Cen­tre Pom­pi­dou in ba­roc­kem Gewand

Rekonstruktion Schloss Berlin

Nach jahrelangen Diskussionen ist es nun fertiggestellt: das Humboldt Forum im rekonstruierten Berliner Schloss. Architekt Franco Stella liess nicht nur barocke Fassaden nachbauen, sondern vollendete zugleich den Entwurf des Schlossarchitekten Andreas Schlüter – ein Stück Stadtreparatur, die polarisiert, aber durchaus funktioniert.

Data di pubblicazione
23-09-2021

Seit Mitte August ist das Berliner Schloss nach gut siebenjähriger Bauzeit für das Publikum geöffnet. Die rekonstruier­te Hohenzollernresidenz und ihre Ausstellungen wurden auf Anhieb zum Publikumsmagneten. Nichtsdestotrotz trifft das Bauwerk auf der Berliner Museumsinsel auch nach seiner Fertigstellung bei Teilen der Öffentlichkeit und insbesondere der Architektenschaft auf Skepsis, teils vehemente Ablehnung. Eine fast zwanzigjährige kontroverse ­Debatte hatte das Rekonstruktionsprojekt begleitet.1

Nutzer des Gebäudes ist das Humboldt Forum im Berliner Schloss, benannt nach den forschungsdurstigen Brüdern Alexander und Wilhelm von Humboldt (1769–1859 bzw. 1767–1835). Das Gebäude entstand nach Plänen des Vicentiner Architekten Franco Stella. Der Entwurf des heute 77-Jährigen belegte im 2007 ausgeschriebenen Internationalen Wettbewerb für die Rekonstruktion den 1. Preis.

Entstanden ist jedoch keine 1 : 1-Kopie des Barockschlosses, sondern eine räumliche Collage re­konstruierter Elemente und zeit­genössischer Architektur – freilich verschmolzen in Gestalt eines ­einheitlichen Gebäudes. In dem barocken Gewand steckt ein multifunktionales Kultur- und Museumszentrum, das der Wissensvermittlung, aber auch dem kulturellen Dialog dienen soll. Während im 2. und 3. Obergeschoss die bisher in Berlin-Dahlem gezeigten Sammlungen des Ethnologischen sowie des Asiatischen Museums präsentiert werden, sind in der ersten Etage u. a. eine Berlin-Ausstellung sowie das Humboldt-Labor untergebracht, eine Vermittlungsplattform der Humboldt-Universität. Diese ist, neben dem Berliner Stadtmuseum, der Stiftung Humboldt-Forum und der Stiftung Preussischer Kultur­besitz (SPK) Partner des Projekts.

Im Erdgeschoss befinden sich Auditorien, eine Skulpturengalerie, Sonderausstellungsflächen, Gastronomie sowie eine Präsenta­tion zur Geschichte des Orts. Die Gesamtkosten lagen bei 682 Mio. Euro; 97 Mio. davon wurden via Spenden finanziert.

Renaissance, Barock, Sprengung, Wiederaufbau

Das Schloss wurde in mehreren Phasen zwischen 1443 und Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet. Prägend war der Einfluss des aus Schweden stammenden Baumeisters Johann Friedrich Eosander von Göthes und seines Vorgängers, des Architekten und Bildhauers Andreas Schlüter. Sie bauten das eher bescheidene Renaissanceschloss am Spreeufer zur barocken Vierflügelanlage aus. 1950 liess Walter Ulbricht, das ersten Staatsoberhaupt der DDR, das im Zweiten Weltkrieg beschädigte, aber wiederaufbaufähige Gebäude in einer mehrwöchigen Aktion Stück für Stück sprengen – weil es den ­Feudalismus der Hohenzollern­dynastie repräsentierte.

Mit der deutschen Wiedervereinigung entbrannte ab 1990 eine lebhafte, teils emotional geführte Debatte über die Zukunft des Areals und damit den Kern des historischen Berlins. Zankapfel war insbesondere der Palast der Republik, der 1976 als Kultur- und Veranstaltungszent­rum und Sitz des DDR-Parlaments an der Ostseite der Museumsinsel errichtet worden war, teils auf der früheren Grundfläche des Schlosses.

Nach mehrjähriger Diskussion, vielen Ideen, einem gescheiterten Städtebauwettbewerb, Asbestsanierung und Zwischennutzung des Palasts, einer temporären Kunsthalle, archäologischen Grabungen und manchem mehr berief der Bund im Jahr 2000 die «Internationale Expertenkommission historische Mitte» ein. Inzwischen stand die Idee im Raum, das Schloss wiederaufzubauen. Das 23-köpfige Gre­mium verabschiedete schliesslich Empfehlungen, die 2002 zum Wiederaufbau-Beschluss führten. Drei der Experten hatten dagegen votiert.

Abstraktion barocker Räume

 Zunächst beeindruckt das blosse ­Volumen des 35 m hohen Gebäudes. Es hat fast die Dimensionen eines eigenen Stadtquartiers. Während der als Hauptwerk Schlüters geltende «Kleine Schlosshof» in den ori­ginalen Abmessungen und bis auf eine Fassade auch räumlich vollständig wiederhergestellt wurde, überbaute Stella zugunsten der ­Mu­seumsnutzung den westlich an­grenzenden früheren «Grossen Schlosshof» («Eosanderhof») weitgehend. Beim Rundgang betont er, dass diese Eingriffe nicht in erster Linie vom Raum­bedarf der neuen Nutzung geleitet waren. Sie zielten zugleich auf ein Weiterbauen und Vollenden im Sinn Andreas Schlüters, der seine barocke Neu­interpretation des bestehenden Schlosses nicht vollenden konnte.

Allerdings sah Stella unter allen Wettbewerbsfinalisten die grosszügigsten Aussenräume vor, denn ihm lag daran, der Berliner Mitte nach dem stadtplanerischen Tabula rasa der 1960er-Jahre wieder ein Stück ihrer früheren, kleinteiligen Struktur zurückzugeben. So versteht er den Schlosshof als öffentlichen Stadtplatz, der folglich Tag und Nacht zugänglich ist. Mit der Schlosspassage fügte Stella im Zuge der Grundrissänderungen zudem anstelle des vorbarocken Querflügels, der einst die beiden Höfe trennte, einen neuen Hof ins Ge­bäude ein. Diese länglichen Nord-Süd-Passage dient zugleich als Zugang zum Haupttreppenhaus.  

Als öffentlicher Durchgang durch den Neubautrakt vermittelt der so entstandene Kolonnadengang recht gut Stellas Vorstellung eines Weiterbauens im Sinn des historischen Vorbilds und der Übersetzung barocker Räume in zeitgenössische Formen: Der Gang wird gesäumt von schlanken, hohen Rundstützen aus sandfarbenem Betonwerkstein, jeweils auf Geschossebene unterbrochen von einem breiten Horizontalgesims. So entstand eine klare, in ihrer Plastizität lebendige Rasterstruktur, die als abstrahierte Umsetzung des architektonischen Motivs von Säule und Architrav ein antikes Forum evoziert.

Wiederaufbau plus

Der Italiener ging mit seinem ­Entwurf über das vorgegebene ­Programm hinaus: Neben den Aussenfassaden und dem Schlüterhof stellte er die Durchgänge und Innenportale beiderseits der von ihm ­geschaffenen Passage sowie den Durchgang und die Innenseite des aufwendig gestalteten Eosanderportals im Westflügel wieder her. Zudem setzte er dem Westflügel wieder die von Friedrich August Stüler 1848 geschaffene imposante Kuppel auf, unter der sich einst die Schloss­kapelle befand.

Das hat zweierlei zur Folge: Erstens fällt der rekon­struierte Teil des Bauwerks weniger ­kulissenhaft aus. Nicht nur die ­barocken Fassaden, auch die dahinter liegenden Raumgefüge werden wieder erlebbar; nur die Innenräume sind durchweg modern. Insbe­sondere der Schlüterhof, der mit all ­seinen Balkonen, Balustraden und dem Figurenschmuck wirkt wie ein prunkvoller Theatersaal en plein air, erweist sich als dankbares Rekon­struktionsobjekt. Zweitens hatte der Architekt nun deutlich mehr Schnittstellen zwischen wiederhergestellten und zeitgenössischen Elementen zu meistern. Wen dieses Nebeneinander von Alt und Neu befremdet, der mag sich damit trösten, dass das Schloss schon vor seiner Sprengung ein Hybrid diverser Bauphasen war.

Relief einer Loggienfassade

Ältester Teil war der aufs 15. Jahrhundert zurückgehende Ostflügel. Ein seriöser Wiederaufbau dieses Gründungsbaus und seiner verwinkelten Substanz schien schwer leistbar und auch nicht unbedingt erstrebenswert. Hier, in Richtung von Spree, Rathaus und Fernsehturm, errichtete Stella, den Wettbewerbsvorgaben folgend, die einzige zeit­genössische Aussenfassade des Gebäudes, eine strenge symmetrische Lochfassade. Bedingt durch ihren weiten Raster und die je 3 m breiten Öffnungen zwischen den Wandfeldern präsentiert sich diese Schauseite auf den ersten Blick grobplastisch, fast schematisch.

Franco Stella würde an diesem Punkt energisch widersprechen – denn er versteht diese Front nicht als Lochfassade mit Fenstern, sondern als das «Relief einer Loggienfassade», was die mit 1.30 m beachtliche Tiefe der Laibungen erklärt. Aber in diesen Loggien zeigt sich, anders als in ­italienischen Städten, kein Leben; die dunklen ­Öffnungen klaffen wie die Fensterhöhlen eines Rohbaus in der Wand.

Einen überzeugenderen zeitgenössischen Akzent setzte Stella hinter dem prachtvollen Eosanderportal, dessen mächtiger Risalit die Westfassade des Schlosses beherrscht. Dort fügte er ein gebäudehohes, nahezu quadratisches Foyer in das neue Museumshaus ein. Für Stella verkörpert es die Abstraktion eines Theatersaals – mit Rängen, Saal, Bühne. Und in der Tat beherrscht die Innenseite des wiedererstandenen Eosanderportals mit seinen prächtigen Sandsteinskulpturen wie ein gewaltiges, haushohes Bühnenbild die Westseite des Licht­hofs. Es entstand nach dem Vorbild altrömischer ­Triumphbögen. An den drei übrigen Wänden säumen die Halle auf drei Etagen umlaufende Galerien, gegliedert durch ein streng orthogonales Brüstungs- und Stützenraster.

Bühne: barock, Ränge: rationalistisch

Der Berliner Architekturkritiker Jürgen Tietz empfand diese architektonische Inszenierung als «Raum von beachtlicher Banalität».2 Man mag diese Galerien banal nennen, aber der Raum bezieht seinen Reiz gerade aus dem unmittelbaren ­Kontrast überbordender barocker Formenfreude mit der kalkulierten Nüchternheit des norditalienischen Neorazionalismo. Nicht nur formal, auch konstruktiv lag dem von Stella geführten Planerteam am Einklang zwischen heutigen Anforderungen und einer handwerklich sowie baukünstlerisch schlüssigen Rekonstruktion. Peter Westermann von Hilmer Sattler Architekten Ahlers Albrecht ­war bei der Projektgemeinschaft verantwortlich für die Gebäudehülle.

Er stiess sich daran, dass Kritiker behaupteten, das Gebäude sei bloss ein mit Barockornament tapezierter Betonkubus. Das treffe nicht zu. Zwar sei das innere Tragwerk eine Ortbetonkonstruk­tion, die aber werde von einem mächtigen, eigenständigen Fassadenbauwerk umschlossen. Man habe sich aus vielerlei Gründen entschlossen, inneres Tragwerk und Fassade zu ­trennen, u. a., weil die Museums­nutzung erhebliche Verkehrslasten von bis zu 10 KN/m2 verlangte. Auch das Schwindverhalten des Stahlbetons spielte eine grosse Rolle.

«Nur durch die Trennung der ­gemauerten Fassade vom inneren Tragwerk konnten wir die Rekonstruktion eng am ­historischen Vorbild halten – ohne sichtbare Dehnungsfuge und vor­gehängte Elemente», erklärt Westermann. Die Innenseite eines Fassadenabschnitts bildet zunächst der 30 bis 50 cm starke Stahlbeton. Darauf folgen 12 cm mineralische Kerndämmung, eine 2 cm breite hygrische Trennschicht und davor 64 cm Mauerwerk aus Normziegeln. Den Abschluss bildet eine 2.6 cm starke Putzschicht, die mit mehrfachen Silikatlasuren farblich gefasst wird. Die jetzige Wandstärke von mindestens 110 cm, so Westermann, entspreche also dem Mittelwert der historischen, die zwischen 170 cm im Sockel und 70 cm im obersten Geschoss lagen. Hört man dem Architekten zu, wie er die konstruktiven Details beschreibt, schwingt die Begeisterung mit, für einmal wieder Stein auf Stein bauen zu können.

Vorlage der minutiösen Fassadenrekonstruktion waren neben Fotos von 1950 grossformatige Glasplattenfotos (sog. Meydenbauer’sche Messbilder) der Fassade aus den 1910er-Jahren sowie ein Handriss­plan von 1876, gefunden im Ver­messungsamt von Berlin-Mitte. Auf Basis dieser Quellen wurden neue Pläne erstellt, mit deren Hilfe 750 m historische Fassade rekonstruiert wurden. Trotz solcher Akribie stellt sich beim Betrachten der Fassaden ein Moment leiser Irritation ein: Denn man merkt, dass dieser ba­rocken Schauseite jene Unebenheiten und minimalen Ausbauchungen fehlen, die Fassaden historischer Bauten normalerweise aufweisen – die Fronten sind völlig plan. In solchen Details begegnet einem das Dilemma von Rekonstruktionen.

2828 Bildhauerstücke

Architekten und Bauherrschaft verständigten sich darauf, den aus den Quellen bestdokumentierten Zustand des Schlosses umzusetzen und dabei auch die historischen ­Unregelmässigkeiten des Originals, seine «Fehler», mitzubauen. Ein besonders anspruchsvoller Teil des Wiederaufbaus waren 2828 Bildhauerstücke aus gelblichem sächsischem und schlesischem Sandstein, die neu ange­fertigt werden mussten – Säulen, Eckkartuschen, Schweifgiebelfenster, die Skulpturen über den Portalen im Schlüterhof und jene 43 preussischen Adler, die nun wieder wie ­abflugbereit im Hauptgesims des Mez­za­ningeschosses sitzen. Mehr als 30 Bildhauerinnen und Bild­hauer schufen diese Stücke während mehrerer Jahre. Ein kleiner Teil des ­Bauschmucks und der Skulpturen war 1950 vor oder nach der Sprengung geborgen worden. Diese Re­likte des alten Schlosses treten – wieder an ihrer ursprünglichen Stelle eingefügt – als dunkel an­gegraute Figuren oder Säulenabschnitte aus dem hellen Sandstein hervor.

Wer das Gebäude nicht durch das Eosanderportal betritt, gelangt durch die neu geschaffene Nord-Süd-Passage direkt zum Eingang des bahnhofshallengros­sen zentralen Treppenhauses. Die Dimensionen des Barockschlosses führen hier zu Deckenhöhen, die selbst für ein Museum aussergewöhnlich sind. Der Raster der schlanken, hohen Rahmung der Fensterseite und die ihnen gegenüberliegende Stüt­zenreihe gliedern den Raum, der mit seinem omnipräsenten Weiss-in-Weiss an Museen von Richard Meier erinnert. Auf Treppen und Roll­treppen geht es in die oberen Etagen.

Spätestens auf der Rolltreppe lässt einen dieser Gedanken nicht mehr los: Das Humboldt Forum im Schloss ist nichts anderes als eine Berliner Variante des Centre Pompidou in ­Paris – nicht der Form, aber seiner Intention und Nutzung nach. Dies korrespondiert mit dem Schlussbericht der Expertenkommission von 2002/03, die ausdrücklich empfahl, die im ehemaligen Palast der Re­publik verwirklichte Konzeption eines Volkshauses als Ort von Kultur und Begegnung für alle Gesellschaftsschichten im rekonstruierten Schloss fortleben zu lassen.

Aber warum rekonstruieren?

Zugleich provoziert der Vergleich mit Rogers’ und Pianos emblematischen Bauwerk aber die Frage nach dem Warum. Warum neu bauen in historischer Gestalt? Am stichhaltigsten ist zweifellos das städtebauliche Argument: Die Nordfassade des Schlosses bildete bis zu seiner Zerstörung den visuellen Endpunkt, die räumliche Fassung der Strasse Unter den Linden, und damit das östliche Pendant zum Brandenburger Tor am anderen, westlichen Ende der Prachtstrasse.

Doch wäre es unaufrichtig, allein das städtebauliche Argument in den Vordergrund zu stellen. Natürlich ging es den Rekonstruktionsbefürwortern nicht nur um Raumkanten, sondern auch um Ausstrahlung und Gestalt des Gebäudes. 45 000 Menschen spendeten innert 27 Jahren insgesamt 97 Millionen Euro, damit diese Fassaden und ­Portale ohne Steuergelder wiederhergestellt werden konnten. Das Schlossprojekt polarisierte; in einem nicht un­wesentlichen Teil der deutschen Architekturszene gehörte es zum guten Ton, dagegen zu sein. ­Viele Architektinnen und Archi­tektur­wissenschaftler fassten das Projekt als Ausdruck neokonser­vativer Geschichtsverklärung und Affront gegen das zeitgenössische Bauen auf.3 Schlossbefürworter galten im günstigen Fall als rückwärts­gewandte Nostalgiker, im ungünstigen Fall als reaktionär.

Allerdings fragt es sich, ob diese Perspektive alternativlos ist. Das Berliner Wiederaufbauprojekt berührt offenbar einen Nerv, scheint einem kulturellen Aneignungsbedürfnis eines Teils der Bürgerschaft zu entsprechen. Laut einer Umfrage im Auftrag der deutschen Bundesstiftung Baukultur bewerten 80 % der Deutschen architektonische ­Rekonstruktionen positiv; in der Gruppe der 18- bis 30-Jährigen sind es sogar 86 %. Zugleich deutet nichts darauf hin, dass diese Menschen zeitgenössischer Architektur an sich ablehnend gegenüberstehen.

Der aus der DDR stammende Schriftsteller Friedrich Dieckmann verfasste zur Vorgeschichte des Projekts einen sehr empfehlenswerten, weil ausgewogenen und sachlichen Essay. Zur ideellen Konkurrenz zwischen Moderne und Historie schreibt Dieckmann: In diesem Teil Berlins «hat die architektonische Moderne in einer Weise aufgetrumpft, die die Totalvernichtung der überlie­ferten urbanen Strukturen in Kauf genommen hatte.» Deshalb sei es im Sinn von Stadtreparatur um die Wiedergewinnung einer historischen Zentralität gegangen «die ihrem Wesen nach nicht alleine von zeitgenössischer Architektur geleistet werden konnte.»4

Flagge zeigen gegen Kolonialismus

Derweil wurde der Rekonstruktionsstreit längst an den Rand gedrängt von der laufenden Kolonialismus­debatte. Gruppierungen wie «No Humboldt21» werfen den Ethno­logischen Museen Berlin eine eurozentrische Perspektive und mangelnde Auseinandersetzung mit der eigenen Sammlungsgeschichte vor. Die Kuratoren des Humboldt Forums haben das politische Unwetter offenbar früh heraufziehen sehen, denn sie stemmen dem scharfen Wind der Kritik mit der monumentalen Bronzeflagge «Statue of Limi­tation» ein antikoloniales Kunstwerk des Koreaners Kang Sunkoo entgegen. Unübersehbar im zentralen Treppenhaus platziert, soll diese Flagge aus dunkel patinierter Bronze den Kritikern signalisieren: Wir haben verstanden und stehen zu ­unserer Verantwortung.

Kangs Werk ist eines von sieben Kunst-am-Bau-Objekten im Gebäude. Hinzu kommen 35 übers Gebäude verteilte «Spuren» aus der Geschichte des Orts, etwa Gemälde und Leuchten aus dem abgebrochenen Palast der Republik. Im «Archäologischen Fenster» im teilweise erhaltenen Schlosskeller kann man die origi­nalen Sprenglöcher von 1950 sehen, aber auch ein Bündel jener angespitzten Holzpfähle, mit denen die Schlossfundamente einst im sumpfigen Untergrund gegründet waren. Auch jenseits der eigentlichen Ausstellungen bildet das Gebäude also neben seinen kontrastreichen architektonischen Sphären einen sinnlichen Erlebnisparcours entlang der Zeugnisse seiner Vorgeschichte.

Zwar muss sich das nagelneue, gelblich im Sonnenschein schimmernde Schloss seine Identifikationskraft erst erwerben. Aber manches deutet darauf hin, dass dieses widerspruchsvolle Gehäuse, die ewige Projektionsfläche, zu einer kulturellen Erfolgsgeschichte und einem dauerhaften Gewinn für die Stadt, für die Berliner und für ihre Gäste werden kann.

Anmerkungen

1 Um die Bandbreite der Argumente aufzuzeigen, haben wir ein Interview geführt mit Christine Edmaier, Prä­sidentin der Architektenkammer Berlin, dem Essayisten Friedrich Dieckmann und dem Architekturwissenschaftler Alexander Stumm. Es ist hier nachzulesen.


2 Werk, Bauen + Wohnen, 7/8 2019, S. 29.


3 Vgl. Anm. 1


4 Friedrich Dieckmann: «Von Schlüter zu Stella oder: Der Fehler des Politbüros» in: Horst Bredekamp/Peter-Klaus Schuster (Hg.): «Das Humboldt Forum – Die Wiedergewinnung der Idee», Berlin 2016, S. 20

 

Der Film «Berlin baut ein Schloss» dokumentiert die Geschichte der Entstehung des Stadtschlosses und ist bis zum 18. Oktober 2021 in der arte-Mediathek abrufbar: bit.ly/arte-schloss-berlin

Weitere Beiträge zum Humboldt Forum gibt es hier.

Am Bau Beteiligte

Architekturentwurf
Prof. Franco Stella, Vicenza

Planung und Realisation LP 2–LP9
Franco Stella Berliner Schloss/Humboldt Forum Projektgemeinschaft; Partner: Franco Stella Architetto, Hilmer Sattler Architekten Ahlers Albrecht, Berlin; gmp Baumanagement Berlin

Tragwerksplanung
ARGE TPW (Wetzel & von Seht, Krone und Pichler Ingenieure

Projektleitung
Detlef Krug (Gesamtprojektleitung, techn. Geschäftsführung)
Herman Duquesnoy (Gesamtprojektleitung, kaufm. Geschäftsführung)
Sigurd Hauer (Projektleitung Planung Gebäudeinneres)
Peter Westermann (Projektleitung Planung Gebäudehülle und Rekonstruktion)
Alexander Scholz (Verantwortlicher Bauleiter nach §56 Bau O Bln)
Uwe Otte (Bauleitung Gebäudehülle)
Michelangelo Zucchini (Büroleitung Franco Stella, Vicenza)
bert und York Stuhlemmer (Recherche und Grundlagenermittlung Rekonstruktionsfassaden)

Wettbewerb
2008 (Internationaler Realisierungswettbewerb): 1. Preis: Franco Stella, Vicenza; kein 2. Preis; vier 3. Preise: Hans Kollhoff Architekten; Kleihues + Kleihues Architekten, Prof. Christoph Mäckler Architekten; ARGE Maria Grazia Ecceli e Riccardo Campagnola Architetti; Michele Caja/Silvia Malcovati; Sonderpreis: Kuehn Malvezzi Architekten  

 

Daten & Fakten

 

Bauzeit
2012–2020


Gebäudevolumen
490 000 m3


Bruttogeschossfläche
100 000 m2


Nutzfläche
42 000 m2


Kosten
682 Mio. Euro, davon 97 Mio. Euro Spenden für die Rekonstruktion der barocken Fassaden, der Kuppel, der Innenportale 2, 3 und 4 sowie der Portaldurchgänge.

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