Re­spekt­vol­le Krö­nung

Das Waadtländer Parlamentsgebäude von Atelier Cube im Zentrum von Lausanne ist eine Lektion in selbstbewusster Gestaltung im Zwiegespräch von Alt und Neu. Es fügt sich mit einem Zeltdach selbstverständlich in das mittelalterliche Ensemble und verbirgt nirgends seinen modernen Gestus.

Publikationsdatum
03-05-2018
Revision
03-05-2018

Das politische und historische Herz der Stadt Lausanne thront mit seiner Kathedrale, dem Schloss Saint-Maire, dem Grand Hôpital und dem Kantonsparlament hoch über der Place de la Riponne auf der Colline de la Cité, kurz «La Cité» genannt. Das Quartier wirkt wie eine beschauliche Insel im Treiben der hügelreichen Umgebung. Eine Ruhe, die in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 2002 jäh unterbrochen wurde: Das damals in Restaurierung befindliche klassizistische Parlamentsgebäude vom Architekten Alexander Perregaux von 1804 brannte ab.

Das war für Lausanne und die Waadt auch kunstgeschichtlich eine Katastrophe. Dennoch ergab sich so die Chance, das seit 1997 geplante Projekt einer Restaurierung und Erweiterung mit einem unterirdisch angelegten Saal über Bord zu werfen und aus der Not eine Tugend zu machen. Ein neuer internationaler Wettbewerb führte zum Projekt der Architekten Atelier Cube, Lausanne, und Bonell i Gil, Barcelona. Als Ingenieur für das Holzdach zeichnet Yves Weinand, Professor am IBOIS der EPFL, verantwortlich (vgl. Kasten unten).

Das Dach des Anstosses

Das Wettbewerbsprojekt von Marc Collomb und Esteve Bonell lief unter dem Namen «Rosebud». Ähnlich einer stilisierten Rosenknospe krönte ein asymmetrisch gestaltetes Dach mit Zinnblechen gedeckt den Saal. Allerdings wurde dieser wie eine moderne geometrische Skulptur gedachte Eingriff in die Silhouette der Cité zum Vorwand für alle, denen ein zeitgemässer Neubau in historischer Umgebung nicht gefallen wollte. Mit einer tief greifenden Umplanung des Projekts, einer Reduktion des Dachvolumens um einen Drittel, Verzicht auf die Asymmetrie und Ersatz des grauen Zinn­dachs durch heimische Ziegel kamen Bauherrschaft und Architekten einem drohenden Referendum zuvor.

Pierre Frey, Professor im Department ENAC der EPFL, verglich in seiner Kolumne1 vor der Eröff­nung diesen Kompromiss mit einer Narrenkappe, die eine freud­lose Konstruktion aus Leimholz berge. Aller­dings lässt sich über dieses Dach sehr wohl auch Gutes sagen. So fügt es sich zum Beispiel unaufgeregt in die Sil­houette der Cité ein; der sachlich geformte Saal mit dem Dach ohne  Pfetten und ­Sparren wartet nicht mit übertrieben festlichem Gepränge auf. Mit seinem golden schimmernden Birkenholz hat er jedoch einen ange­nehmen Charakter und eine her­ausragende Akustik. Bei klarer Sicht bietet er einen ­gross­artigen Panorama­blick über die Stadt bis hin zum ­Montblanc-Massiv am Süd­ufer des Genfersees.

Das neue Parlamentsgebäude der Waadt ist in Form und Gestaltung eine zeitgemässe Architektur, die den Dialog vom Bestehenden zum Neuen sucht und auch findet.

Neu und Alt geglückt verbunden

Nach dem Umbau verfügt das waadtländische Parlament über drei unterschiedliche Zugänge. Der Haupt­eingang findet sich von Osten her an der Rue Cité-Devant. Eine Fassade in der historischen Häuserzeile wurde dafür geopfert und damit das Foyer in dieser Richtung erweitert. Eine unübersehbare, drei Geschosse hohe Verglasung markiert nun diesen Eingang und setzt ein modernes Zeichen in die ruhige Altstadtgasse. Eine skulptural gestaltete Freitreppe aus Stahlträgern mit Eichenholztritten dominiert die hinter ihr liegende Halle und führt entlang einer nun frei sichtbaren, his­to­rischen Fassade aus dem Mittelalter in die oberen Etagen. In diesem Erdgeschoss lädt eine Buvette mit angrenzendem Garten zu informellen Treffen ein.

An ihrem Fuss leicht trichterförmig verbreitert, führt die Treppe in drei Läufen und Podesten auf angenehm zu begehende Weise ins erste Niveau, das ein Sitzungszimmer und Arbeitsräume im benachbarten Altbau erschliesst. Mit einem markanten Schwung, der den Blick zum südlich gelegenen Platz und zu einem weiteren verglasten Zugang lenkt, erreicht sie mit zwei weiteren Läufen das Hauptgeschoss, von wo aus das Plenum und die benachbarte Vorhalle zugänglich sind. Diese Treppenpromenade zeigt beeindruckend, wie sich die historische Bausubstanz mit der neuen betonierten Fassade und ihren frei verteilten Fensteröffnungen ganz selbstverständlich vereint. Im ganzen Bau bleibt der durch Schalungsbretter mit Sorgfalt geformte Beton sichtbar. Die Verbindung zwischen historischer und neuer Architektur ist ausnahmslos geglückt.

Während der Ratssitzungen ist der Zugang von einem kleinen, südlich neben dem umzäunten Garten gelegenen Eingang möglich, der mit Glas einladend gestaltet wurde. Und bei besonderen Gelegenheiten werden die drei Tore des ehemaligen Peristyls zur Esplanade geöffnet. Dieser Fassadenteil blieb nach dem Brand glücklicherweise erhalten – die reich verzierten Holz­tore aus der Bauzeit waren für eine Restaurierung ausgelagert. So kommt es, dass die klassizistische Pracht des «Fronton Perregaux» weiterhin die Esplanade prägt.

Hinter dieser Fassade liegt das vom Korri­dor zum Plenarsaal zugängliche grosse Vestibül, ein Schmuckstück besonderer Art. Die abgebrannte Holzdecke ist als stützenfreie Betondecke wieder auferstanden, die die ehemalige asymmetrische, historische Dachform in abstrahierter Weise aufnimmt. Der alte Steinboden aus halbrunden Kieseln wurde neu verlegt, weil darunter die Klimaanlage untergebracht ist. Es handelt sich um eine Arbeit portugiesischer Handwerker, die mit Geschick und Kenntnis den mit Sternen und Wappen verzierten Boden wiederhergestellt haben.

Der Saal als hölzernes Zelt

Der Zugang zum Parlamentssaal erfolgt über einen schlichten Korridor, und erst die verglaste Doppeltür erlaubt den Blick in diesen quadratischen Raum mit seinen in acht Sitzreihen mit Mittelgang angeordneten 157 Plätzen. Der mit Eichenparkett belegte Boden weist eine leichte Neigung in Richtung Präsidium auf.

Die zeltartige Decke ist mit raumgreifend gekreuzten, der konstruktiven Versteifung geschuldeten Platten aus Brettsperrholz gegliedert. Das im First gekappte Zeltdach erlaubt ein vierteiliges Oberlicht, das den Saal sanft erhellt. Das Panoramafenster in der südwestlichen Raumecke zieht den Blick an. Decke, Wände und Pulte sind mit Birkenholz gestaltet, die Schreibflächen be­stehen aus Linoleum. Die funktionale Gestaltung, das einfallende Tageslicht und die herausragende Akustik prägen dieses Herzstück der Anlage. Auffallend ist der bis ins Detail mit Sorgfalt ausgeführte Ausbau, ein Werk der auf Auditorien spezialisierten Firma André aus Yens.

Im Querschnitt wird sichtbar, dass die innere, zeltartige Decke über dem Saal nicht genauso geformt ist wie der pyramidenförmige Dachaufbau. Die über verdeckte Stahlplatten verschraubte Konstruktion gleicht eher einem unter dem Schutzdach liegenden Kuppeleinbau, wie er früher in Sakralbauten üblich war. Das mit regional produzierten Ziegeln aus Corcelles gedeckte Schutzdach kragt von 1.30 m bis auf Seite Garten drei Meter über die Fassade aus, schützt vor Regen und beschattet den Saal.

Anmerkung
1 Text von Pierre Frey auf www.espazium.ch


Wieder­aufbau des Waadtländer Parlaments
Symbolische Daten und patriotisches Holz

Am 24. März 2014 konnte der Grundstein für den Wieder­aufbau des Waadtländer Parlamentsgebäudes gelegt werden. Am 14. April 2017 – ein Karfreitag und der Jahrestag der ersten Session des Grossen Rates im Kanton Waadt am 14. April 1803 – wurde das neue Haus eingeweiht. Es ist Minergie-zertifiziert und von Lignum (Holzwirtschaft Schweiz) mit dem Herkunftszeichen Schweizer Holz ausgezeichnet. Nach dem Gezerre um die richtige Dachform dürfte jetzt die Freude über einen gelungenen Neubau überwiegen.

Kunst als Mittlerin zwischen Parlament und Volk

Im neuen Parlamentsgebäude der Waadt fällt eine künstlerische Intervention ins Auge. Weder Malerei noch Skulptur: «Vidéoconfiance» nennt sich die Arbeit von Anne-Julie Raccoursier. Rund 200 Bürger des Kantons – Junge und Ältere, Frauen und Männer, unterschiedliche Ethnien – blicken abwechselnd aus im Foyer verteilten Bildschirmen auf Besucher und Volksvertreterinnen. Diese Porträts erscheinen auf den ersten Blick wie Fotografien, erst beim zweiten Hin­sehen irritieren leichte Bewegungen vor allem der Augen­partien: Diese Porträts leben, sie sind gefilmt. Es wirkt, als könnten Betrachter und Porträtierte jederzeit in einen Dialog treten.
(Charles von Büren, Bautechnik/Design, Korrespondent TEC21)


Tragwerk und Konstruktion
Konstruiert wie ein Brettschicht-Origami

Die konstruktiven und statischen Massnahmen sind heute grösstenteils nicht mehr sichtbar, da sie vor allem dem architektonischen Gesamtbild dienen. Durch die gesamtheitliche Betrachtung aller Baumaterialien ergaben sich die konstruktiven Lösungen.

Ein bereits während der Wettbewerbsphase erstelltes Finite-Elemente-Modell des Plenarsaals beschrieb das mechanische Verhalten des aus Brettschichtholzplatten hergestellten Dach­stuhls, der darunter liegenden Massivkonstruktion sowie die Fundamente des Gebäudes. Damit konnte in der zwei­ten Wettbewerbsphase ein annäherndes Bild der Gesamtverformungen des Systems erstellt werden. Der Dachstuhl drückt die darunter liegenden, frei ­stehenden, 18 m langen Seitenwände des im Grundriss quadratischen Plenarsaals nach aussen. Nur durch die doppel­schalige prismatische Dachkonstruk­tion, die in sich mithilfe von Scheiben ausgesteift wird, liessen sich die an der Oberkante des Massivbaus angreifenden Horizontalkräfte stark reduzieren.

Mauerwerksunterfangungen

Das Finite-Elemente-Modell machte ebenfalls sichtbar, dass eventuell auftretende Setzungen der Gründungen vollständig zu vermeiden waren. Die Gründungen des neuen Parlaments­gebäudes liegen tiefer als diejenigen des 1803 errichteten Baus. In der Folge untermauerten Streifenfundamente das Bruchsteinmauerwerk – sie wurden zwi­schen dem vorhandenen Mauerwerk und dem darunter liegendem Weichfels (Molasse) in unterschiedlichen Höhen einbetoniert.

Aus­sergewöhnlich, aber verständlich war die Auflage der Architekten, diese Streifenfundamente sichtbar als monumentale Fussleiste gestalterisch einzusetzen. Sichtbar bleibende Betonabschnitte oder Vorsprünge im Mauerwerk mussten somit gemeinsam geplant werden. Dort, wo die alten Mauern neue Lasten nicht allein abtragen können, wurden Mikropfähle eingebaut. Die Unterfangung des Vestibüls war besonders schwierig, da seine Fassaden in der bestehenden und zu erhaltenden Situation ausgesteift waren und zusätzlich von neun Meter hohen, peripher an­geordneten Kellerwänden unterfangen werden musste.

Prismatischer Dachstuhl

Das Gebäude wird starken Wind- und Schneelasten ausgesetzt sein. Aufgrund der oben angesprochenen prismatischen Geometrie weist der Dachstuhl dennoch nur sehr geringe Verformungen auf. Für diese Steifigkeit sorgen grossfor­matige, in ihrer Fläche statisch wirk­same Brettschichtholzplatten. Ihre Dicke vari­iert von 16 bis 27 cm. Vor allem kamen Fünfschicht-, aber auch siebenschichtige Platten zum Einsatz.

Zur besseren Planung wurde der Dachstuhl mit einem CAD-Modell erfasst. Das vereinfachte die Kommunikation zwischen Holzbauingenieur und ausführendem Unternehmen. Insge­samt 52 unterschiedliche Anschluss­details (Betonwand/Stahlplatte, Stahlplatte/Holzplatte, Holzplatte/Holz­­platte) mussten entworfen, bemessen, gezeichnet und lokalisiert werden. Das 3-D-Modell beschreibt die dreidimensionale Geometrie des Dachstuhls, aber auch die­jenige jeder einzelnen Platte, und zeigt die Positionierung des Details. Der In­ge­nieur behält den Gesamtüberblick, und das Unternehmen profitiert von der Ex­port­funktion jeder Plattengeometrie zwecks Fertigung und der direkten Über­nahme von Daten, die in einer Bestellliste zusammengefasst werden können. Hierdurch sind even­tuelle Fehler bei der mechanischen Betrachtung (Verständnis des Kraftflusses in einer komplexen geometrischen Situa­tion), bei Fer­tigung und bei Bestellung vermeidbar.

Stahlhohlkastentreppe

Der architektonische Entwurf der Treppe verlangte eine monolithische Kon­struktion. Aufgrund ihrer Abmessungen musste sie jedoch zur Fertigung und Montage dreigeteilt werden. Der untere und obere Lauf sowie die Handläufe sind als Hohlkastenträger ausgebildet. Alle Stahlplatten der Treppe sind nur 5 mm stark, doppellagig verschweisst und in den Hohlräumen mittels Membranen ausgesteift.

Durch die Teilung entstand eine besondere Situation beim Zwischen­podest: Auskragende I-Träger mussten beim Massivbau mit einer Toleranz von +/– 5 mm einbetoniert werden. Auf diesen Trägern liegen unterer und oberer Lauf mit einer Toleranz von +/– 2 mm auf. Daraufhin wurden zur Wiederherstellung der monolithischen Situation von oben und unten eigens gefertigte dünnere Hohlkastenprofile flächig mit dem Podest verschraubt.
(Yves Weinand, Lüttich [B])

 

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