«Mikrospiegel im Glas»
Grosse Fensterscheiben lassen viel Licht in Gebäude. Bei zu viel Sonneneinstrahlung überhitzen jedoch die Innenräume. Was also tun? Die EPF Lausanne hat eine mögliche Lösung entwickelt.
Achtung, zerbrechlich: Andreas Schüler nimmt die erste Glasscheibe zur Hand, die den Unterschied zwischen direktem und diffusem Sonnenlicht erkennen kann. Sie ist ein Prototyp, eben erfunden in einem Physiklabor der EPF in Lausanne. In den letzten Monaten und Wochen wurde sie in Handarbeit hergestellt; vier weitere werden nun folgen. Der Platz für die Endmontage ist bereits reserviert: Bis Ende Jahr werden diese Einzelanfertigungen in der Deutschschweiz installiert. Den fünf Flachgläsern, die mit der selektiven Polymerschicht versehen sind, steht ein Praxistest an der Forschungseinheit Empa NEST in Dübendorf ZH bevor. Das Besondere am neu entwickelten, transparenten Laminat ist: Seine Mikrostruktur ist geometrisch so verformt, dass es einzelne Lichtwellen ablenken oder reflektieren kann und deshalb für das gesamte Strahlenspektrum unterschiedlich durchlässig wird.
TEC21: Herr Schüler, wann kommen diese Gläser auf den Markt?
Andreas Schüler: Je nach Engagement der Industrie kann man in zwei bis fünf Jahren damit rechnen. Wir hoffen, der anstehende Praxistest kommt bei unserem Industriepartner derart gut an, dass sich das Management für eine industrielle Fertigung entscheidet.
TEC21: Was darf sich die Baubranche von dieser Erfindung versprechen?
Andreas Schüler: Solche «intelligenten» Gläser bezwecken, der Überhitzung im Sommer entgegenzuwirken. Dank den optisch veränderten Mikrostrukturen lässt sich die Tageslichtnutzung optimieren, etwa im Sommer. Überschüssige Wärme bleibt draussen, ohne die Durchlässigkeit für den sichtbaren Lichtanteil zu mindern, auf den man im Winter angewiesen ist. Das hilft, die Energieeffizienz eines Gebäudes im Jahresverlauf zu verbessern.
TEC21: Die sogenannten Low-E-Schichten mit isolierender Wirkung sind schon fast Standard. Warum braucht es Ihre Forschung?
Andreas Schüler: Gläser mit niedriger thermischer Emissivität, die den Energiedurchlass dämpfen, haben sich tatsächlich schon durchgesetzt. Erhältlich ist beispielsweise elektrochromes Glas, das eigentlich dimmbar ist. Dank diesen bleibt die Wärme im Winter drinnen, sodass viel Sonnenenergie passiv gewonnen werden kann. Im Sommer bleibt dagegen die Hitze draussen. Erhältlich ist auch elektrochromes Glas, das dimmbar ist. Man erkennt die Produkte an ihrem typischen bläulichen Glanz.
TEC21: Wie geschieht das?
Andreas Schüler: Elektrochrome Fenster lassen sich nach Bedarf hell oder dunkel schalten. Mithilfe von elektrischer Energie wird die Abdunklung provoziert; sie funktionieren vergleichbar einer Batterie mit schwacher Kapazität. Verbesserungswürdig scheint uns allerdings der Mechanismus und das Tempo der Umschaltzeiten respektive die Verstärkung des Kontrasts zwischen dunkel und hell. Wir arbeiten zudem daran, die Blendwirkung zu verhindern, ohne den Einfall von sichtbarem Licht allzu sehr zu mindern.
TEC21: Wie lang braucht ein Umschalten jetzt?
Andreas Schüler: Das ist abhängig von der Fenstergrösse; ein Umschalten benötigt aber mindestens 20 Minuten. Halb so lang wäre besser. Zudem möchten wir, um den Blendschutz zu verbessern, die sichtbare Transmission unter 1 % senken. Technisch können wir das erreichen; der Praxistest muss jedoch beweisen, ob es effektiv genügt. Was wir an elektrochromen Gläsern ebenfalls hinterfragen, ist die mangelnde Dauerhaftigkeit. An unseren Institutsgebäuden installierte Prototypen zeigen, dass die flüssigen Elektrolyten, die in solchen Glaselementen enthalten sind, nach wenigen Jahren ausgasen. Das Bauteil ist zu wenig dicht, um eine Lebensdauer von 20 bis 25 Jahren gewährleisten zu können. Deshalb setzen wir auf einen alternativen Ansatz und verzichten sowohl auf die Zuhilfenahme von Strom als auch auf flüssige Elektrolyten.
TEC21: Wie sieht die Ersatzvariante aus?
Andreas Schüler: Auch die Industrie kennt dieses Problem und setzt nur noch auf Festkörperelektrolyten für die elektrochrome Verglasung. Es ist auch so schon ein teures Luxusprodukt, das sich in der breiten Anwendung kaum rentiert. In unserem Labor verfolgen wir deshalb einen noch radikaleren Technologiewandel. Unser Glasprototyp kommt ganz ohne Elektrolyt und elektrische Energie aus. Stattdessen bauen wir etwas ähnliches wie Mikrospiegel ein.
Die ausführliche Version dieses Interviews ist erschienen in TEC21 46/2019 «Vollverglast: im Zwiespalt mit der Sonne».