«Ei­ne Ju­rie­rung per Vi­deo­kon­fe­renz ist ni­cht sinn­voll»

Auf der Brache der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage Warmbächli im Berner Quartier Holligen entsteht in den nächsten vier Jahren die  Wohnsiedlung Holliger. Wegen der Corona-Krise wurde der Wettbewerb für das letzte freie Baufeld verschoben. Wettbewerbsbegleiterin Jutta Strasser erzählt, wie sie den vorläufigen Stopp einschätzt.

Data di pubblicazione
13-05-2020

Für die Realisierung der generationendurchmischten Wohnsiedlung haben sich sechs gemeinnützige Bauträger (Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern, Genossenschaft Warmbächli, Fambau Genossenschaft, Baugenossenschaft Aare Bern, npg AG für nachhaltiges Bauen, Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz) zusammengeschlossen und 2017 die Infrastrukturgenossenschaft Holliger ISGH gegründet.

Diese koordiniert und plant den Bau der neuen Siedlung. Der städtebauliche Wettbewerb sowie drei weitere Wettbewerbe für die Baubereiche U1, U2 und O3/U3 wurden bereits durchgeführt. Der letzte Wettbewerb für den Baubereich O1 wurde aufgrund der Covid-19-Krise verschoben.

espazium: Die Jurierung für das Projekt der Eisenbahner Baugenossenschaft im neuen Quartier Holliger wurde wegen der Corona-Pandemie ausgesetzt. Wie haben Sie als Wettbewerbsbegleiterin diesen Entscheid erlebt, respektive wie hat die Jury darauf reagiert?

Jutta Strasser: Die Entscheidung für die einschneidenden Massnahmen im Zusammenhang mit Corona erfolgten durch den Bundesrat am Freitag, 13. März 2020. Die Jury wollte in der darauffolgenden Woche ein erstes Mal tagen. Die Bauherrschaft hat unmittelbar nach dem Bundesratsentscheid mitgeteilt, dass die Jurierung zurückgestellt werden soll.

Dieser Entscheid ist der Bauherrschaft nicht leichtgefallen, da sie, ebenso wie alle anderen Teilnehmenden und Jurymitglieder, sehr gern möglichst rasch das Ergebnis ihres Wettbewerbs hätte kennen wollen. Die weiteren Planungsschritte sollten ebenfalls möglichst rasch fortgesetzt werden.

Die Jury hat den Entscheid sehr sachlich und ohne Gegenanträge zur Kenntnis genommen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden umgehend über die Terminverzögerungen informiert. Auch hier gab es bis auf eine Ausnahme grosses Verständnis für das gewählte Vorgehen.

Alle Arbeiten für die erste Stufe der Vorprüfung waren abgeschlossen und dokumentiert. Von daher war der Moment für den Unterbruch eigentlich ohne weitere Probleme realisierbar. Ich bin sehr froh, dass mit der Jurierung noch nicht begonnen wurde und wir nicht während des Jurierungsprozesses unterbrechen mussten. Das hätte ich für den Wettbewerb als sehr viel schwieriger angesehen.

Die Anonymität eines SIA-Wettbewerbs erachte ich als sehr hohes Gut in unserer Planungskultur. Ich bin grundsätzlich kein Freundin des digitalen Versands von Verfasserunterlagen, da damit der Informationsfluss über Projektvorschläge und die Einhaltung der Anonymität schwer kontrollierbar wird.

Natürlich ist es sehr unangenehm, ein Wettbewerbsverfahren unterbrechen zu müssen. Während der Vorbereitungen zu einer Jury baut sich eine Spannung auf, die dann in den eigentlichen Jurytagen zum Höhepunkt kommt. Wird dieser Prozess unterbrochen, ist es nötig, diese Konzentration und Fokussierung auf die Aufgabe wiederherzustellen.

Andererseits bauen wir nicht nur für einen kurzen Zeitraum, sondern prägen mit unseren Bauten unsere gestaltete Umwelt, unseren öffentlichen Raum, tragen zu einer Baukultur über Jahrzehnte bei. Wenn man sich dieser Tatsache bewusst ist, sollten letztlich einige Monate Verzögerung beim Ergebnis eines Wettbewerbs keine Rolle spielen.
 

Ist bereits geplant, die Jurierung später durchzuführen? Und wenn ja, wann und unter welchen Voraussetzungen?

Selbstverständlich ist es ein Anliegen der Bauherrschaft, den Juryprozess so rasch wie möglich fortzusetzen. Ein neues Terminfenster wurde auf September 2020 gelegt. Wir hoffen alle, dass es zu keiner zweiten Corona-Welle kommen wird. Die Voraussetzungen werden die gleichen sein wie beim ersten Terminfenster. Hohe Prioriät wird auf eine ganzheitliche, hochwertige und faire Beurteilung gelegt. Es soll das beste Projekt gewinnen.
 

Welche Folgen hat diese zeitliche Verschiebung für die Jury, die Bauherrschaft und die teilnehmenden Büros?

Die Verschiebung bedingt viel Flexibilität bei allen Beteiligten. Es ist eine Geduldsprobe, auf das Ergebnis des Wettbewerbs warten zu müssen, vor allem für die Planenden. Bei einem normalen Verlauf hätte das Siegerprojekt bereits jetzt festgestanden und die Planerinnen und Planer hätten ihre Energie in die Weiterbearbeitung stecken können.

Eine Wettbewerbsteilnahme ist mit grossen Unkosten verbunden. Die Auftragserteilung und/oder ein Preisgeld stellt zumindest für einen Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine bedeutende Perspektive dar. Den Reaktionen der Jurymitglieder nach zu urteilen, wäre es auch für sie angenehmer gewesen, das Verfahren zu Ende führen zu können und ihre Aufgabe mit einem fundierten und überzeugenden Entscheid abzuschliessen.


Was sehen Sie als Folgen für die Planung im Holliger insgesamt?

Die Bauherrschaft steht in Planungsabhängigkeiten zu den anderen Baufeldern. Hier seien als Beispiele die Logistik, die Einstellhallenausfahrt, das Aussenspielfeld, aber auch der gesamte Fertigstellungstermin für die Überbauung genannt. Die sechs beteiligten Bauträger unterstützen sich gegenseitig und sind aufeinander angewiesen, das Areal zum einem neuen Stadtteil mit hohen Ansprüchen an eine gut funktionierende und gemeinnützig orientierte Gemeinschaft zu formen.

Da aber das betroffene Baufeld das letzte Kettenglied in der Erstellung ist und ein Randfeld im Planungsareal betroffen ist, sollte es mit wenigen Ausnahmen keine grossen Friktionen geben. Finanziell muss der laufende Planungsaufwand länger ohne Einkünfte getragen werden, was für die Bauherrschaft natürlich erschwerend ist, vermutlich aber zu den Grundrisiken gehört, die im Zusammenhang mit einem solchen Bauvorhaben abgefedert werden müssen.
 

Können nach Ihrer Ansicht der SIA respektive die Berufsverbände allgemein aus der Corona-Krise Schlüsse für das Wettbewerbswesen ziehen? Gibt es auch positive Aspekte?

Für das Wettbewerbswesen scheint mir nicht zielführend zu sein, in der jetzigen Zeit (mit Corona-bedingten Einschränkungen) hohen Druck auf die Verfahren auszuüben. Eine Jurierung oder Präqualifikation auf Videokonferenzbasis durchzuführen erachte ich zwar als möglich, aber nicht als sinnvoll und qualitätsfördernd, da ein wichtiger Faktor, der unmittelbare und spontane Austausch unter allen Beteiligten, nicht möglich ist.

Bei zahlreichen Verfahren findet gerade gegen Schluss ein intensives Ringen, ein Vergleichen und Abwägen statt, manchmal werden Projektvorschläge nebeneinandergehängt und miteinander verglichen. Der unmittelbare Austausch zwischen Auslober, Jury und Experten vor den Plänen oder eingereichten Unterlagen ist für alle Beteiligten ein wichtiger Prozess in der Findung der besten Lösung.

Bei einer Jurierung auf Videokonferenzbasis wäre zudem die Sicherung der Anonymität wie schon erwähnt wesentlich schwieriger zu kontrollieren. Ich finde die Stellungnahme vom SIA vom 16. April 2020 zu Wettbewerben und Studienaufträgen sehr gut, besonders, dass darin auch eine Empfehlung zu einem Beurteilungsunterbruch enthalten ist, um die Wettbewerbsresultate gebührend zu würdigen und gute, tragfähige Entscheide zu begünstigen.

Unsere Gesellschaft wird wirtschaftlich und sozial vor grosse Herausforderungen gestellt. Ich glaube, dass die Auswirkungen auf die Planungsbranche kurzfristig noch zu keinen allzu grossen Veränderungen führen wird. Mittel- und langfristig werden aber die zusätzlichen Ausgaben auf die Budgets von Bund Kanton und Gemeinden einen Einfluss haben. Rückstellungungen von dringenden Investitionen in Gebäude oder von Neubauten werden ein Thema werden.

Die Bau- und Planungsbranche war in den letzten Jahren sehr hochtourig unterwegs, eine Verlangsamung kann zu überlegteren Handlungen und damit auch zu grösserer Qualität führen.

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