Of­fe­ne Ver­wand­lung

Das Theater St. Gallen wurde nach über 50 Jahren Nutzung instand gesetzt. Der Bau ist eine dreidimensionale Skulptur mit spektakulären Raumfolgen und komplexen funktionalen Zusammenhängen. Das stellte die mit der Instandsetzung beauftragten Gähler Flühler Fankhauser Architekten vor Heraus­forderungen. Sie meisterten sie ebenso pragmatisch wie elegant.

Publikationsdatum
20-10-2023

Das Sechseck ist eine der ökonomischsten Formen beim Bau. Das Verhältnis zwischen Material und Raum ist optimal: Minimaler Materialeinsatz schafft maximalen Raum. Übertroffen wird das Sechseck in dieser Hinsicht nur vom Kreis. Reiht man aber Kreis an Kreis an Kreis entstehen unnutzbare Zwischenräume, die die Gesamtbilanz verschlechtern. Auch Honigbienen legen ihre Waben zunächst rund an, die eigene Körperform dient ihnen als Schablone. Heizerbienen erwärmen das Wachs zunächst auf über 40°C. Die innere mechanische Spannung der Wabenwände zieht das durch die Erwärmung geschmeidig gewordene Wachs so zurecht, dass jede der dicht gepackten zylinderförmigen Zellen sechs gerade Wände ausbildet – die perfekte Symbiose von Natur und Konstruktion.

Ob der Zürcher Architekt Claude Paillard (1923–2004) dieses Geheimnis kannte, als er sich Mitte der 1960er-­Jahre für das Hexagon als Grundmotiv des neuen Thea­ters St.Gallen entschied, ist nicht bekannt. Überliefert ist hingegen, dass er von der Bühne aus dachte, von der aus sich die Wände des Zuschauerraums in einem stumpfen Winkel öffneten – das Sechseck mit seinen 120-Grad-Winkeln lag also auf der Hand, zumindest für diesen Raum.1 Claude Paillard ging aber noch viel weiter. Ein Grossteil der Räume ist sechseckig angelegt, aber er verwendete das Hexagon in allen Massstäben und nicht nur konstruktiv, sondern auch auf der Materialebene: vom Foyer über die Möblierung bis zu Türgriffen, Leuchten, Lüstern und den Lavabos in den Besuchertoiletten.

Damit war Paillard durchaus ein Kind seiner Zeit. Das Hexagon hatte in den 1960er-Jahren bis in die 1970er Hochkonjunktur. Architektonische Ikonen wie etwa der von 1965 bis 1975 erbaute Flughafen Tegel in Berlin propagierten diese Form. Für die ländliche Ostschweiz hingegen dürfte der Bau, nun ja, gewöhnungsbedürftig gewesen sein, und das nicht nur wegen seiner Form. Claude Paillard entschied sich auch für Sicht­beton, ein Novum für ein öffentliches Gebäude in nächster Nähe zur historischen Altstadt und gegenüber der Tonhalle von 1909. Diese, obwohl mit einem Eisen­beton­skelett als Tragkonstruktion von Brückenpionier Robert Maillart konzipiert, erhielt seinerzeit noch eine neo­barocke Fassade vorgehängt. 60 Jahre später war die Zeit reif für mehr Ehrlichkeit in der Architektur.

Was den Bau über die reine Innovation hinaus aber so besonders macht, ist seine gelungene Einbettung in den baulichen Kontext. Zwar steht er als Solitär im St. Galler Stadtpark, doch er nimmt Bezug auf die Nachbarbauten: Paillard liess in den Untergrund und in die Höhe bauen, stapelte hier, staffelte dort, teils abgestuft auf der Süd- und Ostseite, wo sich eher kleinteilige Wohnbauten befinden, teils grosszügig wie bei der Tonhalle auf der repräsentativen Nordseite. Auf deren nach aussen gewölbte Fassade reagierte Paillard mit einer konkaven Einbuchtung seines Theaters. Die beiden Kulturbauten wirken wie zwei ineinanderpassende Puzzle­teile, getrennt durch einen öffentlichen Platz, dem Hauptzugang zu beiden Häusern. Im Innern schuf Paillard spektakuläre Räume wie das Foyer, das die Besucherinnen und Besucher in einer ausladenden Geste über die kaskadenartige Treppe bis in den Theatersaal im ersten Obergeschoss leitet. Holzdecken aus kalifornischem Redwood, lederbezogene Handläufe und eine funkelnde Beleuchtung stehen in Kontrast zu den Wänden aus rauem Sichtbeton. Ästhetik, Nutzung und Wirkung vereinen sich perfekt.

Umstritten, bewährt, bewahrt

Der Bau, den Paillards Büro CJP (Cramer, Jaray, Paillard) nach dem Wettbewerbsgewinn 1961 realisieren konnte, steht heute als Objekt von nationaler Bedeutung unter Denkmalschutz. Nach rund 50 Jahren Betrieb ohne nennenswerte Instandsetzungen stand nun eine Generalüberholung an. Das Planerwahlverfahren für diese Aufgabe konnte 2014 das St.Galler Büro Gähler Flühler Fankhauser Architekten für sich entscheiden. Ihr Ansatz: So viel machen wie nötig, so wenig wie möglich. Eine etablierte Methode möchte man meinen, doch zunächst keine Selbstverständlichkeit: Obwohl man hier eine Ikone der Schweizer Nachkriegsmoderne sein Eigen nennt, lancierte die kantonale St.Galler SVP eine Kampagne für den Abriss des Baus.

Doch die in diesen Fällen oft gezückte Trumpfkarte «Kosten» stach nicht. Der Abbruch und Neubau wurde auf 150 Mio. Franken geschätzt – dreimal so teuer wie eine Instandsetzung und dies sogar inklusive des Provisoriums, das den Theaterbetrieb für die Zeit der Bau­arbeiten gewährleistete. Letzteres entwarfen und planten ebenfalls Gähler Flühler Fankhauser Architekten an der Westseite der Tonhalle, gebaut wurde die Holzkon­struktion von Blumer Lehmann aus Gossau. Die St. Galler Bevölkerung entschied sich im März 2018 mit 62 % überraschend deutlich, den für die Instandsetzung und Erweiterung veranschlagten Kredit von 48.6 Mio. Franken gutzuheissen.

Räumlich funktionierte das Theater – übrigens das älteste bestehende Berufstheater und gleichzeitig das ökonomisch erfolgreichste Mehrspartenhaus der Schweiz – grundsätzlich bis heute, auch wenn der Platz zunehmend knapp wurde. Doch auf der technischen und der konstruktiven Ebene bestand spätestens seit den 2010er-Jahren Sanierungsbedarf. Es galt, die Ge­bäu­de- und Bühnentechnik zu modernisieren, den Brandschutz zu verbessern und die Erdbebensicherheit zu gewährleisten sowie zusätzlich benötigten Raum für Garderoben, Mas­ken­räume, das Bühnenbildlager oder den Ballettsaal zu schaffen.

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Kompromisse und Entdeckungen

Bei einem in sich geschlossenen skulpturalen Volumen wie diesem zusätzlichen Raum zu schaffen, ist schwierig. Die Architektinnen und Architekten entschieden sich zum einen, die bestehende Substanz besser zu nutzen. So transformierten sie beispielsweise den Luftschutzkeller im Untergeschoss zu Garderoben für die Mitarbeitenden. Doch diese Flächen reichten nicht aus, es musste eine Erweiterung her. Hier kam die Denkmalpflege ins Spiel: Gemäss der Charta von Venedig sollen sich historischer Bestand und neu hinzugefügte Elemente formal unterscheiden, damit die Veränderungen am Bau ablesbar sind. Doch in St. Gallen entschieden die Beteiligten in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege, die Architektursprache von Claude Paillard wieder aufzunehmen und in seinem Sinne weiterzuent­wickeln – zugunsten des Gesamtkunstwerks und auch, weil es sich gemessen am Gesamtvolumen um eine relativ kleine Erweiterung handelt.

Umstrittener war der Ort des Anbaus. Als in ihren Augen einzig logische Position schlugen die Architekten den Eingangsbereich an der Nordfassade vor. Mit einem Anbau an dieser Stelle konnte nicht nur zusätzlicher Platz geschaffen, sondern vor allem auch ein Problem in der Erschliessung gelöst werden, die bestehende Treppe reichte nämlich nur bis ins zweite Obergeschoss. Um von ihren Garderoben in den höher liegenden Räumen auf der Westseite zum Bühnenzugang auf der Ostseite zu gelangen, mussten die Schauspielerinnen und Schauspieler jeweils den Weg durch das gesamte Haus nehmen. Die Planer schlugen also vor, die bestehende Autovorfahrt abzubrechen und durch eine Erweiterung zu ersetzen – dies auch vor dem Hintergrund, dass die Vorfahrt seit einer Verkehrsberuhigung nur noch sehr eingeschränkt genutzt wurde.

Doch hier stellte sich die Denkmal­pflege zunächst quer, der Bestand sollte in seiner ursprünglichen Form bewahrt werden. Die Architekten ergriffen daraufhin die Initiative und konsultierten die Originalpläne, die im Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur gta an der ETH Zürich in Claudes Paillards Nachlass lagern. Tatsächlich konnten sie nachweisen, dass Paillard diese architektonisch unattraktive gedeckte Zufahrt ursprünglich gar nicht vorgesehen hatte. Sie kam als Auflage der Bauherrschaft während der Planung dazu. Mit diesem Wissen als Grundlage liessen sich der Abbruch und Neubau an jener Stelle plausibel begründen.

Ein weiterer wichtiger Punkt betraf die Fassade. Sie überzeugte vor allem optisch nicht mehr. Vor etwa 25 Jahren hatte man den Sichtbeton mit einem schützenden Poren-Lunker-Verschluss versehen, dessen Lebensdauer nun abgelaufen war. Das Büro entschied, die marode Beschichtung abzutragen und den darunterliegenden Sichtbeton zu sanieren. Keine einfache Aufgabe, da der Beton seinerzeit von Hand vor Ort gemischt wurde und dementsprechend in Farbe und Aussehen variiert.

Hightech-Akustik statt baulicher Massnahmen

Seit Juni 2023 ist der Umbau abgeschlossen, am 22. Oktober wird das Theater offiziell wieder eröffnet. Im Innern ist von den umfangreichen Arbeiten kaum etwas zu spüren. Dass im Hintergrund umfassende Asbest­sanierungen stattfanden und unter anderem die gesamte Gebäude- und Elektrotechnik erneuert wurde, wissen lediglich die Beteiligten.

Ein weiterer Eingriff betraf die Bühnentechnik: Die ursprünglich dafür vorgesehenen Massnahmen wurden im wahrsten Sinne des Wortes von der Realität eingeholt. Durch die lange Planungszeit von rund zehn Jahren hatten sich die Technologien für Beleuchtung und AV-Medien so weiterentwickelt, dass die Planung während der Bauzeit angepasst und die Finanzierung ergänzt werden musste. Pragmatisch hingegen ging man bei der Akustik vor: Claude Paillard hatte seinen Thea­tersaal von der visuellen Ebene aus konzipiert. Die Bühne, die sich zum Saal hin öffnet, mag in Bezug auf eine optimale Sicht für die Zuschauerinnen und Zuschauer sinnvoll sein. Auf akustischer Ebene hingegen sind die sich gegenüberliegenden parallelen Wände ungeeignet, ebenso wie deren Materialisierung in Sichtbeton.

Tatsächlich kam den Planerinnen und Planern hier die lange Bauzeit zugute. Statt aufwendiger baulicher Massnahmen, die die gewünschte Nachhallzeit trotz allem Aufwand nur um einen Bruchteil verbessert, den Raum aber stark verunklärt hätten, entschied man sich für ein elektroakustisches Raumsimulationssystem. Hier nehmen winzige, von der Decke hängende Mikrofone den Ton auf, der anschliessend via Lautsprecher wieder in den Saal übertragen wird – vergleichbar mit dem Dolby-Surround-­System im Kino.

Einen ähnlich niederschwelligen Ansatz wählte man bei der Bestuhlung: Die rund 740 Theatersitze wurden bis auf den Holzrahmen zurückgebaut, für einen höheren Sitzkomfort neu gepolstert und bezogen. Der Stoff wurde dem Original entsprechend in einer robusteren Webtechnik nachgewoben. Eine Idee, die Claude Paillard vermutlich gefallen hätte. Er schrieb anlässlich der Eröffnung 1968 in der Zeitschrift Bauwelt: «Als wichtigstes Merkmal des Neubaus kann die Tatsache gelten, dass es ein massvolles Haus ist.»

Das gilt auch heute noch. Statt prunkvoller Dekoration setzte Paillard ganz auf die Kraft der Architektur: Das Hexa­gonraster bildet das Grundgerüst, die «promenade architecturale» sorgt für die Inszenierung, die reduzierte, aber kontrastreiche Materialisierung für das Drama. Gähler Flühler Fankhauser Architekten hatten die Weitsicht, diese Qualitäten zu erkennen, zu schätzen und zu stärken, ohne den Drang, sich mit der In­stand­setzung und Erweiterung selbst ein Denkmal zu setzen. 

Dieser Artikel ist auch erschienen in TEC21 34–35 «The Show Must Go On».

Anmerkung

1 Hannes Ineichen (Hg.), Claude Paillard. Bauten und Projekte 1946–1997, Blauen: Schweizer Baudokumentation Docu AG 2002, S. 128.

Instandsetzung und Erweiterung Theater St. Gallen

 

Bauherrschaft
Hochbauamt des Kantons St. Gallen


Betreiber
Konzert und Theater St. Gallen


Architektur / Baumanagement
Gähler Flühler Fankhauser Architekten, St. Gallen


Tragkonstruktion/Sichtbeton
Bänziger Partner, St. Gallen


HLKK-Planung
Kempter + Partner, St. Gallen


Elektroplanung
Inelplan, St. Gallen


Sanitärplanung
Cioce, Rorschach


Bauphysik
Studer + Strauss, St. Gallen


Lichtplanung
LLAL, St. Gallen


Raumakustische Beratung
applied acoustics, Gelterkinden


Brandschutz
SJB Kempter Fitze, Gossau


Bühnenplanung
Planung AB, Luzern


Gastroplanung
Ruedi Menet, Walzenhausen


Schadstoffplanung
CSD Ingenieure, St. Gallen


AV-Medien-Planung
Tingo, Rapperswil-Jona


Fassadensanierung
Durrer Systems, Küsnacht


Kunststeinböden Foyer
Bärlocher Steinbruch, Staad


TU Theaterprovisorium
Blumer Lehmann, Gossau SG

Magazine

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