Ei­ne ro­bus­te Struk­tur

Das Theater St. Gallen wurde erweitert und instand gesetzt. Es war eine grosse ingenieurtechnische Herausforderung, die Sichtbetonfassade ­schonend zu reparieren, das Gebäude nur mit lokalen Eingriffen gezielt zu ertüchtigen und einzelne Tragelemente mit Rücksicht auf die Funktion im Gesamttragwerk den neuen Anforderungen anzupassen und zu ergänzen.

Publikationsdatum
20-10-2023

Das Theater St. Gallen ist ein Sichtbetonbau, der aus einem komplexen Stahl­betontragwerk besteht – ein Faltwerk mit verschachtelter räumlicher Tragwirkung, das der Bauingenieur Paul Wenk in den Jahren vor der Eröffnung am 15. März 1968 mithilfe von 13 Plexiglasmodellen bemessen hat. Diese Modelle dienten dazu, das Verhalten von Tragstrukturen unter Belastung zu analysieren. Dies geschah, indem Lasten auf das Modell aufgebracht wurden. Die resultierenden Dehnungen beziehungsweise Spannungen im Modell wurden dann mittels Dehn- und Deformationsmessungen sowie unter Einsatz photoelastischer Materialien analysiert und so Zonen hoher Beanspruchung identifiziert. Diese Modelle, hergestellt im 1960 in Betrieb genommenen Laboratorium für experimentelle Statik an der ETH, halfen Wenk, das komplexe und komplizierte Verhalten der Tragstrukturen zu verstehen, das Kräftespiel dieser räumlichen Problemstellung zu erfassen und letztlich auch die einzelnen Tragelemente zu optimieren. So entstand das zweischalige, äusserst robuste Tragwerk mit Aussen- und Innensichtbetonwänden, wie es sich auch heute noch nach 55 Jahren zeigt.

Allerdings war das unterdessen denkmalgeschützte Bauwerk mit der konsequent hexagonalen Geometrie in die Jahre gekommen und instandsetzungs- sowie erweiterungsbedürftig. Das Volumen sollte an­spruchsvoll erweitert, das Tragwerk erdbebenertüchtigt, zwei Decken angehoben und die Sichtbetonfassade erneuert werden. Dabei hatte jeder Eingriff – mochte er architektonischer, gebäudetechnischer oder statischer Natur sein – Auswirkungen über das betreffende Tragelement hinaus. Die Modellierung des Tragwerks als Ganzes war erforderlich – dieses Mal aber mit modernen, digitalen Hilfsmitteln, und alle Eingriffe sollten mit der Denkmalpflege abgestimmt werden. Nicht zuletzt hatte die Umsetzung all dieser Massnahmen wegen des Theaterbetriebs in einem engen Zeitfenster zu erfolgen.

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Das Theater St. Gallen wurde nach über 50 Jahren Nutzung instand ­gesetzt – eine Gratwanderung zwischen behutsamer Korrektur und beherzter Intervention.

Tragstruktur als begehbare Skulptur

Der Bestand präsentiert sich als ausgesprochen komplexes Ingenieurbauwerk, das beim Entwurf und der Erstellung eine enge Zusammenarbeit zwischen Architekt Claude Paillard und Ingenieur Paul Wenk erforderte. Die geometrisch sechseckige Auslegung des Gebäudes führte zu herausfordernden Winkeln von 120° und 60° in Grundrissen, Treppen, Untersichten und tragenden Elementen wie Stützen und Wänden, was das Armieren und Betonieren erschwerte.

Das statische System ist äusserst vielschichtig und kann nicht allein mit herkömmlich funktionierenden Bauelementen wie Balken, Platten, Stützen und Scheiben verstanden werden. Wände sind Träger, Brüstungen sind Abfangträger, Stützen sind Zugelemente, Kerne hoch auf Druck belastet. Tragelemente sind oft vorgespannt und beinhalten entsprechend einbetonierte Vorspannkabel. Kein Raumelement in dieser begehbaren Skulptur kann spontan der richtigen Tragfunktion zugeordnet werden.

Das statische System und die verzahnte Trag- und Raumstruktur erschliessen sich erst nach eingehender Analyse der bestehenden Pläne – über 1000 an der Zahl – und den neu erstellten Finite-Elemente-Modellen. Diese Arbeit erforderte für den aktuellen Umbau eine aufwendige und einjährige Vertiefung in den Bestand und die bisherigen Eingriffe (vgl. «Bisherige Eingriffe», S.26). Erst danach konnte die Gesamtinstandsetzung erfolgen.

➔ Bisherige Eingriffe
Vor dieser aktuellen Gesamtinstandsetzung waren vor allem Umbauarbeiten von Teilbereichen sowie einzelne Instandsetzungsmassnahmen durchgeführt worden. Dazu gehörten beispielsweise die Umnutzung des Fundus im Jahr 1995, die Erweiterung des Orchestergrabens 1996 sowie die Erneuerung der Bühnenmaschinerie im Jahr 2000, die die Verstärkung von Aufhängungen sowie Verankerungen und die thermische Trennung der Stahlhauptträger von der Bühnenturmwand erforderten. Überprüfungen, Berichte und Instandsetzungen aller abgehängten Konstruktionen über dem Zuschauerraum wurden in den Jahren 1990, 1992 und 1997 vorgenommen, wobei man alte Halfeneisen-Verankerungen durch hinterschnit­tene Anker ersetzte. Ausserdem wurden bereits in den Jahren 1988 bis 1991 Instandsetzungsmuster am Sichtbeton und 1994 eine umfassende Zustandsanalyse der Fassaden mit Berichten und Kostenveranschlagungen durchgeführt.

Originaler Sichtbeton wieder sichtbar

Die Instandsetzung der Fassaden war ein diffiziles Unterfangen, das sowohl den Sichtbeton des Bestands als auch den der Erweiterung betraf. Bereits von 1996 bis 1998 war die damals 30-jährige Sichtbetonfassade gesamthaft instand gesetzt worden. Wie damals üblich, wurde ein Poren-Lunker-Verschluss (PLV) appliziert und die Oberfläche hydrophobiert, um verschiedene Flickstellen, Verfärbungen und Betonabplatzungen zu überdecken und ein einheitliches Erscheinungsbild zu erzielen. Die Schäden waren hauptsächlich auf die Korrosion der Bewehrungseisen zurückzuführen. Um dieses Problem zu beheben, erfolgte vor 25 Jahren der Abtrag des beschädigten Betons, gefolgt von der Entrostung der darunterliegenden Bewehrung und die anschliessende Neufüllung mit Mörtel beziehungsweise die Reprofilierung der Oberfläche.

Um die weitere ­Korrosion zu verlangsamen, wurde auch eine elektro­chemische Behandlung – eine Realkalisierung – ­auf etwa der Hälfte der Fassadenoberfläche angewandt, insbesondere dort, wo die Bewehrung im karbonatisierten Bereich lag oder bereits angerostet war. Diese Methode stellt direkt an der Bewehrung wieder eine Schutzschicht her und bringt eine korrosionshemmende Lösung in die Betonporen ein. Nach etwa einer Woche Behandlung waren alle Bewehrungseisen vor weiterer Korrosion geschützt.

Diese Instandsetzung verdeckte aber seither die charakteristische Holzbretterschalung des Sichtbetons. So war der PLV bestimmt nicht in allen Belangen die ideale Lösung. Ausserdem alterte er schlecht und genügte den ästhetischen Anforderungen bald nicht mehr. Die nur wenige Millimeter dünne, hochzementöse Spachtelung konnte nur kleine Spannungen aufnehmen, weshalb sich Risse gebildet hatten, in denen sich Wasser ansammelte. Aber der PLV konnte die ­darunterliegende Sichtbetonfassade während über 20 Jahren effektiv konservieren, und sie wurde damals nicht durch weitergehende Massnahmen zerstört.

Die aktuelle Fassadeninstandsetzung zielte nun darauf ab, die originale Fassadenstruktur wieder zum Vorschein zu bringen, technische Mängel wie Risse oder Schwachstellen zu beheben und sie mit einer weiterentwickelten Technologie dauerhaft vor Witterung zu schützen. Die Herausforderung bestand darin, eine Methode zu finden, um den alten Beton schonend wieder zu zeigen und gleichzeitig für die Zukunft zu konservieren. In einem aufwendigen Auswahlprozess und Ausschreibungsverfahren wurden verschiedene 1:1-Musterflächen behandelt, bis die richtige Methode und das Unternehmen mit den entsprechenden Fähigkeiten gefunden waren.

Die Tests zeigten, dass der PLV tatsächlich vorsichtig im Wasserjet-Verfahren entfernt und die darunterliegende, grösstenteils noch intakte Betonoberfläche mit Brettstruktur zum Vorschein gebracht werden konnte. Dadurch wurden die unterschiedlichen Farbtöne des ursprünglichen Betons, alte Flickstellen und Kiesnester sichtbar. Diese Variabilität ist auf die Witterungseinflüsse und auf den damaligen Bauprozess zurückzuführen, bei dem der Beton vor Ort gemischt wurde. Das lebendige Erscheinungsbild des Sichtbetons war in diesem Fall heute wieder erwünscht. Diese Charakteristik sollte bewahrt und gleichzeitig die Schäden behoben werden.

Letztendlich wurde die 4500 m² grosse Fassade während 13 Monaten mit einer pigmentierten Steinmehl-Lasur behandelt, um die allzu markanten Farbunterschiede des Betons – vor allem zwischen Bestand und Erweiterung – auszugleichen und das ursprüngliche Erscheinungsbild wiederherzustellen. Dieses Verfahren erwies sich nicht nur als ästhetisch überzeugend, sondern war auch kostengünstiger und risikoärmer als eine vollständige Erneuerung der Sichtbetonfassade, beispielsweise mit Abtrag und anschliessender Vorbetonierung, was im Rahmen der Instandsetzung ebenfalls in Betracht gezogen worden war. Die Fassadenbehandlung schloss auch die 2000 m² grosse Sichtbetonfassade des zweischaligen Erweiterungsbaus mit ein, der am Foyer im Erdgeschoss ansetzt.

Bei der Herstellung des neuen Sichtbetons wurde eine Betonsorte verwendet, die eine weichere Konsistenz aufweist und längere Aushärtezeiten erfordert. Sein Schwindverhalten und die damit verbundenen Schwindrisse werden dadurch stark verbessert, was für die Erfüllung der hohen Anforderungen an die Sichtbetonfassade entscheidend ist. Die Verarbeitbarkeit ist deutlich besser und das Einbringen in die Schalung dank der höheren Fliessfähigkeit einfacher. Das Risiko von Kiesnestern und übermässiger Lunkernbildung kann somit stark reduziert werden.

Um die geeignete Betonsorte auswählen zu können, wurden ebenfalls Musterwände erstellt und mit der bestehenden Bausubstanz verglichen. Dabei achtete man darauf, dass eine Betonsorte mit möglichst gleichem Grauton zum Einsatz kam, damit die erforderliche kosmetische Nachbearbeitung und Angleichung an den Bestand gering ausfielen. Schliesslich konnte ein Beton zur Anwendung gebracht werden, der sowohl den ästhetischen Anforderungen der Architekten als auch den materialtechnischen Vorgaben der Ingenieure gerecht wurde. Dank der fachmännischen und kompetenten Umsetzung des ausführenden Unternehmers wurde eine sehr hohe Qualität erzielt. Die beiden Gebäude sind nun nicht nur optisch verbunden, sondern auch statisch zu einem monolithischen Ganzen verschmolzen.

Tragwerksverständnis ist essenziell

Am bestehenden Tragwerk waren kaum Ertüchtigungen notwendig, weil die Bauingenieure mit vertieften Analysen aufzeigen konnten, dass das Bauwerk robust ist und auch heute noch den Anforderungen der gültigen Normen entspricht. Insbesondere stellten sie fest, dass das Gebäude auch den aktuellen und seit der Erstellung erheblich verschärften Erdbebenanforderungen standhält. Dies obwohl – oder gerade weil ­– eine äusserst komplexe, verschachtelte Tragstruktur vorliegt, mit indirektem Kräftefluss und mit wenigen vertikalen Trag­elementen, die das Gebäude von unten nach oben durchziehen.

Für die Analyse im räumlichen Finite-Elemente-Modell wurden sämtliche relevanten Bauteile berücksichtigt, wobei beispielsweise auch die Sitzränge der Tribüne als schief angeordnete Schalen in Stahl­beton wesentlich zur Aussteifung beitragen. Die In­ves­tition in eine detaillierte Modellierung und Analyse des Gebäudes zahlte sich aus, da dadurch erhebliche Kosten für Ertüchtigungsmassnahmen eingespart werden konnten. Notwendig blieben einzelne punktuelle Verbesserungen, so insbesondere die Auflagersicherung der abgefugten und mit sehr geringen Auflagerbreiten von nur 7 cm ausgebildeten Deckenauflager.

Im Rahmen der Instandsetzung wurde die Auflagersicherung dieser Deckenränder je nach Zugänglichkeit und Sichtbarkeit der Betonoberfläche mit Stahlwinkeln oder eingebohrten Zugankern gewährleistet. Ebenso mussten auch die vorgesetzten beziehungsweise vorgehängten Sichtbetonfassaden erdbebentauglich gestaltet werden. So ist die Aussenfassade heute über Zuganker mit der inneren, tragenden Stahlbetonwand verbunden. Der Eingriff geschah von aussen über die Sichtbetonfassade; nach einer kosmetischen Bearbeitung sind die Angriffsstellen nicht mehr sichtbar.

Seit jeher robust

Im Zuge der Erweiterung musste die Lage einiger Decken erhöht werden. Dies, um den Transport grösserer Bühnenbilder zu ermöglichen und den Tänzerinnen und Tänzern im Ballettzimmer das Üben von Hebefiguren zu erlauben, ohne sich an der Decke den Kopf zu stossen. Die betroffenen Decken wiesen Spannweiten von bis zu 20 m und im Grundriss abgewinkelte Deck­enabsätze auf, die bei der Erstellung als Differenzträger ausgebildet worden waren. Das Anheben der Decken beziehungsweise ihr Abbrechen und Neuerstellen erforderte daher wiederum komplexe Massnahmen.

Im Bühnenbildlager beispielsweise reduzierte sich die statische Höhe des Differenzträgers aufgrund des geometrischen Korsetts. So musste er neu wesentlich breiter und mit einer Vorspannung ausgebildet werden. Um das Gewicht in den weit gespannten Deckenfeldern – und damit auch die Belastung des neuen Differenzträgers – zu reduzieren, wurden die neu erstellten Decken analog den bestehenden mit Hohlkörpern ausgeführt.

Mit den neuen Leitungen für die Gebäudetechnik musste auch eine Vielzahl von Durchbrüchen erstellt werden. Bei allen Eingriffen ins bestehende Tragwerk bestand die Herausforderung darin, die Auswirkungen auf das Gesamttragwerk zu beurteilen. Die originalen statischen Berechnungen des Ingenieurbüros Zähner + Wenk1 aus den Jahren 1964 bis 1967 lagen nicht vor, und die Zusammenhänge mussten anhand von Schalungs- und Bewehrungsplänen rekonstruiert werden. Die genaue Kenntnis der vorliegenden Baupläne war daher bei dieser minutiösen Rekonstruktion der strukturellen Zusammenhänge entscheidend. Jeder Eingriff hatte das Potenzial, die Tragkonstruktion zu schwächen, wenn er nicht sorgfältig geplant wurde.

Ein wichtiger Grundsatz in der Ausführung war, dass keine Eingriffe ohne Rücksprache mit dem Ingenieurbüro vorgenommen werden durften. In den vielfach vorgespannt ausgebildeten und teilweise sehr hoch beanspruchten Wandscheiben gab es auch Bereiche, wo solche Eingriffe gänzlich untersagt waren. Der projektierende Bau­ingenieur Stefan Köppel von Bänziger Partner sagt es treffend: «Die Planung und Umsetzung der Eingriffe erforderten eine intensive Auseinandersetzung mit der Tragweise der bestehenden Struktur.» 

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 34–35 «The Show Must Go On».

Anmerkung

1 Nachfolgeunternehmen: Ingenieurbüro Borgogno Eggenberger + Partner

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