunkelrotes «G» ergab die bauphysikalische Ist-Analyse gemäss dem Gebäudeenergieausweis GEAK, bestätigt Attila Gygax, Bauingenieur bei Gartenmann Engineering. Doch wie lässt sich eine mangelhafte Aussen­hülle verbessern, wenn deren Architektur ­möglichst nicht verändert werden darf?

Austausch der Balkone

Das Telli-Quartier ist kein geschütztes Baudenkmal, aber für die Stadt Aarau zumindest so wertvoll, dass der einheitliche Ausdruck zu erhalten ist. Insofern hält sich das Sanierungskonzept zurück: Die Längsfassaden vorn und hinten werden fast vollständig ersetzt, aber mit neuen Bauteilen in praktisch identischer Form, Materialisierung und Farbe. An der bereits sanierten Hauszeile B ist erkennbar, wie gering die Unterschiede zum Originalausdruck sind.

Zum Beispiel an der nach Westen orientierten Fassade: Die neuen Balkone sind um ein Drittel, nämlich 90 cm, tiefer. Ihre Brüstungen wurden aus Sicherheitsgründen leicht erhöht, sind aber weiterhin verglast. Wie zuvor besteht die Abtrennung zur Wohnung aus Holz, wobei nur mehr ein Rahmen für die raumhohen Fenster und Glastüren benötigt wird. Dadurch werden sowohl die natürliche Belichtung als auch die Dämmwirkung, dank einer Dreifachverglasung, optimiert.

Eine weitere Kältebrücke wurde beim Austausch der Balkonplatten eliminiert: Deren Verankerung am Schottenbau ist neuerdings thermisch abgedichtet, um den Wärmeabfluss zu stoppen. Auf der Ostseite hätte dieselbe bauliche Dämmmassnahme jedoch sichtbare Spuren hinterlassen, weshalb darauf verzichtet wurde. Die Aussenwände werden dennoch wie auf der Gegenseite ersetzt, mit fast vollständig verglasten und besser abgedichteten Leichtbauelementen aus Holz.

Vom roten G zum hellgrünen C

An den Treppentürmen, die die Ostseiten des Ensem­bles vertikal gliedern, nahm man strukturelle Verbesserungen für die Erdbebensicherheit und den Brandschutz vor. Die energetische Optimierung mithilfe einer nachträglichen Aussenwärmedämmung wurde dagegen aus architektonischen Gründen verworfen. Da diese Erschliessungszonen nicht beheizt sind, ist das für die Energieeffizienz gut verkraftbar, bestätigt Bauphysiker Gygax. Auch so wird ein hellgrünes C auf der ­GEAK-Skala erreicht. Prognostiziert wird, dass der Heizwärmebedarf der Telli-Hochhäuser um bis zu 70 % sinkt. Und damit der Luftwechsel auch bei dichterer Hülle funktioniert, erhalten die ­Wohnungen erstmals ein erweitertes Abluftsystem.

Der Clou dieser Sanierung ist, sich auf sorg­fältige Eingriffe an der Substanz zu beschränken. Den Platz für die zusätzliche Haustechnik fanden die Planer ebenfalls im Aussenbereich. Durch die ockerfarbenen Einbauschränke, die die Balkone unterteilen, führen neuerdings vertikale Steigschächte. Sie sammeln die Abluft aus den gefangenen Badezimmern und lassen diese über das Dach entweichen.

Anfänglich war eine Wärmerückgewinnung vorgesehen. Gemäss Gygax wurde aber via Ökobilanzierung ermittelt, dass die Gesamtenergieeffizienz dadurch nicht besser geworden wäre. Denn parallel zur Telli-Sanierung wird auch die ­Energieversorgung neu organisiert: Das Stadtwerk kappt den bisherigen Gasanschluss und liefert als ­Heizersatz klimafreundliche Wärme, deren Ursprungsenergie dem Grundwasser entnommen wird.

Alles zusammen, die energetische Erneuerung der Gebäudehülle sowie der Wechsel zu erneuerbarer Energie, entlastet die Betriebsbilanz der Siedlung um 1000 t CO2 pro Jahr. Allerdings will die Eigentümerin mit dem Umbau der Hauszeilen B und C nicht nur Energie sparen, sondern auch wirtschaftliche und soziale Qualitäten gemäss dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) verbessern.

Der Bestand bietet gute Voraussetzungen dafür; die grüne Umgebung, das breite Versorgungsangebot oder die urbane Dichte wirken bereits zeitgemäss. Und auch am bestehenden Verkehrskonzept muss nichts verändert werden: Das Auto – vor zwei Generationen ein ebenso wichtiges Wachstumssymbol wie die Grosssiedlung an sich – wurde von Anfang an auf Verbindungen und Abstellplätze im Untergrund verbannt.

Ohne Immissionen geht es nicht

Rund 100 Millionen Franken investiert die AXA-Stiftung, um die beiden Hauszeilen mit insgesamt 581 Wohnungen für die nächsten 40 Jahre fit zu machen. Bei der Bestellung einer Sanierungsstudie versprach die Investorin zudem, niemandem Wohnraum wegnehmen zu wollen. Unter den Verbesserungsoptionen, die im bewohnten Zustand umsetzbar sind, hatten sich Meili, Peter & Partner Architekten mit weiteren Disziplinierungsfaktoren auseinanderzusetzen, unter anderem mit der eigentümlichen Bauweise und der ausgereizten Tragstruktur dieser Grosssiedlung.

Mit Ausnahme der Attikawohnungen durfte an den Grundrissen nichts verändert werden. Die Raumhöhen sind mit 2.38 m zwar bescheiden, ihnen stehen jedoch gute Raumproportionen und viel Tageslicht gegenüber, weshalb der Gebrauchswert der Wohnungen generell geschätzt wird. Die bescheidenen Wohnflächen ermöglichen derweil einen günstigen Mietzins, was auch erhalten bleiben soll: Die Preise für die Mieter «werden nur moderat steigen», sagt AXA-Sprecher Urban Henzirohs.

Ein derart sanfter, sozialverträglicher Eingriff ist an sich selten. Gemessen an der Grösse und Beliebtheit des Telli-Quartiers wäre ein anderes Vorgehen aber schnell auf Unverständnis gestossen. Die besondere Rücksichtnahme auf die Mieterschaft prägt jedoch neben der Sanierungstiefe auch den Arbeitstakt. In der kalten Zeit sind die Arbeiten weitgehend eingestellt; nur von Frühjahr bis Spätsommer können Balkone und Fassadenelemente ausgetauscht werden.

Wer sich darüber hinaus über Lärm und Staub, provisorische Zugänge oder andere Unannehmlichkeiten beschweren will, findet das ganze Jahr hindurch ein offenes Ohr. Vor Ort ist ein Betreuungsteam ansprechbar, das bei Problemen sofort aktiv wird. «In einem Fall konnte eine ernsthaft angedrohte Lärmklage aus der Bewohnerschaft verhindert werden», sagt Bastian Moser, Mitinhaber der Siedlungsberatungsfirma Itoba, die sich um die Betreuung kümmert. Auch weniger drastisch vorgebrachte Beschwerden müssen schnell und direkt bereinigt werden.

Wichtig ist: «Jedes Anliegen ist ernst gemeint», ergänzt Moser. Sehr häufig wird frühzeitig kommuniziert, was die Bewohner schätzen. «Wie zum Beispiel eine Lärmvorhersage für jede Woche.»

Mitsprache und ein Zusatzbudget

Los ging es weniger organisiert: Kaum halten die ­Bauarbeiten begonnen, meldeten sich viele Bewohnende trotz vorgängiger schriftlicher Informationen. Um einen persönlicheren Draht zu etablieren, wurden alsbald Treffen im Tellicafé organisiert. «Dienstags und donnerstags waren die Bewohner eingeladen, ihre Sorgen loszuwerden», bestätigt Moser. So wurde der Bedarf nach interner Nachbarschaftshilfe erkannt: Sind die Liftanlagen für einige Tage ausser Betrieb, können Personen um Hilfe bitten. Freiwillige aus dem Quartier erledigen beispielsweise deren Einkauf inklusive Hochschleppen schwerer Taschen.

Spontan wurden auch Mieter vorstellig, die sich vom Baulärm im Homeoffice gestört fühlten. Ihnen wurden leer stehende Wohnungen im Nachbarhaus zur Verfügung gestellt, die im Voraus etwa für schichtarbeitende Mieter reserviert waren. Die Verwaltung begann ein Jahr vor Baubeginn, freiwillige Leerstände nicht wieder zu besetzen. 

Nicht erst die Sanierung hat den Quartieralltag in der Telli soziokulturell belebt: Ein Gemeinschaftszentrum organisiert seit eh und je Anlässe für Klein und Gross. Die «Telli-Post» berichtet in einer Auflage von 2800 Exemplaren über Politik, Kultur und die Nachbarschaft. Und ein Kleintierzoo lockte Gäste auch von aus­serhalb ins Quartier. Weil dieser im Rahmen der Sanierung aufgehoben und umgestaltet werden sollte, brachten Bewohnerinnen und Bewohner spontan eigene Ideen ein. Das Betreuungsteam bündelt diese und moderiert den Austausch mit den Landschaftsarchitekten im Planungsteam. Ein Zusatzbudget und ein partizipatives Verfahren sollen dafür sorgen, dass der Aussenraum den Bedürfnissen vor Ort noch gerechter werden kann als bisher. Auch der stillgelegte Tennisplatz wird reaktiviert, weil eine Gruppe vor Ort den künftigen Betrieb selbst organisieren will.

Das Engagement der Investorin zielt gemäss Henzirohs darauf ab, die gewachsene Sozialstruktur zu erhalten. Darüber hinaus ergeben sich vorteilhafte Nebeneffekte: Je positiver ein Standort wahrgenommen wird, umso einfacher wird die künftige Mietersuche – falls es überhaupt freie Wohnungen gibt. Tatsächlich werden die Wartelisten für sanierte Wohnungen länger und länger. Und «Tellianer», die schon länger als 40 Jahre hier leben, sind keine Seltenheit.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 39/2021 «Brutalismus, sanft saniert».

Bauherrschaft: AXA-Anlagestiftung, Zürich

 

Architektur: Meili, Peter & Partner ­Architekten, Zürich

 

Baumanagement: Drees & Sommer, Zürich

 

Tragwerksplanung: Nänny + Partner, St. Gallen

 

HLKS-Planung: EBP Schweiz, Zürich

 

Energie, Bauphysik: Gartenmann Engineering, Luzern

 

Brandschutz: HKG Consulting, Aarau

 

Landschaftsarchitektur: Müller Illien Landschafts­architekten, Zürich

 

Quartiermanagement: Itoba Siedlungsidentität, Baden

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