Fehl­schluss mit Fol­gen

Architektur - Sprache

Begriffe aus Architektur und Städtebau werden in Werbeslogans missbraucht. Die Baufachleute scheint es wenig zu kümmern. Zu Unrecht: Mit ihrer Sprache verlieren sie auch ihre Glaubwürdigkeit.

Publikationsdatum
18-09-2014
Revision
18-10-2015

Wer in den vergangenen Jahrzehnten an der ETH Zürich Ingenieurwesen oder Architektur studiert hat, erinnert sich: Oben auf dem Hönggerberg, zwischen weidenden Kühen und duftenden Feldern, stehen grosse Hochschulbauten aus Stein, Metall und Glas. Darunter eine Tiefgarage und, so munkelt man, weitläufige unterirdische Armeeinfrastrukturen. Nachts streichen Rehe und Hasen durch die stille Anlage. An sonnigen Nachmittagen jassen vergnügte Seniorinnen nach ihrem Waldspaziergang in der Mensa. Einmal pro Woche kommt der Migros-Lastwagen, und die Studierenden stehen im Nieselregen Schlange …

Verändert hat sich hier oben seitdem kaum etwas. Zwar gibt es jetzt noch mehr Bauten, einen Laden, eine Bar, ein Café und Wohnungen. Die Anlage entwickelt sich zaghaft zu einem Campus nach angelsächsischem Vorbild. Doch von ihrem ländlichen Charme hat sie nichts eingebüsst. Der Nebel, der sich im Herbst über den Berg senkt, ist immer noch gesättigt vom vertrauten Geruch nach Stall und nasser Erde.

Trotzdem soll hier oben neuerdings eine Stadt entstanden sein. Die ETH begann, den Ort als «Science City» zu positionieren. Offenbar versprach das neue Etikett im internationalen Kontext handlicher zu sein als der etwas ungelenk auszusprechende «Hönggerberg». Vielleicht sollte es auch urbanes Flair heraufbeschwören und die ruralen Düfte vertreiben. Doch der ETH-Ableger wurde darob ebenso wenig zur Stadt wie das Einkaufszentrum «Sihlcity» oder der Internet-Schuhhändler «Shoecity». Die Neuerung setzte sich nicht durch. Die Professoren blieben skeptisch, die Studierenden hielten die mannshohen Lettern vor der Cafeteria für moderne Kunst, und die Verkehrsbetriebe Zürich weigerten sich, ihre Bushaltestelle umzubenennen. 

Die Anekdote mag possierlich klingen, doch sie gibt zu denken. Begriffe so lange aufzuweichen, bis sie sich nach Belieben emotional aufladen und instrumentalisieren lassen, ist ein alter Politikertrick. Auch die Werbebranche bedient systematisch die Gefühle, weil diese bei Kaufentscheiden mindestens so wichtig sind wie Fakten, und wählt ihre Worte entsprechend.

Zurzeit greifen die Texter gern auf Begriffe zurück, die städtische Qualitäten evozieren: Nach Jahrzehnten der Stadtflucht ist der urbane Lebensstil in der Schweiz wieder hip, Strassencafés und Lofts schiessen aus dem Boden wie die Kräuter beim Urban Gardening. Dass die Präzision der Fachbegriffe leidet, wenn man sie ungeachtet ihrer Bedeutung als verkaufsfördernde Modeworte einsetzt, scheint niemanden ernsthaft zu stören. Auch die Fachleute haben sich daran gewöhnt. Wenn rein kommerziell genutzte Innenräume in Shoppingmalls als «Piazza» oder ein exklusives Restaurant auf dem höchsten Turm der Schweiz als «öffentlicher Raum» bezeichnet werden, lässt sie das kalt. Entweder vertrauen sie darauf, dass trotz aller Wortverdrehungen nicht vergessen geht, was ein Platz und ein öffentlicher Raum sind – oder sie verweisen darauf, dass unsere Städte sich wandeln und der Stadtbegriff ohnehin einer Revision bedarf.

Worte und Werte

Damit machen sie es sich aber zu leicht. Zwar befinden sich unsere Städte seit jeher in einem steten Wandel; doch gerade die Verbindung von Urbanität und Kommerz ist erstaunlich konstant. Jede Stadt braucht eine ökonomische Grundlage. Die ökonomische Grundlage mit der Stadt gleichzusetzen ist dagegen ein irriger oder scheinheiliger Umkehrschluss. Dass man Eier braucht, um Omeletten zu machen, heisst noch lang nicht, dass aus jedem Ei ein Omelett wird. In der gleichen Logik könnte man behaupten – und manche tun es –, eine Shoppingmall sei eine Stadt, weil beide Einkaufsmöglichkeiten bieten.

Insofern ist es kein grosser Schritt mehr, einen Hochschulsatelliten auf der grünen Wiese als Stadt zu titulieren. Doch es kommt darauf an, wer den Schritt macht. Dass das Label «Science City» nicht in einer Werbeagentur, sondern ausgerechnet am Departement Architektur der ETH Zürich ersonnen wurde, ist beunruhigend. Wer, wenn nicht die Baufachleute selbst, soll auf einem griffigen Fachvokabular beharren? Auf welche Anerkennung darf ein Berufsstand hoffen, der seine Sprache so bereitwillig auf dem Altar werbegetriebener Moden opfert? Wie glaubwürdig können Architekten und Stadtplaner ihre Werte vertreten, wenn sie keine Worte mehr dafür haben 

Darum: Ein Hoch auf alle, die mit Berufsstolz und gesundem Menschenverstand für den guten alten Hönggerberg eingestanden sind! Insbesondere die unerschütterlichen Beamten der Verkehrsbetriebe Zürich, denn – wer weiss? – vielleicht war es am Ende ihr Beharren auf das wertbeständige Toponym, das uns vor «Science City» bewahrt hat. Letzteres hat sich übrigens von seiner lokalen Verankerung gelöst und manifestiert sich an diversen Standorten als «Treffpunkt Science City – das Erlebnisprogramm der ETH Zürich für alle». Die offizielle Bezeichnung des Campus im Grünen lautet derweil treffend «ETH Zürich, Hönggerberg». 

Magazine

Verwandte Beiträge