Stand­fest ge­fügt

Doppeltes Faltwerk

Die Autoren erstellen den Neubau des Théâtre de Vidy bei Lausanne als zweischichtiges Holz-Faltwerk aus Mehrschichtplatten. Die Konstruktion kommt mit Holz-Holz-Verbindungen aus. Neu dabei sind mit Computerhilfe vorgefertigte Schwalbenschwanzverbindungen der Platten.

Publikationsdatum
01-06-2017
Revision
01-06-2017

Der neue Holzbau für einen Theatersaal in Vidy nimmt derzeit Gestalt an. Er liegt neben dem Theater, das Max Bill als Provisorium für die Expo 64, die Landesausstellung von 1964, entwarf (vgl. Situationsplan). Als Ersatz für den provisorischen Zeltbau wünschte die Bauherrschaft eine repräsentative, gedämmte und akustisch vorteilhaftere Spielstätte. Sie sollte ausserdem zu dem bestehenden Kubus von Max Bill passen, sich aber in Form und Material davon unterscheiden. Das durch das Institut du bois (IBOIS) sowie den Architekten des Atelier Cube erarbeitete Projekt, ein rasch zu erstellendes Faltwerk aus Holz als innovative architektonische Struktur, umweltfreundlich und zerlegbar, stiess auf Interesse.

Der neue Theatersaal verbindet Konstruktion und Formgebung zu einem selbstverständlich wirkenden Faltwerk. Die Verbindungstechnik geht auf eine der ältesten Methoden im Holzbau zurück, nämlich auf Holz-Holz-Verbindungen (Schwalbenschwanzverbindungen). Diese nutzt die Form von Bauteilen, um Kräfte zwischen ihnen zu übertragen. Das IBOIS der EPF Lausanne hat solche traditionelle Holzplattenverbindungen erforscht und in den baulichen Massstab übertragen. Die so entstandene neuartige Methode ermöglicht es, den Neubau beim Théâtre de Vidy als gefaltetes Plattentragwerk unter minimem Einsatz von Metallverbindern und Leim zu erstellen. Diese Befestigungstechnik ist selbst ein Beispiel von komplexeren, zweifach gekrümmten, gefalteten Flächentragwerken, die aus einer grossen Anzahl unterschiedlich geformter Bauteile bestehen.

Computerberechnete Verbindungen

Grundlage für die Konstruktion ist ein neu entwickeltes CAD-Plugin, mit dem integrale Zapfenverbindungen automatisch berechnet werden können.​ Diese Zapfenverbindungen dienen als Fügehilfe für den schnellen und präzisen Zusammenbau einer grossen Anzahl unterschiedlich geformter Bauteile und übertragen gleichzeitig Kräfte.​

Die Form der Zapfen erlaubt nur eine Einschub­richtung (vgl. Abb.). Somit kann die einzig mögliche ­Position der Bauteile in der Konstruktion in die vor­gefertigte Verbindung eingebettet werden. Diese Verbindungstechnik erlaubt den schnellen und präzisen Zusammenbau eines Tragwerks mit einer doppelt gekrümmten Gesamtform. In einer Forschungsarbeit ­wurde gezeigt, dass sich durch derartig optimierte Faltformen die Verformungen unter Last um bis zu 40 % reduzieren lassen. So können auch grosse, stützenfrei​e Spannweiten mit dünnen Platten überspannt werden.

Eine weitere Entwicklung, mit der sich die Anzahl unterschiedlicher Kantenverbindungen nochmals deutlich erhöht, sind zweischichtige Faltwerkskonstruktionen aus Holzplatten. Für diese erlaubt eine neuartige Verbindungstechnik mit Doppelzapfenverbindern eine vollständige integrale Fügung. So lassen sich entlang gefalteter Kanten alle vier Platten direkt miteinander verbinden, wobei die Doppelzapfen auch als Abstandshalter zwischen den beiden Schichten dienen und Scherkräfte aufnehmen (vgl. Abb.).

Ein Prototyp mit dünner Schale

Die Konstruktion für das Théâtre de Vidy ist eine Weiterentwicklung auf Basis vorheriger Prototypen (vgl. «Entwicklung statt Superlativen»). Die zweischichtige Konstruktion nutzt die Möglichkeit der integralen Verbindungstechnik aus, besonders dünne Plattenquerschnitte miteinander zu verbinden. So kann das Tragwerk eine Distanz von 16 bis 20 m stützenfrei, mit einer Plattenstärke von nur 45 mm überspannen. Der Abstand zwischen den beiden Schichten beträgt 300 mm von der Oberseite der äusseren Plattenlage bis zur Unterseite der inneren Plattenlage. Der hohle, 210 mm tiefe Zwischenraum bietet Platz für die Dämmung, die über ­Bohrungen in der oberen Plattenlage vor Ort eingeblasen wird.

Somit bietet die doppellagige Konstruktion zusätzlich zu den statischen Eigenschaften einen Vorteil gegenüber einer einschichtigen Konstruktion mit dickeren Platten. Letztere erfordert zwar eine weniger anspruchsvolle Geometriegenerierung und Fügung, aber eine deutlich komplexere Feststoffdämmung, die in einem derart geformten Faltwerksdach nur mit hohem Aufwand zu realisieren wäre. Im Zwischenraum eingelegt sind zudem Feuchtemesser, die im Fall eines Eindringens von Wasser in die Konstruktion einen Alarm auslösen. Damit lassen sich frühzeitig Massnahmen einleiten, um einen Schadenfall zu verhindern.

Der Grundriss des Theaters überdeckt zwischen den zwei gefalteten, 9 m hohen Wandkonstruktionen eine Grundfläche von 538 m2. Die Grundform der Dachkonstruktion basiert im Gegensatz zu den vorherigen Prototypen auf einer nicht abwickelbaren Form. An den Knotenpunkten des Polygonnetzes treffen sich sechs Kanten, und ihre Position in der Längsachse des Gebäudes folgt drei verschiedenen Kreisbögen, von denen die zwei äusseren auf unterschiedlicher Höhe in der vertikalen Schnittebene des Gebäudes liegen. Diese asymmetrische Form ermöglicht unter anderem den Ablauf des Regenwassers.

Fügen und Verbinden

Der Aufbau des Gebäudes erfolgt in elf Achssegmenten (vgl. Abb.). Jedes Segment wird mit zwei Wandelementen und einem Dachelement vorgefertigt. Vor Ort werden die Wandsegmente mit dem jeweiligen Nachbarsegment verbunden. Anschliessend wird das Dachsegment aus 20 in der Vorfertigung zusammengefügten Plattenbauteilen aufgesetzt (vgl. Abb.). Somit erfolgen 18 Fügungsschritte für jedes Achssegment, davon 17 in der Vorfertigung und einer auf der Baustelle. Bei der zweischichtigen Fügungstechnik existieren vier Schritte mit unterschiedlichen Zapfenformen, abhängig von der Position der Faltkante in der Konstruktion. In denselben Abständen wie die Zapfen wurden die bereits eingesetzten Platten in der endgültigen Position mit Schrauben fixiert. Dies ist lediglich für die Montage wichtig, vor allem während des Transports und des Aufbaus der vorgefertigten Elemente. Bezüglich Festigkeit ist diese Verschraubung unnötig.

Grundsätzlich wird zwischen zwei Situationen unterschieden. Im ersten Fall wird ein Segment mit einem und im zweiten Fall gleichzeitig mit zwei Nachbarsegmenten verbunden. Während im ersten Fall die Zapfen rechtwinklig zur Kante orientiert sind, wird im zweiten Fall eine Rotation der Zapfen innerhalb der Plattenebene nötig, sodass die Einschubrichtung aller Zapfen des Bauteils parallel ist (vgl. Abb.).

Ein Sonderfall liegt vor, wenn ein Bauteil mit Rechteckdurchbrüchen gleichzeitig auf vier Bauteile mit Zapfen- und Doppelzapfenverbindern aufgesteckt wird. Es ist nur möglich, diese Platte einzuschieben, wenn die Zapfen auf den vier anderen Platten parallel sind. Nachdem zwei dieser Platten sich aber auf unterschiedlich orientierten Ebenen befinden, existiert nur eine mögliche Einschubrichtung für die Platte mit den Durchbrüchen. Diese Richtung findet sich entlang der Verschneidung der Ebenen der zwei Nachbarsegmente.

Verbindungen experimentell untersucht

Die Theaterkonstruktion verhält sich mechanisch komplex, insbesondere mit dem anisotropen Material Holz. Aus diesem Grund wurden experimentelle Versuche durchgeführt, um die Festigkeit der Verbindungen zu untersuchen und die am besten geeigneten Holzwerkstoffplatten zu bestimmen. Im Fokus stand das Verhalten der Doppel- und der Einzelzapfenverbindungen unter einer Biegebeanspruchung. Diese ist in gefalteten Holztragwerken entscheidend. Mittels eines vereinfachten Finite-Elemente-Modells wurden die zu erwartenden Biegemomente ermittelt (vgl. Abb.).

Zuerst wurden die einschichtigen Zapfenverbindungen und die 45 mm starken Brettsperrholzplatten als am besten geeignetes Material untersucht. Dann erfolgten Biegeversuche mit dem tatsächlichen, zweischichtigen Aufbau. Hierbei ist die obere Schicht der Probekörper mit einem Einzelzapfen verbunden, während sich die beiden unteren Schichten mit einem Doppelzapfen durchdringen und im Anschluss mit der Oberschicht verbunden sind. In den Versuchen zeigte sich, dass die zweischichtige Ausführung die mechanische Effizienz erheblich steigert. Die Verbindung verhält sich dabei prinzipiell wie die einschichtige Variante: Um das Biegemoment auszugleichen, wirken zwei entgegengesetzte Kräfte, deren Intensität proportional zum Hebelarm ist. Bei einer einschichtigen Verbindung ist dies gleich der Plattenstärke von 45 mm. Bei der zweischichtigen Platte vergrössert sich der Wert auf ca. 250 mm. Hierdurch werden die Kräfte gegenüber der einschichtigen Variante auf ein Fünftel reduziert.

Tausende Zapfengeometrien erzeugt

Die Erzeugung aller Bauteile erfolgt automatisch mittels eines für das Projekt entwickelten CAD-Plugins1 mit den folgenden vier Eingabeparametern:

  1. einem einfachen, einschichtigen Polygonnetz mit planaren Dreiecksflächen für die Dach- und Vierecksflächen der Wandelemente. Mit dem Flächenmodell werden die Identifikationsnummern der Bauteile und Kantenverbindungen verwaltet.
  2. einer CSV-Textdatei (Comma-separated Value), in der die Parameter der Verbindungen verwaltet werden. Dies sind unter anderem Informationen zur Art der Verbindung an dieser Kante, die Einschubrichtungen für die integralen Zapfenverbindungen und weitere verbindungsspezifische Variablen.
  3. der Plattenstärke in Millimetern
  4. der Gesamttiefe des zweischichtigen Aufbaus, von der Unterseite der unteren Platte zur Oberseite der oberen Platte

Dieses CAD-Plugin erzeugt zwei Datenausgaben. Zum einen werden die 3-D-Bauteile im Gesamtmodell dargestellt, zum andern werden alle Platten auf der zweidimensionalen xy-Ebene des CAD-Modells flach ausgelegt. Aufgrund der 114 unterschiedlichen Winkel in der Faltform des Theaters sind diverse Schrägschnitte für die Herstellung der Bauteile erforderlich. Die ­Fabrikation der Teile erfolgt daher in einem 5-Achs-CNC-Bearbeitungszentrum.

Wegen der vielen konkaven Eckpunkte in den Polygonzügen, beispielsweise zwischen den Zapfen und bei den Durchbrüchen, bietet sich eine Bearbeitung mit einem Fingerfräser an. Die dafür notwendige 5-Achs- CNC-Simultanbearbeitung, die an ungefähr 500 verschiedenen Bauteilkanten mit Tausenden unterschiedlich geneigten Zapfengeometrien erforderlich ist, lässt sich mit CAM-Softwarelösungen für reguläre Holz­bauaufgaben nicht effizient erzeugen. Stattdessen kam ein spezielles CAD-Plugin zum Einsatz, das für die ­automatisierte G-Code-Generierung integral gefügter Holzwerkstoffplatten entwickelt wurde.

Datengrundlage für die Erzeugung des Maschinencodes sind Polygonkonturzugpaare. Nach der Auswahl eines Bauteils wird der G-Code für die Bearbeitung angezeigt. Gleichzeitig werden die Fahrwege der Maschine visualisiert, und eine Simulation der Maschinenbewegungen kann abgespielt werden.

Anmerkung
1 Entwickelt mit dem Software Development Kit (SDK), Rhino Commons und der Programmiersprache C#. Als Benutzerschnittstelle dient die Software Grasshopper, in der die Eingabeparameter der Konstruktion mit einer Visualisierung der 3-D-Bauteile bearbeitet und verändert werden können.

Dokumentation
Ein Film zur Konstruktion für ein doppeltes Schalendach aus Holz im Labor des IBOIS findet sich auf YouTube.

Am Bau Beteiligte


Bauherrschaft
Théâtre de Vidy, Lausanne


Entwicklung des Bausystems
IBOIS/EPFL, Dr. Christopher Robeller, Julien Gamarro, Prof. Yves Weinand


Architektur
Yves Weinand, Lausanne / Atelier Cube, Lausanne


Tragwerksplanung
Bureau d’étude Weinand, Lüttich (B)


Zimmerarbeiten
Blumer Lehmann, Gossau


Lieferung und Zuschnitt Mehrschichtplatten
Schilliger Holz, Küssnacht a. R.

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