Un­to­le­rier­ba­re Ge­schi­ch­tsleu­gnung

Den hohen Schutzwert des Gewerbegebäudes Tribschen in Luzern bestreitet niemand. Doch die Eigentümerin will es abbrechen und durch einen grösseren Neubau ersetzen. Dagegen wehren sich die Fachverbände der Architektenschaft und der Heimatschutz. Nun muss das Verwaltungsgericht den Fall entscheiden – das Urteil ist seit zwei Jahren hängig.

Data di pubblicazione
24-06-2020

Als «Stiefkind der Baukultur» wurde das Gewerbegebäude Tribschen in Luzern bezeichnet, hinsichtlich der fehlenden politischen Akzeptanz dieses Pionierbaus der frühen Moderne. Doch eigentlich ist das zu mild ausgedrückt. Wie ein Prügelknabe litt es unter den wiederholten Instandsetzungen und Umbauten, vielleicht stellvertretend für die zwischenzeitliche Geringschätzung des Neuen Bauens. Wie bei einem Verdingkind wird willkürlich über sein Schicksal entschieden, wohl wissend, dass es sich um einen charaktervollen ­Zeugen der Architekturgeschichte ­handelt. Können solch drastische Verglei­che auf die sich über Jahre hinziehende Fehlentwicklung aufmerksam machen und diese möglicherweise noch korrigieren?

Eindeutige Ausgangslage

Die unglückliche Situation erstaunt umso mehr, als der Fall fachlich und faktisch völlig klar ist. Aus der Fachliteratur ist der besondere Stellenwert des Bauwerks seit Langem bekannt. Architekturfachverbände haben wiederholt auf dessen hohe architektonische Qualitäten hingewiesen, Gutachter seine baugeschichtliche Bedeutung begründet. Und selbstverständlich ist der Umgang mit Kulturdenkmälern im Planungs- und Baugesetz des Kantons Luzern und ergänzend im Gesetz über den Schutz der Kulturdenkmäler sowie in der dazugehörigen Verordnung hinreichend geregelt.

Worum geht es also? Handelt es sich um einen banalen Machtkampf zwischen Privatwirtschaft, Politik und Kultur? Offenbar wird hier der Erhalt eines schützenswerten Gebäudes aufgrund von Fehlern bei der Stadtplanung einem Feilschen um Ausnützung der Neubebauung ausgeliefert. Seit Jahren lehnen Behörden von Stadt und Kanton Luzern in Absprache mit den Grundeigentümern einen Schutz des Bauwerks ab. Baudenkmäler der Moderne haben es bedenklicherweise besonders schwer, anerkannt und geschützt zu werden.

Bauhaus in Luzern

Ein Brand in der Nacht vom 16. auf den 17. September 1932 hatte das vormalige Gewerbegebäude zwischen Mühlenplatz und Reuss zerstört. Damit verloren an die 200 Handwerker ihre dortigen Werkstätten. Für den Wiederaufbau sollte ein neuer Standort gefunden werden. Zwei Wochen später ergriff der Luzerner Architekt Carl Mossdorf die Initiative und legte Pläne für einen Neubau vor. Sofort bildete sich die «Interessensgemeinschaft Gewerbegebäude der Stadt Luzern», deren Leitung Mossdorf übernahm.

Das innert nur sechs Monaten ausgeführte Projekt war radikal modern. Der 31 Jahre junge Architekt hatte Le Corbusiers viel diskutiertes Buch «Die kommende Baukunst» (1923) in sich aufgesogen. Le Corbusiers bekannte «fünf Punkte», die fortan als Richtmass moderner Architektur galten, setzte Mossdorf Punkt für Punkt um. Erstens folgt das statische Prinzip dem Skelettbau. Zweitens ist das Dach flach und kann als Dachgarten genutzt werden. Drittens ermöglichen die von der Fassade abgerückten Stützen eine flexible Raumaufteilung, den freien Grundriss. Viertens prägten ursprünglich Bandfenster die Gebäudehülle, die keine Lasten zu übertragen hat. Fünftens wurde die freie Gestaltungsmöglichkeit der Fassade zu einer ausgewogenen Komposition von geschlossenen und offenen Partien genutzt.

Im Tribschen-Quartier, dem damals spärlich bebauten Gewerbegebiet zwischen Bahnhof und Seeufer, war ein durch und durch funktionales Stück Architektur entstanden. Sowohl Fassaden als auch Grundrisse widerspiegeln das stringente Nutzungskonzept. Die Quaderform über der 13 × 26 m gros­sen Grundfläche und den vier gleich strukturierten Geschossen ist ökonomisch. Die Erschliessung über Treppenhaus, Warenlift und Laubengänge nimmt die klar definierte westliche Raumschicht ein. Die daran anschliessenden Arbeitsräume wählbarer Grösse sind lichtdurchflutet. Die Sichtbetonwände wurden schalungsroh belassen. Die hehren Ziele des Neuen Bauens – Luft, Licht und Sonne – waren sichtlich erreicht.

Breite Rezeption

Seiner architekturgeschichtlichen Bedeutung entsprechend wurde das Gewerbegebäude Tribschen in alle Übersichtspublikationen und Standardwerke zur frühen Moderne im Kanton Luzern aufgenommen. Der Kunst- und Architekturhistoriker André Meyer zieht in seinem Buch «Architektur zwischen Tradition und Innovation» Parallelen zum Bauhaus: «In der Tat nimmt der 1933 vom Luzerner Architekten Carl Mossdorf erbaute kleine Zweckbau formal und konstruktiv die Programmpunkte des Bauhauses wie kein anderes Bauwerk in der Innerschweiz auf. Die ‹neue Einheit› zwischen Kunst und Technik, wie sie Walter Gropius am Bauhaus Dessau lehrte, ist im Gewerbegebäude an der Tribschenstrasse für innerschweizerische Verhältnisse bis zu einem schwer zu übertreffenden Grad verwirklicht.»

Verkanntes Baudenkmal

Mehrere Umbauten sowie ein vernachlässigter Gebäudeunterhalt trüben die einst strahlende Kraft des Bauwerks. Rücksichtslose Veränderungen erschweren es, die ursprünglichen Qualitäten sofort zu erkennen. Für den unaufmerksamen Passanten wirkt der Bau schnell unschön. Doch die Verunstaltungen, wie die Unterteilung der Bandfenster, der Verputz über dem Sichtbeton und die Befensterung der Laubengänge, lassen sich wieder beheben. Die wesentliche Bausubstanz blieb intakt vorhanden: die wohlproportionierte Ku­batur, die Tragstruktur aus Stahl­beton, das klar strukturierte Grundrisskonzept. Sogar der schmucke Schriftzug über dem Hauseingang ist noch da.

Mehr noch änderte sich das Umfeld und der städtebauliche Kontext des Gebäudes. Auf der Basis eines 1990/91 durchgeführten Ideen­wettbewerbs und eines Projektwettbewerbs von 1997/98 entstand eine vielgeschossige, grossvolumige Neubebauung im Tribschen-Quartier. Bei der Planung wurde das ­Potenzial des Gewerbegebäudes, dem neuen Wohnquartier ein geschichtsträchtiges Zentrum zu bieten, verpasst. Stattdessen entspann sich der Disput über dessen Abbruch oder Erhalt.

Der ebenfalls aus einem Projektwettbewerb hervorgegangene, von Andrea Roost bis 2006 ausgeführte neue Hauptsitz der CSS Versicherung an der Ecke Tribschen-/Werkhofstrasse erhielt lobende Architekturkritiken. Nun will die CSS den Bau, der bis nah an das Gewerbegebäude Tribschen heranreicht, erweitern. Im Auftrag der kantonalen Denkmalpflege prüfte Andrea Roost 2011 in einer Projektstudie, ob sich das Gewerbegebäude in eine Neubebauung integrieren lässt, bei gleicher, baurechtlich möglicher Flächennutzung. Nach der Teilrevision der BZO wiederholte Roost 2017 diese Überprüfung, nun im Auftrag der CSS Versicherung, die unterdessen das Nachbargrundstück gekauft hatte.

Beide Male zeigten die Machbarkeitsstudien auf, dass die geforderte Anzahl Arbeitsplätze auch bei einer Erhaltung des Gewerbegebäudes grundsätzlich möglich wären. Doch nach Ansicht der CSS Versicherung überwiegen organisatorische und wirtschaftliche Nachteile. 2017 entschied die Dienststelle Hochschulbildung und Kultur des Kantons im Einklang mit der Stadt und der Grundeigentümerin, das Gewerbegebäude Tribschen nicht in das kantonale Denkmalverzeichnis aufzunehmen, da in diesem Fall die privaten Interessen und Eigentumsbeschränkungen höher zu gewichten seien.

Dies, obwohl die Denkmalkommission des Kantons Luzern sich zuvor dafür ausgesprochen hatte, den Bau als «eines der bedeutendsten Werke des Neuen Bauens in der Schweiz» unter Schutz zu stellen. 2018 stellte die CSS das Rückbaugesuch. Dagegen reichte der ­Heimatschutz Beschwerde beim Verwaltungsgericht ein.

Potenzial zur Ikone

Fachleuten ist das Ausbleiben der Unterschutzstellung unverständlich. Alle massgeblichen Fachverbände engagieren sich für den Erhalt des Gewerbegebäudes. Hierfür sammelte der Heimatschutz bereits 2002 in einer Petition weit über 2000 Unterschriften. 2019 lancierte er zusammen mit den Zentralschweizer Sektionen von BSA, SIA, FSAI und SWB nochmals eine Petition zur Rettung des unbestrittenermassen schützenswerten Baus.

Gesellschaftlich anerkannt ist, dass wertvolle Bausubstanz schon aus ökonomischen und ökologischen, aber auch aus kulturellen Gründen möglichst zu erhalten sei. Im letzten prominenten Streit- und Gerichtsfall eines anerkannten ­Baudenkmals in Luzern, der 1951 bezogenen Zentral- und Hochschulbibliothek (vgl. TEC21 51–52/2013), sprach sich die Stadtluzerner Stimmbevölkerung deutlich für den Erhalt aus; letztes Jahr wurde sie wiedereröffnet. In vielen Städten finden derzeit renovierte Paradebauten der Moderne regen Anklang: beispielsweise das erwähnte Bauhaus in Dessau aus den Jahren 1925/26 (vgl. TEC21 27–28/2019), das 1933 fertiggestellte Museum für Gestaltung Zürich (vgl. TEC21 35/2018) oder die Hochschulbibliothek im Sulzer-«Rundbau» in Winterthur von 1930/31. Auch das Gewerbegebäude Tribschen hat das Potenzial zu einem Vorzeigebau der Instandsetzung und könnte als Architek­turikone wiederaufleben.

Die Petition zur Rettung des Baus sowie weitere Infos inklusive verschiedener Gutachten gibt es hier:
www.gewerbegebaeude.ch

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