Ei­ne Kul­tur für Bauen und Bil­dung

Rezension «Archijeunes: Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung»

Wie und wo wir wohnen, wie häufig wir womit unterwegs sind oder wie viele Ressourcen wir im Alltag dafür benötigen, gibt meistens die gebaute Umwelt vor. Deren nachhaltige Entwicklung ist also von allgemeinem Interesse. Doch wissen wir über die aktuelle Bau- und Architekturkunst ausreichend Bescheid?

Data di pubblicazione
18-02-2021

Baukultur ist … ein komplexes und schwieriges Thema. Selbst Fachleute tun sich schwer mit einer kurzen, prägnanten Erklärung. Mindestens sechs Hauptsätze, fünf Nebensätze und knapp hundert Wörter benötigt zum Beispiel das Bundesamt für Kultur, um eine Definition zu formulieren. Ebenso überfordert scheint das Internet zu sein, ein ansonsten unerschöpfliches und kaum je verlegenes Nachschlagewerk. Auf dem Computerbildschirm erscheint unter dem Suchbegriff «Baukultur» ein ungeordnetes Verständigungswirrwarr. Die zuerst angezeigten WWW-Adressen verweisen auf eine Stiftung, eine Buchreihe oder einen Lehrstuhl; ein Ausbildungslehrgang, eine weltumspannende Deklaration und ein Erlebnispfad durch das Stadtquartier sind weitere Vorschläge, um mit einem Klick die schnelle Antwort auf eine verflixte Ausgangsfrage zu finden.

An einer Deutung scheitern auch die Anglofonen: «Baukultur» ist genauso selbstverständlich wie «Angst», «Waldsterben» oder «Heimweh» Teil ihres eigenen Wortschatzes geworden. Seien Sie also unbesorgt, wenn auch Ihnen keine spontane Definition dazu einfallen will.

Bedeutungsvielfalt oder Bildungslücke?

Vor drei Jahren ging das internationale Jahr der Baukultur über die Bühne. Unter Laien ward vieles schon wieder vergessen. Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung weiss mit dem Begriff nichts anzufangen, ergab eine repräsentative Befragung. 80 % wüssten allerdings Bescheid, könnte das positive Fazit dazu lauten. Doch selbst die grosse Mehrheit ist sich nicht sicher: Hat Baukultur etwas mit Architektur zu tun? Meint Baukultur nicht sogar einen bestimmten Gebäudetypus? Oder deutet der Begriff an, wie viel Natur das Bauen verdrängen kann? 16 mögliche Assoziationen listet das Bundesamt für Kultur in der Auswertung seiner Umfrage auf. Fachleute vermuten zu Recht eine «Bildungslücke», weil das Wissen über Baukultur so wenig verbreitet ist.

Dieses Manko nicht nur zu benennen, sondern auch zu beheben schreibt sich der gemeinnützige Verein «Archijeunes» auf die Fahne. Die aktuelle Trägerschaft, die beiden nationalen Architektur-Berufsverbände SIA und BSA, tut einiges dafür, die Neugier auf zusätzlichen Lernstoff zu wecken. «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» heisst ein umfangreiches Buch, das der Verein im Verlag Park Books in diesem Jahr herausgegeben hat.

Über ein Dutzend Fachautorinnen und -autoren liefern detaillierte Einblicke in ihre baukulturell relevante Berufsmaterie. Zur Sprache kommen unterschiedlichste Forschungs- und/oder Praxisgattungen, darunter erwartete Disziplinen wie Architektur, Städtebau oder Denkmalpflege; der Lehrplan zum aktuellen Bauschaffen umfasst aber auch verwandte Gebiete wie Landschafts- und Raumplanung und wagt sich ins Interdisziplinäre: So sollen die Soziologie, die Ökonomie und der Klimaschutz einen gebührenden Platz erhalten. Der in Wort und Bild verfasste Input des Vereins «Archijeunes» lässt sich als Aufruf zur Bildungsoffensive interpretieren.

Schwer verständliche Plädoyers

Die Botschaft in diesem 400 Seiten dicken Buch ist aber nicht immer verständlich. Die meisten Autorinnen und Autoren sind akademisch tätig und reizen ihre Grenzen kaum aus. Insofern setzen einige bereits ein spezialisiertes Wissen voraus, um zu verstehen, welche Elemente der baukulturellen Allgemeinbildung fehlen. Zudem wird wiederholt und stillschweigend angenommen, dass die Baukultur begrifflich längst enträtselt ist. Tatsächlich lassen einige Aufsätze vermuten, dass sich die hier Schreibenden selbst (noch) nicht einig sind.

Baukultur sei ein Abwehrriegel gegen das moderne Bauen, erklärt der emeritierte ETH-Architekturprofessor Ákos Moravánsky in einem mithin gut verständlichen Exposé. Die deutsche Professorin für Denkmalpflege Gabi Dolff-Bonekämper bekräftigt ihrerseits das konservatorische Anliegen von Baukultur. Die Antithese dazu liefert der Immobilienentwickler Niklas Naehrig, der in seinem Text weniger für das Schützen und Bewahren als für ein modernes, nachhaltiges und rentables Bauen plädiert.

Es sind nicht die einzigen Widersprüche, die das Buch enthüllt, ohne sie aktiv zu bewirtschaften. Die Themenblöcke, die den Unterricht im baukulturellen Lehrplan künftig prägen sollen, werden so isoliert voneinander aufgezählt, dass man viele Berührungspunkte, die in der Praxis tagtäglich auftreten, vermisst.

Einfache Geschichten funktionieren bestens

Was jedoch unabhängig von allen Deutungsversuchen den Mehrwert dieser Publikation ausmacht: Der Reigen an bekannten und unbekannten Themen aus Lehre, Forschung und Praxis des Bauens weckt die Neugier, womit sich ein Baukulturschaffender heutzutage auseinanderzusetzen hat. Und mehrmals verraten die Autorinnen und Autoren sogar, mit welchen Tricks und Kniffs sie derart komplexen Lehrstoff an Studierende oder Grundschüler vermitteln. Es sind die einfachen Geschichten, die man sofort versteht. Und es ist der Austausch mit Laien, der das Wissen mit Leben füllt. Einige Mal blitzt diese Vermittlungskunst in den Archijeunes-Aufsätzen auf: Vittorio Magnago Lampugnani – wer sonst? – glänzt damit, die Geschichte der europäischen Stadt anschaulich und packend zu erzählen.

Derweil verlässt Architekturprofessorin Anne Brandl den engen Hörsaal und geht mit Studierenden auf die Strasse. Die Aha-Effekte sind im öffentlichen Raum mindestens so verblüffend wie bei einer Powerpoint-Präsentation: Abseits gewohnter Pfade lernen Baukulturschaffende von Passanten so manches mit städtebaulicher Relevanz; bildungsfördernd ist der spontane Dialog für Fachleute und Laien.

Baukultur: normativ oder prozessorientiert?

Der Aufruf des Vereins zur baukulturellen Bildungsoffensive ist insofern zu begrüssen und eine Lektüre der «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» zu empfehlen. Weniger als Checkliste, mit welchen Themen das akademische Wissen anzureichern ist, denn als Inspiration für neuartige Vermittlungsformen. Baukultur heisst hier: kein Zwang zu einem normativen Konsens über (gebaute) Ergebnisse, sondern ein offener Denk- und Arbeitsprozess für die ganze Gesellschaft. In dieser Lesart erteilt die «Baukultur» keine Noten für die gebaute Umwelt oder architektonische Erzeugnisse. Vielmehr klärt sie über das gesellschaftliche Anforderungsprofil auf, an dem sich die Weiterentwicklung der Raumordnung, ein Quartiermasterplan, ein Gebäudeentwurf oder die Didaktik des Architekturunterrichts messen lassen muss.

Archijeunes wendet sich mit ihrem Essayband an mündige Bürgerinnen und Bürger. Wäre nicht auch das jetzige Ausbildungs- und Planungsrepertoire vermehrt so zu adressieren und Betroffene aktiver zu beteiligen? Denn wer über Bildungsförderung spricht, darf die intrinsische Motivation nicht vernachlässigen. Und jeder, der eingeladen ist, an einem baukulturellen Prozess mitzuwirken, wird Fragen stellen und daraus ein allgemeineres Verständnis von Baukultur entwickeln.

Archijeunes (Hrsg.): Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung, Park Books, Zürich, 2021. 412 Seiten, 185 farbige und 83 sw-Abbildungen, 16x22 cm, ISBN 978-3-03860-226-2, Blick ins Buch

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