Im Sch­melz­tie­gel von Raum, Ver­kehr und Men­sch

Das Auto und der Verkehrswegebau lösen beim Menschen wechselhafte Emotionen aus. Ein Rückblick auf die Entwicklung des Strassenwesens gibt Aufschluss über unsere Beziehung zum Auto und zur Strasse sowie die Ansprüche, die wir heute an dieses System stellen.

Data di pubblicazione
26-11-2021

Die Siedlungs- und die Verkehrsentwicklung sind so etwas wie ein altes Ehepaar, das sich bestens kennt und immer wieder gegenseitig zu formen versucht. Bis sie sich schliesslich bei der Inkraftsetzung des Raumplanungsgesetzes 1979 öffentlich zu ihrer Beziehung bekannten, hatten sie bereits viele Kinder zur Welt gebracht. Über die Jahrhunderte wuchs die Familie an, die Kinder ­gingen ihrerseits Beziehungen ein und erweiterten so den sozialen und wirtschaftlichen Wirkungsraum.

Vor einigen Jahrzehnten wuchsen innerhalb dieses Rahmens Agglomerationen heran, die zwar eindeutig als Nachkommen der beiden Partner gelten, sich aber derart dynamisch entwickelten, dass die ­Verwandtschaft und Kausalitäten nur noch schwer rekonstruierbar wurden. Ab dann staunten die beiden Partner nur noch über das, was aus ihrer Verbindung entstand.

Wir Menschen sind seit jeher Teil dieses Wirkungsraums und pflegen unsererseits eine Beziehung dazu. Wir nehmen davon Gebrauch und geben ihm damit guten Grund für weiteres Wachstum. Wir schreiben darin eigene Geschichten, die manchmal im Erfolg ­enden, und solche, deren Erfolg uns selbst überrennt und uns mit der Zeit kritisch stimmt. Beispielsweise die folgende des Automobils und seiner Strassen.

Im Rausch der Pferdestärken

Während der Anfang dieser Geschichte nicht auf ein bestimmtes Jahr rückverfolgbar ist, ist zumindest klar, ab wann sie für die Gesellschaft interessant wurde. Die motorisierten Fahrzeuge vermochten hierzulande nämlich erst etwa um 1920 kostenmässig überhaupt mit Pferd, Kutsche und Fuhrwerk zu konkurrenzieren.1 Zudem liessen erst dann die fortschreitenden Erfindungen Geschwindigkeiten zu, die mit herkömmlichen Pferdestärken nicht mehr erreicht werden konnten. Durch diese Weiterentwicklung schufen sich die ersten Personenkraftwagen aber auch den Ruf eines Vergnügungs- und Selbstbildvehikels, der ihnen bis heute anhängt.

Bis zu jener Zeit waren auch kaum Hierarchien unter den einzelnen Verkehrsmitteln im Strassenraum ersichtlich – die Freiflächen zwischen den Parzellen waren ein öffentlicher Raum, in dem sich Fussgänger, Radfahrer und Automobilisten auf vergleichbarem ­Geschwindigkeitsniveau in einem mehr oder weniger organisierten Chaos begegneten. Wohlgemerkt waren dabei die Fussgänger und Radfahrer deutlich in der Überzahl.

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Das änderte sich erst, als sich die Verkehrsgeschwindigkeiten der Autos erneut erhöhten und die Verkehrsplanung – als neu geschaffene Disziplin – dem motorisierten Verkehrsmittel das grösste Wachstums­potenzial zuschrieb. Diese exklusive Ausrichtung auf ein bestimmtes Verkehrsmittel begann damit, dass die ersten innerstädtischen Strassen mit autogerechten Belägen ausgestattet wurden, und gipfelte im Nationalstrassenbau der 1960er-Jahre, der mit seinen schonungslosen Linienführungsplänen bis in die Stadtzent­ren vordringen wollte und es mancherorts auch tat.

Die Strasse als Nährboden für Wachstum

Letztlich waren es wohl auch die Nationalstrassen, die die ersten flächendeckenden Auswirkungen auf die ­hiesigen Siedlungsstrukturen ausübten. Während der Bau des Eisenbahnnetzes die Schweiz noch vorwiegend punktuell erschloss, verbesserte sich durch die neue Strasseninfrastruktur und die gleichzeitige Massenmotorisierung der Gesellschaft zwischen 1950 und 1970 die landesweite Erreichbarkeit bedeutend. Die damaligen Ziele des Nationalstrassenbaus umfassten unter anderem die Teilhabe strukturschwacher Regionen am Wirtschaftswachstum.

Paradoxerweise führte die neue Verkehrsinfrastruktur in abgelegenen Gebieten aber eher zu einer Bevölkerungsabwanderung, die bis heute anhält. In Alpentälern wie beispielsweise dem Rheinwald kurbelte der Nationalstrassenbau zwar die Siedlungsentwicklung und den Tourismus an, hatte über die Jahre aber zugleich eher negative Auswirkungen auf die Bevölkerungs­statistik und brachte hauptsächlich Transitverkehr.

Die Schweiz befand sich somit an einem Punkt, an dem die räumlichen Distanzen keine Hürde mehr darstellten, das Automobil und die dafür gebauten Verkehrswege als grosse Leistung des technischen Fortschritts gefeiert wurden, die Fahrzeuge auch für breite Schichten der Bevölkerung erschwinglich und erstrebenswert waren und das damit verbundene Wachstum grenzenlos schien. Kurzum: Die Schweiz hatte das Auto lieb gewonnen. Es ermöglichte individuelle Familienreisen, kleinere Warentransporte, brachte Touristen in alle erdenklichen Regionen der Schweiz und war Sinnbild für eine selbstbestimmte Mobilität.

Renaissance der Bahn

Zu diesem Zeitpunkt der Automobilgeschichte befinden wir uns allerdings schon beinahe auf dem Höhepunkt des Erfolgs. In den 1960er- und 1970er-Jahren kamen zwar noch mehrere hundert Nationalstrassenkilometer zum Netz hinzu, der grosse Rückschlag folgte jedoch mit der Ölkrise im Jahr 1973 auf dem Fuss. Sie weckte erstmals Misstrauen in die Verfügbarkeit von Treibstoff und zeichnete Grenzen des Wachstums ab; zugleich schlug die Geburtsstunde des Umweltschutzes. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch im benachbarten Ausland regte sich zunehmend Widerstand gegen Strassenbauvorhaben. Die Umweltwende trieb sodann auch die Gesetzgebung an, und mit dem Umweltschutzgesetz von 1983 wurde eine bedeutsame Grundlage für Einsprachen gegen Verkehrsprojekte geschaffen.

Etwa zeitgleich mit der Ölkrise stellten sich auch zunehmend Fragen bezüglich der Sinnhaftigkeit einer rein regionalpolitisch geprägten Planung der Nationalstrassen und der räumlichen Effekte von Verkehrsin­frastrukturen.2

All diese Entwicklungen liessen einen alten Verwandten der Verkehrsentwicklung neu aufblühen. Die Bahn, zu diesem Zeitpunkt schon längst fast vollständig elektrifiziert, gewann wieder an Terrain. Fortan wurde sie mit finanziellen Mitteln alimentiert, um im internationalen (NEAT), nationalen (Bahn 2000) und regionalen Verkehr (S-Bahn Zürich) nach langer Zeit wieder eine tragende Rolle zu übernehmen. Sie brachte den Taktfahrplan und damit einen Ausbau des gesamten öffentlichen Verkehrs.

So gelang es, die durch die Massenmotorisierung der letzten Jahrzehnte überfüllten Zentren und Agglomerationen sowie die durch den Schwerverkehr zunehmend beanspruchten Nationalstrassen zu entlasten. Per Bahn brachten neu das Pendeln aus der Agglomeration in die Zentren und eine Reise beispielsweise von Zürich nach Bern gegenüber der Reise mit dem Auto nicht nur umweltbezogene, sondern auch zeitliche ­Vorteile. Ein grosser Wurf, der mit zusätzlichen Strasseninfrastrukturen nicht auch nur ansatzweise hätte gelingen können – denn meist dienten Investitionen in die Strasse höchstens noch einer Engpassbeseitigung und nicht mehr einer Erhöhung der Erreichbarkeiten.

Neues Kapitel in der Geschichte des Autos?

Nun könnte man meinen, die Buchdeckel unserer Geschichte des Automobils und seiner Strassen begännen sich allmählich zu schliessen. Stattdessen greift sie aber ein altes Kapitel wieder auf und spaltet die Bevölkerung. Während sich die Bahn – mittlerweile neben dem Fahrrad – zum Wahlvehikel der umwelt- und zeitbewussten Reisenden mauserte, erlitt das Auto nach seinem ökologischen auch noch einen gesellschaftlichen Imageschaden. Sowohl das Auto wie auch die Bahn nahmen politische Couleur an.

Besonders tragisch für das Auto in dieser Geschichte ist, dass seine Nutzenden den Grossteil der verursachten Gesamtkosten (Infrastruktur-, Verkehrsmittel-, Unfall- sowie Umwelt- und Gesundheitskosten) selbst tragen, während es bei der Bahn nicht einmal die Hälfte ist.3 Würde nicht doch noch vielerorts in die Beseitigung von Engpässen auf der Strasse investiert, könnte man meinen, die Politik hätte den Strassenverkehr ­aufgegeben.

Wie also weiter mit dem Auto – sind wir auf dieses Fahrzeug, das unsere Vorväter mit Stolz jeden Sonntag spazieren fuhren, das auch mithalf, unsere Mütter zu emanzipieren, und uns selbst gelegentlich doch noch gute Dienste leistet, überhaupt noch angewiesen? Zumindest die Automobilindustrie meint: ja! Und sie setzt dabei auf den alten Elektrifizierungs-Trick, der vor rund vierzig Jahren schon die Bahn reanimierte. Der grosse Unterschied besteht allerdings darin, dass eine Elektrifizierung allein das Strassenverkehrs­aufkommen nicht mindert und nicht für alle vier- oder mehrrädrigen Fahrzeuge gleich schnell vorangeht.

Der Umstieg auf den Elektroantrieb bessert bloss das ökologische Image wieder auf. Und auch die Bemühungen der Verkehrsplanung, die Strassen an Orten, wo der politische Wille und die finanziellen Mittel vorhanden sind, um die Ortschaften zu leiten oder tiefer zu legen, lösen verkehrliche Kapazitäts- und Belastungsprobleme lediglich bedingt. Sie verbannen die Fahrzeuge nur aus den Augen der verkehrs- und lärmgeplagten Betroffenen oder grundsätzlichen Kritikern. Ein Kuhhandel, bei dem die Verkehrsentwicklung der Siedlungsentwicklung nach langem Nehmen wieder etwas zurückgibt.

Problem Schwerverkehr

Es wäre jedoch vermessen, für die heutige Misere des Strassenverkehrs einzig das Auto verantwortlich zu machen. Vielmehr ist es der Schwerverkehr, der sich, anders als einst geplant, über die Jahre nicht so recht von der Strasse auf die Schiene verlagern liess. Trotz zahlreicher verkehrspolitischer Massnahmen (NEAT, LSVA, Vier-Meter-Korridor) gelang es bis zwei Jahre nach Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels nicht, die alpenquerenden Lastwagenfahrten auf das festgelegte Ausmass (650 000 pro Jahr) zu reduzieren. Im Jahr 2020 fuhren immer noch 863 000 Lastwagen durch die Alpen. So ist es meistens der Schwerverkehr, der in lärmgeplagten Gemeinden für den grössten Leidensdruck sorgt. Er ist es auch, der die Strasseninfrastruktur baulich am stärksten abnutzt. Besonders Randregionen, die auch heute noch mit dem Individualverkehr besser erschlossen sind als mit den öffent­lichen Verkehrsmitteln und per se keine Vorbehalte gegenüber der Strasse hegen, ärgern sich über den durchfahrenden Schwerverkehr.

Solche und ähnliche Probleme sind dafür verantwortlich, dass vielerorts rein zustandsbedingt notwendige Erhaltungsprojekte an der Strasseninfrastruktur zu politischen Diskussionen führen. Dabei wird nicht der bauliche Erhaltungsbedarf infrage gestellt, sondern die Zweckbestimmung und Linienführung der Verkehrs­anlagen. Betroffene Regionen nutzen so die Gelegenheit, um im Zuge eigentlich unbestrittener Projekte ihre ­Bedürfnisse nach einer Verlagerung oder Beruhigung des Verkehrs einzubringen.

Die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber dem Auto ist aktuell auf einem Tiefpunkt und betrifft längst nicht mehr bloss städtische Regionen. Das Auto kämpft um seinen Ruf und hat mit dem Schwerverkehr den Gegner in den eigenen Reihen. In diesem düsteren Lagebericht bleibt dem motorisierten Individualverkehr eigentlich nur noch die Hoffnung, dass dereinst eine weitgehende Umstellung auf alternative Antriebe und eine stärkere Verlagerung des Warentransports von der Strasse auf die Schiene die Beziehung zwischen Menschen und Strassenverkehr wieder verbessert und den über 800 km2 an versiegelten Strassenflächen weiterhin eine akzeptierte Daseinsberechtigung geben. Freilich nicht als exklusiver Verkehrsträger – sondern einer, der sich an den Anforderungen einer zukunftsfähigen Mobilität orientiert, einen nachhaltigen Modal Split ermöglicht und sich als Ressource für verschie­dene Nutzungszwecke versteht (vgl. TEC21 20/2021, «Versiegelte Flächen als fruchtbare Böden»).

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 38/21 «Anamnese am Auto».

Anmerkungen

 

1 Christoph Maria Merki: «Vom ‹Herrenfahrer› zum ‹Balkanraser›: zur Geschichte des Automobilismus in der Schweiz» in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 2006.

 

2 Hans-Ulrich Schiedt: «VSS Chronik 1913–2013» in: Publikation des Schweizerischen Verbands der Strassen- und Verkehrsfachleute, 2013.

 

3 Bundesamt für Statistik (BFS): Kosten und Finanzierung des motorisierten Verkehrs, 2020.

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