Wie füh­len wir uns in der Ar­chi­tek­tur?

Erlebnisbasierte Stadtplanung

Räume haben einen unmittelbaren Einfluss auf unser Denken, Fühlen und Handeln. Qualität entsteht nicht allein durch Gestaltung, sondern in der Beziehung zwischen Mensch und Raum.

Publikationsdatum
02-02-2017
Revision
13-02-2017

Wie können Faktoren der Lebensqualität entschlüsselt werden, wenn Effizienz und gute Infrastruktur allein die Bewohner weder gesund noch glücklich machen? In der Erlebnisqualität, also in affektiven und wahrnehmungsbezogenen menschlichen Dimensionen, scheinen diese Faktoren verborgen. Orte und Räume nähren uns wie eine fliessende Quelle, wenn sie uns das geben, was wir brauchen, um unser Leben auszubreiten.
Grob umrissen sind das Aussenräume zur Selbstentfaltung und Interaktion und Innenräume für Selbstbestimmung und Rückzug – beide Bereiche sollten ausgewogen zueinander stehen. Eine nachhaltige Weiterentwicklung der bestehenden Stadt verlangt einen Umgang, der den Menschen als fühlendes Subjekt mit einbezieht.

Raumbezogene Bedürfnisse

In Architektur und Planungsdis­kursen wird jedoch über die Wechselwirkung von Räumen auf das menschliche Fühlen, Denken und Handeln noch kaum nachgedacht. Den Fokus bilden formale Kriterien, quantitative Raumprogramme und Strukturierung nach funktionalen Anforderungen.
Was aber ist mit raumbezogenen Grundbedürfnissen wie dem Wunsch nach sozialer Interaktion, Zugehörigkeit, Austausch, aber auch Schutz, Rückzug, Geborgenheit, Sicherheit, Entspannung, Ruhe und Erholung, die zeit- und trendunabhängig von existenzieller Bedeutung sind? Sie erlauben uns, uns zu verorten, Wurzeln zu schlagen, unser Sein in der Welt zu behaupten.
Räume ermöglichen Identifikation und damit den Grundstein personaler Entwicklung.   
Der Prozess raumbezogener Identitätsbildung vollzieht sich, wenn ich mich im Raum einrichte, Narrationen meines Lebens in ihm einschreiben kann, wenn er sich durch mein Eingreifen verändern lässt und damit von einer objektiven Umwelt zu einer subjektiv bedeutsamen «Meinwelt» wird. Durch gelungene Aneignung von Raum sichert das Individuum sein Gefühl für sich selbst.
Im Vordergrund steht also nicht so sehr die Gestaltung, sondern die Frage, inwieweit Räume einer Einzelperson erlauben, eine sinnstiftende, erlebnisreiche und gesund erhaltende Beziehung herzustellen. Die Mär der «Autonomie der Architektur», die vorgibt, wie Leben in den von ihr gestaltenden Lebensräumen stattfinden soll, gilt es zu überdenken. In der aktuellen Bildungs- und Forschungslandschaft liefert eine noch weitgehend unvernetzte Gruppe von Forscherinnen, Professoren und Architektinnen innovative Erkenntnisse, die unter den Begriffen Phänomenologie, ­Heilende Architekturen, Architekturpsychologie, evidenzbasiertes Design, Urbane Psychologie, Transformationsmanagement und Urban Health Environment subsumiert werden können.

Phänomenologie

Eine phänomenologisch orientierte Entwurfshaltung versteht Stadt aus dem spontanen Erleben, der Situa­tion und Atmosphäre heraus. Weg von der Frage «Wie wird der Ort aussehen?» und hin zu «Wie wird der Ort erlebt?» stellen phänomenologische Positonen das körperliche Wahrnehmen in den Mittelpunkt. Man entwirft nicht mehr einen Platz als Produkt, sondern eine situative räumliche Platzartigkeit – im Zentrum steht der Prozess, die Dynamik urbanen Erlebens und nicht das abschliessende Produkt.
Der Einbezug raumphänomenologischer Ansätze in städtebauliche Disziplinen erfordert eine neue Denkhaltung. Die neu gewählte Professorin Anne Brandl am Institut für Architektur und Raum­entwicklung an der Universität Liechtenstein will mit ihrem Ansatz der «sinnlichen Wahrnehmung von Stadtraum» neue Werte setzen.

Heilende Architekturen

Ein weiteres neues Selbstverständnis von Architektur im Sinn ihrer Auswirkungen auf das menschliche Empfinden und Erleben wird in der Architekturpsychologie vermittelt. Die TU Berlin hat mit der vorläufig europaweit einmaligen Einrichtung der Gastprofessur für Architekturpsychologie durch Tanja Vollmer Position bezogen.1 Basis ist die Methode des evidenzbasierten Designs (EBD), wonach Architektur gemäss empirischer Beweisführung gezielt heilungsunterstützend wirken kann. EBD wird im Be­sonderen in der Planung und Entwicklung von Gesundheitsbauten eingesetzt. Gerade der Kranke erlebt  Veränderungen in der räum­lichen Wahrnehmung, die zu Gefühlen von Schutzlosigkeit, Exposition, Verletzlichkeit, Stress und Angst führen können. Exponierte Wartebereiche in Fluren, fehlende schützende Nischen, falsch konzipierte Behandlungsräume können zum gesundheitsgefährdenden Faktor werden.2
Heilende Architekturen wollen in erster Linie das Stresserleben Erkrankter minimieren. Die Basis bildet das qualitative Raumkonzept, das partizipativ erarbeitet wird. «Dabei wird die Psychologie entwurfsleitend eingesetzt und die ­Erkenntnisse der Psychologie von Anfang an in der Planung berücksichtigt », erläutert Professorin Tanja Vollmer. «Es geht um einen Prozess vom bedarfsorientierten zum bedürfnisorientierten Entwerfen.»3

Urbane Psychologie

Verdichtung erfordert das Verstehen emotionaler Prozesse. Gleichwertig zu formalen Aspekten, wie viel aufgestockt, angebaut, nachverdichtet werden kann, gilt es, die qualitative Ebene der subjektiven Raumwahrnehmung und deren spezifische Bedürfnisse zu überprüfen: Wie behandelt uns die verdichtete Architektur? Bietet sie Schutz und Abschirmung und gleichzeitig freie Bewegungsmöglichkeit? Bildet sie räumlich integrierende Beziehungsqualitäten ab? Verbindet sie Innen und Aussen in der nötigen Filterung, gemäss dem psychischen Bedürfnis nach geschützter Privatheit und Öffentlichkeit? Ist der Aussenraum ein einladender, leicht zugänglicher und sinnlich anregender Ort, der Orientierung, Verweilqualität, Interak­tion, Gestaltungsspielraum und selbstbestimmende Kontrolle erlaubt, oder sind es übrig gebliebene, mit Hinweisschildern und Verbotstafeln bestückte Resträume, wo parkende Autos zwischen Abstandsgrün das Bild prägen? Nicht die bauliche Dichte im Allgemeinen ist Ursache für erhöhte soziale Stressbelastung, sondern die Kombination sozialer Dichte und sozialer Isolation ist die toxische Mischung.

Transformationsprozesse

Die Gestaltung von qualifiziertem Lebensraum mit hoher Erlebnisqualität ist ein notwendiges Ziel, aber nicht das einzige. Bei der Erforschung von Städten gilt es auch die Prozesse und Wirkzusammenhänge urbaner Veränderungen in ihrer Komplexität erkennen zu lernen. Ohne Verständnis der kognitiven und emotionalen Einstellungen der Bevölkerung, im Sinn kollektiver Wertehaltungen und mentaler Strukturen im Umgang mit der ­Ressource Raum und hinsichtlich der Akzeptanz von Innovationen, greift das beste Nachhaltigkeits­konzept nicht.
Nachhaltige Gestaltungskompetenz verlangt vernetztes und systemisches Denken und entsprechende Fähigkeiten. Dies ist nicht nur im dinglichen Sinn (Gestaltung) bedeutsam, sondern auch im Sinn sozial geteilter Visionen, als mentale Protoypen der Zukunft und weiterführend im Sinn der Gestaltung sozialer Veränderungsprozesse. Die Vermittlung fachlicher und methodischer Kompetenzen zur fundierten Analyse dieser Herausforderungen sowie zur Entwicklung integraler Lösungen hat sich die FH Potsdam zum Ziel gesetzt, mit ihrem frisch gestarteten innovativen Masterstudiengang «Urbane Zukunft».4
Die verschiedenen Anwendungsfelder zeigen das hohe Potenzial der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Psychologen in der Planung und Entwicklung menschenfreundlicher Städte.
«Die Architektur hüllt uns nicht nur ein, sondern behandelt uns regelrecht. Wie wir uns von ihr behandelt fühlen, so fühlen wir uns
in der Architektur. Gut behandelt werden wollen wir sowohl als physi­sche Lebewesen als auch als psychisch erlebende Wesen.» (Prof. Georg Franck)

 

Anmerkungen
1 «Europapremiere an TU: Heilende Ansätze in der Architektur», Berliner Morgenpost, 23.10.2016.
2 kopvol architecture & psychology (Gemma Koppen, Tanja Vollmer).
3 Prof. Tanja Vollmer, Berliner Morgenpost, 23.10.2016.
4 Fachhochschule Potsdam, Michael Prytula, Tobias Schröder.

Weiterführende Literatur
Jan Gehl: Städte für Menschen.
Jovis Verlag, Berlin 2015.
Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten.
Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich.
Edition Hochparterre, Zürich 2016.

Der SIA veranstaltet Kurse zum Thema Stadt – Wahrnehmung: Referenten sind u. a. Martina Guhl und Prof. Dr. Tanja Vollmer.
Termine: 19. Mai und 2. Juni 2017
Anmeldung: www.sia.ch

 

Verwandte Beiträge