Ske­lett im Wein­berg

Nicht immer stösst Architektur auf Verständnis. Der Neubau, den dieterdietz.org in Chigny errichtet hat, sticht durch seine Tragstruktur, ein stählernes Exoskelett, aus der ortsüblichen Bebauung hervor. Gemeinsam mit Schnetzer Puskas Ingenieure entwickelten die Planenden ein ausgetüfteltes Tragkonzept aus Holz und Stahl.

Publikationsdatum
14-05-2020

Im Herbst 2018 schickte mir meine Mutter ein E-Mail: In dem beschaulichen Weinort Chigny, am Genfersee oberhalb von Morges, befinde sich ein «abscheuliches Haus» mit einem merkwürdigen, absolut fremdartigen Dach. Das Haus in Chigny irritiert meine Mutter ­vermutlich deshalb, weil es nicht in den Kontext dieses kleinen, ländlichen Weilers mit seiner Mühle, den alten Bäumen und malerischen Hecken zu passen scheint. Viele Leute lehnen sich gegen eine Architektur auf, die von dem abweicht, was zwei oder drei Jahrhunderte früher gebaut wurde.

Die Widersprüche, mit denen sich Architekten heute auseinandersetzen müssen, sind vielschichtiger, lautete mein Erklärungsversuch. Einerseits sollen sie sich den neuen energetischen Anforderungen und dem Klimawandel stellen, die Hausdächer also buchstäblich mit Solarmodulen decken. Andererseits müssen alle Technologien, die die Idealvorstellung einer ländlichen Idylle stören – oder zumindest das, was die Schweizer für das typische Landschaftsbild ihres Landes halten –, natürlich kaschiert werden. Technische Neuerungen, die dieses sensible Erbe gefährden könnten, werden geradezu als Verbrechen angesehen.

Dieses neue Haus vom Architekten Dieter Dietz war also ein riskantes Projekt. Es verdient unsere Aufmerksamkeit, weil es die Suche nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse verkörpert. Die Besitzer des Landguts, auf dem das so widersprüchliche Haus nun steht, haben sich eingehend mit Energiefragen und der Umsetzung entsprechender Konzepte in ihrem Haus befasst. Anstatt sich darauf zu beschränken, die Solartechnik als Element im Aussenbereich einzusetzen, baten sie den ­Architekten, sie als architektonisches Thema in das Projekt zu integrieren.

Mit dem Solardach beginnen

Das Büro von Dieter Dietz schlug sogar vor, mit dem Solardach zu beginnen. Also entwarf man gemeinsam mit Schnetzer Puskas Ingenieuren eine ­dreidimensionale Metallkonstruktion. Auf ihr ­ruhen 890 Module, die je 25 cm breit sind und je eine bis drei Photovoltaikzellen tragen. Ursprünglich wollten die Architekten die Solarpaneels von Michael Grätzel verwenden, mit denen das Convention Center der EPFL verkleidet wurde (vgl. «Facettenreiches Fachwerk»). Sie versprachen sich davon ein interessantes und vor allem leuchtendes Farbspiel auf dem Dach des Hauses. Letztendlich fiel die Wahl jedoch auf die von der Firma Swiss­INSO an der EPFL entwickelte, etwas diskretere Oberfläche Kromatix.

Natürlich hätten sich die Nachbarn gegen das Projekt ausgesprochen, verrät der Architekt. Die eher fortschrittliche Gemeindeverwaltung genehmigte es trotzdem. Die rhythmisch angeordneten Mo­dule sind so geneigt, dass ihre Kante und nicht die ­glänzende Oberfläche sichtbar ist, was dem Dach einen lebendigen Ausdruck verleiht, gleichzeitig aber auch mit den Ziegeln der Nachbarhäuser harmoniert. Früher war es die Aufgabe der Dachbedeckung, Regenwasser ablaufen zu lassen, heute soll sie auch Solarenergie produzieren.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in TEC21 13–14/2020 «Wohnhäuser in Stahl».

Beim Giebel der Metallkonstruktion haben die Architekten die Form des Dachgerüsts des benach­barten alten Weinkelters, des «Pressoir», aufgegriffen. ­Dabei ging es nicht darum, den Stil der Nachbarge­bäude zu imitieren, sondern die vorhandene bauliche Logik fortzuführen. Auch klimatische Aspekte im Innenraum haben bei dem Projekt eine Rolle gespielt. Der Eingangsbereich zwischen zwei diagonalen Streben der Struktur bildet gewissermassen eine klimatische Übergangs­zone zwischen innen und aussen, die auch als Wintergarten genutzt werden kann.

Das Haus ist wie ein Zelt konzipiert, an dem sämtliche Elemente – Fassaden, Fensterfronten und die obere Geschossdecke – abgehängt sind. Das «Zelt» – ­­ein massgeschneidertes Exoskelett – wurde von den Architekten gemeinsam mit der Bauherrschaft entworfen. Der Bauherr, selbst Metallbauer, übernahm mit seiner Firma dann auch die Produktion der Stahlbauteile. Die Ingenieure begleiteten die gesamte Planung eng, wobei die Fundation mit der Verankerung des Gebäudes im Boden mittels vier Y-förmiger Verbin­dungen, die in das Betonfundament geschraubt wurden, eine besondere Herausforderung darstellte (vgl.  «Wohnhaus Chigny, Tragstruktur»).

Übersetzung: Horner Translations

AM BAU BETEILIGTE / DATEN

Architektur
dieterdietz.org, Zürich/Lausanne

Tragwerksplanung
Schnetzer Puskas Ingenieure, Basel

Landschaftarchitektur
dieterdietz.org, Zürich

Stahlbau
Stahl- & Traumfabrik, Zürich (Detailentwicklung, Halterungen Sonnendach)

Photovoltaik
Ciel Photovoltaïque, Lausanne

Tragsystem
Exoskelett aus Stahl, Sparrendach montiert an Stahlunterkonstruktion, Holz-Stahl-Hybrid-Zwischendecke

Volumen
2559 m2

Fertigstellung
2016

Baukosten
3.1 Mio. Fr. für beide Häuser inkl. Solarinstallation

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