Den­kraum für Bau­kul­tur

«Was braucht es für eine hochstehende Baukultur?» fragte der Fachverlag espazium zum Auftakt der interdisziplinären Denkraumreihe. Die Antworten der Architekten waren deutlich: Die Grenzen sind auf verschiedenen Massstabebenen zu überwinden.

Data di pubblicazione
01-09-2015
Revision
29-10-2015

Die publizistische Bauszene der Schweiz rückt näher zusammen. Der Dachverlag der drei verschiedensprachigen Fachzeitschriften TEC21, TRACÉS und archi hat sich einen neuen Namen gegeben: espazium - Verlag für Baukultur, und wird ab November auf www.espazium.ch ein neues Internetportal betreiben. Verlagsleiterin Katharina Schober erhofft sich davon eine Stärkung der Dialogkultur in- und ausserhalb der Branche.

Aus diesem Anlass fand am 1. September erstmals ein «Denkraum für Baukultur» statt, an dem praktizierende und forschende Architektinnen und Architekten aus der Schweiz und Deutschland grenzüberschreitende Ratschläge gaben. Unter anderem seien die Art des Entwerfens, der Beteiligung, der Wahrnehmung und die räumlichen Planungseinheiten neu zu denken, so der einheitliche Tenor der Referierenden.

«Zur vertieften Auseinandersetzung mit Gebäudenutzern» forderte Susanne Hofmann, Architekturdozentin und Inhaberin eines Architekturbüros in Berlin, auf. In ihrem Vortrag stellte sie die Ansprüche an sozial konstruierte Räume und Gebäude dar, die stärker als bisher partizipativ entwickelt und entworfen werden. Partizipation ist jedoch kein rhetorisches oder kosmetisches Planungsmittel, sondern wird zum Gegenentwurf vom Entwerfen im stillen Kämmerlein. «Sie fördert den Dialog auf Augenhöhe und bringt eine Rückkopplung mit Anspruchsgruppen», bestätigt Hofmann. Bereichernd für die Arbeit eines Architekten seien: eine erhöhte Zufriedenheit und Akzeptanz der Nutzer sowie eingesparte Zeit, Geld und Nerven.

Mehr Naturerlebnisse

Zu den Anspruchsgruppen, die sich nicht verständlich machen können, gehören Wildtiere im urbanen Siedlungsbereich. Die Städte sind allerdings stark belebt: 40 der 90 einheimischen Tierarten leben in städtischen Lebensräumen. «Für die meisten Stadtbewohner ist unmittelbar wahrgenommene Natur zudem eine wichtige kulturelle Qualität», unterstreicht Thomas Hauck, Landschaftsarchitekt aus Berlin.

In einem Forschungsprojekt vertiefte er die Grundlagen für eine tiergerechte Stadt- und Freiraumplanung und zog wichtige Erkenntnisse für die städtebauliche Praxis: Naturschutz und Stadtentwicklung sind für ein Miteinander konzeptionell nicht kompatibel. Damit weder der Lebensraum für Stadttiere noch das Naturerlebnis weiter schrumpft, erläuterte Hauck das gestalterisches Potenzial einer integrativ gedachten Fachplanung. Voraussetzung ist, biologische Standortfaktoren zur Grundlage für einen Konstruktionsentwurf zu verwenden. Die aktuell dringende Nachverdichtung des Gebäudebestands bilde gute Gelegenheiten, die Freiraumplanung und den landschaftsarchitektonischen Entwurf um die Bedürfnisse der Tierwelt zu ergänzen.

Über die Grenzen hinaus

Über die Grenzen der politisch getrennten Räume dachte Michele Arnaboldi, Stadtplaner in Lugano und Professor an der Architekturakademie Mendrisio, nach. Am «Denkraum für Baukultur» präsentierte er Befürchtungen über die Zukunft einer vernetzten Stadt Tessin. Der Südkanton ist traditionell Standort der einengenden Transitverkehrsinfrastruktur. Nächstes Jahr folgt die Eröffnung der neuen Alpentransversale; daran angeknüpft wird ein regionales S-Bahn-Netz zwischen dem Tessin und der Lombardei. Arnaboldi hofft, dass daraus das Rückgrat für einen polyzentrischen Stadtraum im Kanton Tessin entsteht. «Um die landschaftlichen Qualitäten zu bewahren, braucht es eine geordnete städtebauliche Entwicklung, zum Beispiel in der Magadinoebene», sagt Arnaboldi.

Für die Planung des Raums brauche es einen neuen Massstab und neue Regeln. Ohne präzise Definition der übergeordneten Ansprüche seien die bestehenden, diffusen Strukturen und die gesichtslosen Nutzungsformen nicht zu verändern. «Wesentlich ist daher, dass Gemeinden grenzübergreifend planen und sich zu einer koordinierten, gemeinsamen Perspektive berufen fühlen», so Arnaboldi.

Schöne Räume

Von politischen Forderungen auf die individuelle Ebene wechselte Angela Deuber, Büroinhaberin in Chur und Dozentin an der Hochschule Luzern: «Mein persönliches Architekturverständnis beruht auf dem Entwerfen schöner Räume.» Perfektion sei aber nicht gesucht; sie bevorzuge den Bruch in der Gesamtwirkung, etwa durch das Abändern einzelner Fragmente. «Auch das Menschliche ist unvollkommen.»

Schöne Architektur zu entwerfen ist allerdings kein frei interpretierbarer Auftrag: «Materialisierung und Raumstruktur sind sogar einem Richtig-Falsch-Urteil unterworfen», so Deuber. Doch die architektonische Grundfrage bleibt: In welchen Räumen möchten wir das Leben verbringen? Dafür die richtige Kulisse zu schaffen, brauche Mut und bedeute grosse Verantwortung.

Stefan Cadosch, Architekt und SIA-Präsident, appellierte seinerseits an die Berufskollegen, sich selbstkritisch mit ihrem kulturellen Schaffen auseinanderzusetzen. Wichtig sei ihm ein breiter öffentlicher Diskurs über hochwertige Baukultur, möglichst auf allen Medienkanälen. Der Verband als Botschafter und Lieferant von Planungsinstrumenten sei ebenso wie die Redaktionen der espazium-Publikationen gut aufgestellt.

«Mehr Kritik und Resonanz bis in die Politikerkreise ist auf jeden Fall erwünscht», so Cadosch. Denn die zeitgenössische Baukultur ist nicht nur ein wesentliches Gestaltungselement der gebauten Umwelt, sondern seit Kurzem auch ein neues Politikfeld. In der Kulturbotschaft des Bundes 2016 bis 2020 ist der Begriff erstmals offiziell aufgeführt. Es werden weitere «Denkraum»-Anlässe folgen, um das Verständnis über die Baukultur zu verbreiten.   

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