«Wir agie­ren wie die Be­ton­pio­niere»

Lehmbauer und Ingenieur im Gespräch

Mit dem Kräuterzentrum von Ricola erobert der Lehmbau eine neue Grössen­ordnung. Nur gemeinsam konnten die Planer die Aufgabe meistern. Ein Lehrstück zu Vorfertigung, Vertrauen und Verantwortung.

Date de publication
14-01-2015
Revision
05-10-2015

TEC21: Herr Schnetzer, wie war Ihre erste Reaktion, als Sie erfahren haben, dass Sie mit Stampflehm in Berührung kommen werden 
Heinrich Schnetzer: Ich bin es gewohnt, an Sitzungen teilzunehmen, an denen ich neuen Herausforderungen begegne. Ich versuche dabei, bei den vorgestellten gestalterischen Konzepten oder Projekten möglichst schnell die Problempunkte herauszuarbeiten und zu schauen, ob sie zu lösen, einigermassen lösbar oder gar nicht lösbar sind. Die definitive Lösung ist dann noch nicht ersichtlich. Aber man spricht miteinander und entwickelt zusammen Ideen, wie man den herausgefilterten Problempunkt als Schlüsselstelle in den Griff bekommen könnte. 

TEC21: Und wie haben Sie die Probleme gelöst  
Schnetzer: Ich glaube, das war ein Lehrbeispiel, wie man an ein Projekt mit vielen Unbekannten herangehen sollte. Es waren verschiedene Fachleute beteiligt, die alle ein spezifisches Wissen über ihr Gebiet haben: Lehmbau, Architektur, die statischen Zusammenhänge. Das Wichtigste war, die plane­rischen Schnittstellen zu definieren, unser Team entsprechend zu organisieren und zu klären, wer wofür verantwortlich war. Mit diesem unkonventionellen Organigramm konnte jeder sein Wissen optimal und auf einem direkten Kommunikationsweg einbringen. Es gab keine unnötigen und fehleranfälligen Schnittstellen.
Martin Rauch: Wir befinden uns an einem interes­santen Punkt im Lehmbau, denn wir agieren wie die Betonpioniere vor 100 Jahren. Damals hat man ebenfalls grosse Bauwerke erstellt, die mit viel Innovation verbunden waren. Die Zusammenarbeit zwischen den Ingenieuren, Architekten und Bau­meistern war damals vermutlich ähnlich wie beim Kräuterzentrum: Man hat eine Idee, verfolgt diese gemeinsam, entwickelt sie, prüft die Machbarkeit, und danach zieht man begeistert in eine Richtung. Daraus entstehen ganz neue Themen. 
Schnetzer: Die Analogie ist interessant. Wie begann man vor 100 oder 120 Jahren mit Beton zu bauen? Zuerst imitierte man den Holzbau mit Stützen und Balken. Bis man merkte, dass mit Beton nicht nur lineare, sondern auch flächige Formen möglich sind. Das hat zu neuen Formen und Bauwerken geführt. Flächentragwerke entstanden, und Pilz­stützen wurden erfunden. Ich denke, dass es beim Lehmbau ähnlich ist. Mit zunehmender Erfahrung kommen wir zu anderen Bauformen.

TEC21: Wie müssten denn diese Formen aussehen 
Schnetzer: Lehmwände brauchen eine gewisse Tiefe, damit sie Horizontalkräfte aufnehmen können. Eine flächige Fassade ist für einen Lehmbau nicht unbedingt geeignet – im Übrigen auch für eine Backsteinwand nicht. Man erreicht keine ausreichende Steifigkeit. Der Lehm bietet aber noch andere Möglichkeiten als die gerade Fassade. Am Ricola Kräuterzentrum haben wir den Lehm in einer Richtung ausgelotet: in der Länge. Diese Dimension ist ausgeschöpft. Es bleiben andere Aspekte, die zu prüfen sind. Zum Beispiel die horizontal selbsttragende Fassade – die Fassade hier ist nur stehend und würde kippen, wenn sie nicht durch das innen­liegende Tragwerk aus Stahlbeton gehalten würde. Es gibt kleinere Bauten, bei denen die Lehmfassade problemlos die Horizontalkräfte aufnehmen kann. Es liessen sich auch für grössere Gebäude selbst­tragende Lehmfassaden entwickeln.
Rauch: Dazu ist viel Forschung nötig. An der ETH haben wir eine Kuppel aus Stampflehm errichtet (vgl. Kasten «Lehmbau im Experiment»). Die Studentinnen und Studenten hatten die Aufgabe, ein gestampftes Gewölbe aus vorgefertigten Teilen zu erstellen. Normalerweise verlaufen die charakteristischen Stampflehmschichten horizontal, so wie sie auch gestampft werden. Bei der Kuppel haben wir die fertigen Elemente teilweise um bis zu 90° gedreht. Die Schichten ver­laufen also vertikal. Uns interessierte, ob die Festigkeit gleich bleibt. Wir haben festgestellt, dass die Druckfestigkeit dadurch eher noch besser wird. Das sind Überlegungen, die noch in den Kinderschuhen stecken. Wir müssen noch viel machen, damit dieses Wissen in die Breite geht. 

«Fixe Normen wären der Innovation abträglich.»

TEC21: Wo steht der Lehmbau im Moment 
Rauch: Die wichtigste Arbeit ist, Vertrauen in das Material Lehm aufzubauen und das Interesse dafür zu wecken. Wir dachten immer, dass die Architekten angesprochen werden müssen, aber eigentlich müssen wir die Ingenieure gewinnen (lacht). Wobei ich immer positive Erfahrung gemacht habe. Die Ingenieure waren offen für das Material. 
Schnetzer: In Ihrem Referat zur Eröffnung des Kräuterzentrums sprachen Sie die Normierung des Materials an. Das könnte ein Weg sein, um ­Vertrauen aufzubauen. Allerdings ist die Norm nur so gut wie die Fachleute, die sie erstellen. Es braucht also nicht nur eine Norm, sondern auch die ent­sprechenden Fachleute. Es schafft Vertrauen in das Material, wenn man einen genormten Baustoff hat, der fachgerecht eingebaut wird.
Rauch: Fixe Normen wären der Innovation abträglich. Wenn es eine Norm gibt und ich mich aus­serhalb der Vorgaben befinde, kann der Ingenieur schnell einmal sagen, dass das nicht geht. Dann muss ich als Unternehmer eine zugelassene Lösung ent­wickeln. Beim Lehmbau funktioniert das nicht, weil keine Lobby dahintersteht wie beim Betonbau oder bei Glasfassaden. Deshalb muss man beim Stampflehm ein bisschen vorsichtig sein. Das Ziel könnten auch Regeln sein. Wenn ich mich genau daran halte, dann kann nichts schiefgehen.
Schnetzer: Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich bin dagegen, dass man Normen erstellt und alles verbietet, was sich ausserhalb der Norm bewegt. In der Schweiz ist die Situation anders: Man muss sich grundsätzlich nicht an die Normen halten, denn sie sind nicht Gesetz. Bei uns fassen die Normen den Stand der Bautechnik zusammen – diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Man trägt das vorhandene Fachwissen zusammen, ergänzt es mit Forschungs­resultaten und hält alles schriftlich fest. Es ist jeder­zeit möglich, vom festgelegten Stand der Bautechnik abzuweichen, solange neues Fachwissen – mit Forschungsresultaten belegt – dies rechtfertigt. Im Prinzip müssten Sie oder jemand anders ein ­Forschungs­programm für die Erstellung einer Norm für Lehmbauten beantragen.  

«Lehmbauten sind sehr arbeitsintensiv. Was in unserer Gesellschaft leider mit teuer gleichzusetzen ist.»

TEC21: Kann man Lehm überhaupt normieren? Die Bandbreite der Materialkennwerte ist gross. 
Schnetzer: Es ist möglich. Wie bei jeder Norm müsste man über die Herstellung sprechen. Und über die Materialeigenschaften, die verschiedenen Zuschläge, die Dauerhaftigkeit, die Kornverteilungen, die Abrasion usw.

TEC21: Das erinnert an Geotechnik. 
Schnetzer: Es hat gewiss auch mit geotechnischen Aspekten zu tun. Wie man den Ton untersucht und bestimmt, das kennen die Ingenieure bereits aus der Geotechnik. 

TEC21: Herr Rauch, Sie nannten als wichtige Aufgabe, Vertrauen in das Material aufzubauen. Wie ist Ihnen das beim Kräuterzentrum gelungen  
Rauch: Hierzu möchte ich Richard Niemeyer erwähnen, der nach dem Zweiten Weltkrieg Bücher über den Lehmbau geschrieben hat. Für ihn war das Wichtigste, dass eine Fachkraft auf der Baustelle ist – alle anderen können Hilfsarbeiter sein. Damit wird der Facharbeiter zur Gewähr, dass beim Lehmbau nichts schiefgeht. Bei unseren Projekten ist es immer so, dass wir als Personen und Mitarbeiter hinter den Projekten stehen. Dies schafft Vertrauen beim Auftraggeber. Bei Ricola war am Anfang schon ein bisschen Angst da, ob das Material den Anforderungen genügen würde. Wir haben uns dann auf eine höhere Garantie geeinigt. Hinzu kommt, dass ich von Herzog & de Meuron als Subplaner für die Fassade beauftragt wurde, danach von Ricola als Fachplaner und in der Folge als Unternehmer. Das heisst, die Verantwortung lag immer bei derselben Person. Sorgen bereiten mir zukünftige Projekte, bei denen ein anderer Unternehmer den Stampflehm ausführen soll. Ein Baumeister gibt diese Garantien nicht ab.
Schnetzer: Das unternehmerische Risiko ist sicherlich zu würdigen. Ich gehe aber davon aus, dass Sie als Unternehmer stets genau gewusst haben, was Sie tun und welche Verantwortung Sie übernehmen. Es war kein Vabanquespiel. Und schliesslich waren andere Fachplaner dabei, die ebenfalls ihren Teil der Verantwortung übernommen haben. Dank unserer durchdachten Organisation konnten wir die Verantwortung teilen – was nicht zuletzt auch für die Bauherrschaft beruhigend war.

TEC21: Wo sehen Sie die Zukunft des Lehmbaus 
Schnetzer: Lehmbauten sind sehr arbeitsintensiv. Was in unserer Gesellschaft leider mit teuer gleichzusetzen ist. Die gegenwärtige Entwicklung geht in eine komplett andere Richtung: Bauen mit möglichst wenig Arbeit – unabhängig vom Materialverbrauch. Der Lehm hat nur dann eine Chance, wenn er halbindustriell hergestellt werden kann. Ansonsten ist Lehm im Bauwesen zu teuer und bleibt eine Ideologie. Und die Trag­konstruktion der Wand und die Isolation müssten zusammengerechnet werden, um in der Gesamt­berechnung konkurrenzfähig sein zu können.
Rauch: In Europa wird Lehm sicher ein Nischenprodukt bleiben und niemals den Beton ersetzen. Da der Einsatz der anderen Baumaterialien aber die Energie von drei Welten braucht, fängt man an umzudenken. Auf lange Sicht können wir so nicht weitermachen. Vielleicht werden in anderen Ländern, wo die Tradition noch vorhanden ist, unsere Beispiele motivierend wirken und das Image des Lehmbaus verbessern. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit unseren Bauten Zeichen setzen. 

TEC21: Und welche Konstruktionen sind in Zukunft zu erwarten 
Rauch: Ich glaube, dass wir tragende Kon­struktionen aus Lehm in Verbindung mit anderen Materialien sehen werden, etwa einen Holzbau als Deckentragwerk oder die Kombination von Lehm und Beton in sinnvoller, vernünftiger Weise. Ich kann mit Beton und Lehm sehr einfache und schlüssige Konstruktionen entwickeln, weil der Stampflehmbau eigentlich wie Betonbau funk­tioniert – in vielen alten Lehrbüchern wird er auch als Erdbeton bezeichnet. 
Schnetzer: Ich sehe vor allem aufgrund der Arbeitsintensität, der Verfügbarkeit des Baustoffs und seines Verhaltens bei Erdbeben ein grosses Potenzial in Entwicklungsländern. Dort wird viel mit Lehm gebaut – allerdings nicht erdbeben­gerecht. Hier kann man mit Forschungsarbeiten ansetzen. Ausserdem werden viele Stahlbeton­skelettbauten mit Backsteinwänden ausgefacht. Man könnte auch Lehm einsetzen. 
Rauch: Genau. Es ist eine grosse Heraus­forderungen, einen tragenden Lehmbau zu ent­werfen, der einem Erdbeben standhält. Damit bin ich oft konfrontiert. Ich bin überzeugt, dass der Stampflehm sehr resistent gegen Erdbeben ist, da die Schichtung aufgrund des Wechsels von harten und schwachen Lagen Energie umwandeln kann. Wenn man das mit einer geeigneten Be­wehrung verbinden würde, könnte man erdbebensichere Strukturen generieren. Das wäre eine enorme Chance für Entwicklungsländer.

Lehmbau im Experiment
Die Stampflehmkuppel entstand im Rahmen des Wahlfachs Material-Werkstatt am Lehrstuhl von Prof. Annette Spiro. In der Fabrikationshalle in Zwingen konnten die Studierenden die Elemente für den Pavillon selbst herstellen und im vergangenen September auf dem Höngger­berg errichten. Unter Anleitung von Dozent Gian Salis und in Zusammenarbeit mit Martin Rauch und dem ­Ingenieur Andreas Galmarini loteten sie die Möglichkeiten des Materials aus und bauten erstmals tragende Gewölbe aus reinem Stampflehm mittels vorgefertigten Elemen­ten. Seit dem Wintersemester 2014 hält Martin Rauch gemeinsam mit der Architektin Anna Heringer ausserdem eine Gastdozentur am Departement Architektur der ETH Zürich.

Heinrich Schnetzer: Dr. sc. techn., dipl. Bauingenieur ETH, ist seit 1992 Teilhaber und Mitglied der Geschäftsleitung der Schnetzer Puskas Ingenieure AG. 
Martin Rauch: 1978–83 Hochschule für angewandte Kunst, Wien. Seit 1990 Planung und Realisierung von Lehmbauprojekten im In- und Ausland.

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