Ar­chi­tek­tur jen­sei­ts der Ver­nunft?

Biennale der Art Brut in Lausanne

Architektur ist Nutzen, Regeln und Normen unterworfen. In der Biennale der Art Brut in Lausanne zum Thema «Architekturen» verhält sich das anders.

Data di pubblicazione
23-12-2015
Revision
23-12-2015

Die 51 vertretenen Künstler und Künstlerinnen beschäftigen sich vor allem mit Zeichnungen, Collagen und Malerei mit dem Thema. Wohnhäuser, Blöcke, Gebäude unterschiedlicher Art inklusive Brücken, Tunnels bis hin zu Stadtplänen sind zu sehen, aber auch Holzskulpturen, Textilhäuser und architektonische Skulpturen. Die Kuratorin Pascale Marini-Jeanneret der Collection de l’Art Brut drückt das so aus: «Die Art-Brut-Künstler erweitern das Bild der Architektur um eine neue Dimension und zu einem Ort, der sich der Alltagsrealität entzieht.»

Realität und Utopien

Über 250 Arbeiten werden gezeigt, alle befassen sich mit dem Bauen. Dargestellt sind Grundrisse, Fassaden, Schnitte, Perspektiven und Modelle – also genau das, was «richtige» Architekten auch produzieren. Doch die Art-Brut-Künstler verzichten auf Konventionen, lassen geometrische Vorgaben links liegen, kümmern sich nicht gross um Perspektivregeln. Sie schaffen sich ihre eigene Realität, eine utopische Welt.

Dabei lassen sie sich in zwei unterschiedliche Gruppen unterteilen. Zum einen gibt es Künstler, deren Arbeiten von bestehenden Bauten angeregt sind, zum Beispiel der Franzose Émile Ratier (1894–1984) mit seinem Eiffelturm aus Holz oder der Niederländer Willem van Genk (1927–2005) mit detaillierten Ansichten von Städten, die er besucht hat. Zu dieser Kategorie gehören auch jene, die sich von der Realität inspirieren lassen, um sich dann von ihr zu entfernen, wie Tsuji Yuji (*1977) aus Toyohashi (Japan), der seine Stadt von Hausdächern aus fotografiert, um die Konturen dann auf Papierblätter zu zeichnen.

Auf der anderen Seite steht eine ebenso bedeutende Gruppe von Künstlern, die Wunschvorstellungen und Fantasien gestalten. Dabei kennt die Erfindungsgabe keine Grenzen und bringt fantastische Bilder hervor wie bei dem Briten Louis Freeman (genannt Scottie Wilson, 1888–1972), der aus Uruguay stammenden Magali Herrera (1914–1192) oder den beiden Franzosen Victorien Sardou (1831–1908) und Paul End (1896–1973).

Gebaute Parallelwelten

Während sich die in dieser Ausstellung gezeigten Art-Brut-Künstler vor allem in Bildern und auch in Skulpturen mit der Architektur befassen, haben einige ihre Entwürfe in grossen Bauten verwirklicht, die sich aber ausserhalb der fachspezifischen Konventionen liegen. Zu den bekanntesten Werken gehören der «Palais idéal» des Briefträgers Cheval in Hauterives (Frankreich) (vgl. «Der Postbote und sein Palast») und die acht miteinander verbundenen Türme aus mit Mosaiken geschmücktem Konstruktionen aus Schrott, Müll und Beton von Sabato «Simon» Rodia (1879–1965) im Watts-Quartier in Los Angeles. Der höchste von ihnen misst 30 m.

Diesen Baumeistern individueller Mythologien ist ein eigener Raum gewidmet, in dem dank Fotografien, Filmen und einer reichen Dokumentation aus dem Archiv der Collection de l’Art Brut zahlreiche Bauwerke zu sehen sind. Darunter auch die aus Abbruchmaterial und von Nylonfäden zusammengehaltenen asymmetrischen Holzhütten von Richard Greaves (*1952) in der kanadischen Provinz Québec oder die 1975–1991 entstandenen Bauten mit der Bezeichnung «Souvenirs de voyage» von Nous Deux (Charles und Pauline Billy) in Civrieux d’Azergues nördlich von Lyon.

Insgesamt neun Künstler der Ausstellung «Architectures de l’Art Brut» stammen aus der Schweiz. Die wohl allgemein bekanntesten sind Aloïse Corbaz und Adolf Wölfli. Abwesend ist Bruno Weber (1931–2011), der Erbauer des zauberhaften Weinrebenparks in Dietikon, eine wenig verständliche Lücke in dieser sonst gut bestückten Ausstellung,

«Anarchitekturen» als unersetzliches Kulturerbe

Sarah Lombardi, die Direktorin der Collection de l’Art Brut, bedauert, dass der Wert dieser Arbeiten bloss vereinzelt erkannt und geschätzt wird. Sie sagt: «Heute werden diese einzigartigen und eigenwilligen Architekturen oder ‹Anarchitekturen› aus unterschiedlichen Regionen und Epochen – man könnte noch viele weitere Beispiele anführen – von einer neuen Generation von Art-Brut-Freunden als unersetzliches Kulturerbe betrachtet, das trotz seines vergänglichen Charakters bewahrt werden sollte. Bereits sind allzu viele dieser Orte – mit ihnen auch einige Art-Brut-Gärten oder bemerkenswert verzierte Häuser – verschwunden oder stark gefährdet, so dass nur noch Archive, Fotografien oder Filme von ihnen zeugen.»

Umso mehr sollten sich die Liebhaber «ausser-ordentlicher» Architekturentwürfe diese Ausstellung nicht entgehen lassen. Sie erfrischt in einer Welt der inflationär zunehmend sich ausbreitenden Banalarchitektur mit Träumen und Fantasien zu poetischen Bauentwürfen, die sich frei gemacht haben von sämtlichen äusseren Zwängen.

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