100 % re­cy­cel­bar, ab auf die De­po­nie

Die Kreislauffähigkeit eines Stoffs bedeutet noch lange nicht, dass dieser auch in einen Kreislauf findet. Was braucht es, um in Kreisläufen zu produzieren? Wo fehlen Rahmenbedingungen und Anreize? Eine Analyse am Beispiel Fensterglas.

Publikationsdatum
17-08-2023

Bei den Stichworten Abfall, Kreislaufwirtschaft und Recycling denkt man schnell an Siedlungsabfälle: an Säcke und Con­tainer, die vor Häusern stehen, an Recyclingstationen und Werkhöfe, an Glassammelstellen und PET-Recycling. Unsere Siedlungsabfälle machen aber laut dem Bundesamt für Umwelt BAFU lediglich 7% des Abfallvolumens in der Schweiz aus. Der weitaus grössere Anteil an Abfällen und Wertstoffen fällt beim Bauen an: Aushub, Ausbruch und der Rückbau von Gebäuden, Strassen und Bahn­trassees machen zusammen fast 84% des Abfalls aus (vgl. «Neue Rohstoffe aus alten Häusern»).

Dass diese Wertstoffe nicht auf der Deponie enden, sondern weitergenutzt werden und wieder in einem Kreislauf landen, ist mengenmässig entscheidend für den Materialfussabdruck der Schweiz. Denn alles, was als Abfall endet, ist immer auch eine Verschwendung von Rohstoffen, wie das englische Wort «waste» schön doppeldeutig veranschaulicht.

Wertstoff Glas unter der Lupe

Als «Glas» wird eine Vielzahl unterschiedlicher Dinge bezeichnet, vom Trinkglas oder Brillenglas bis zur Fensterverglasung. Glas ist ein meist lichtdurchlässiger Feststoff, der durch das Schmelzen von Quarzsand, Soda und Kalk entsteht. Sand ist ein Rohstoff, von dem man meinen könnte, es gebe ihn zur Genüge, sogar die Schweiz verfügt über beträchtliche Vorkommen. Weil aber Wüstensand für die Bauindustrie unbrauchbar ist, werden Unmengen von Sand aus Meeren, Seen und Flüssen abgebaut, mit teilweise verheerenden Folgen für die Umgebung. Sand ist heute nach Wasser die meistverbrauchte Ressource auf der Welt, die Nachfrage hat allein in den letzten 30 Jahren um 360% zugenommen (vgl. TEC21 18/2021 «Kostbare Körner»).

-> «Ein Haus wird abgerissen» – Der Weg der Bestandteile und Materialien eines typischen Schweizer Abrisshauses. Lesen Sie den ganzen Artikel in TEC21 26/2023 «Rohstoff Abfall».

Glas ist ein kreislauffähiges Produkt, laut offi­ziellen Zahlen des BAFU kommen wir in der Schweiz auf eine Recyclingquote von 96%. Allerdings handelt es sich dabei nur um sogenanntes Hohlglas, also Verpackungsglas wie Glasflaschen, Konfitüren- und Konserven-Gläser. Beim Recyceln unseres Flachglases hingegen schneiden wir nicht so gut ab: Fast alle Fensterscheiben, die wir bei Abriss oder im Zuge der besseren Isolation unserer Häuser ersetzen, landen heute kleingeschlagen auf der Deponie. Recyclingquote laut BAFU: 15–20%.

Recycling spart auch CO2

 

1 kg Scherben ersetzen 1.2 kg Primärrohstoffe. Ein höherer Scherbenanteil ist aber auch für die CO2-Bilanz von Glas entscheidend, da durch die richtige Beimengung von Glasscherben die Schmelztemperatur um einige hundert Grad Celsius gesenkt werden kann. Während für die Bearbeitung der Primär­rohstoffe Sand, Soda und Kalk um die 1700 °C notwendig sind, schmilzt Altglas bereits bei 1100 °C. Und weil solche Temperaturen heute noch nicht ­fossilfrei erreicht werden, machen tiefere Temperaturen auch einen Unterschied bei den Treibhaus­gasemissionen.

Wobei man das so genau gar nicht sagen kann. Denn Flachglas ist kein kontrollpflichtiger Abfall. Der Wert wurde 2019 in einer Studie im Auftrag des BAFU (vgl. TEC21 10/2020 «Recycling am Bau») ermittelt, und zwar folgendermassen: Man schätzt den Anteil an der Gesamtmenge mineralischer Bauabfälle aus einer früheren Studie und kommt auf einen Glasanteil von 500000t pro Jahr, führt dann Gespräche mit verschiedenen Branchenvertretern zur Abschätzung der Recyclingquote und überprüft diese Zahlen wiederum mit der für die Wiederverwertung exportierten Glasmenge, abzüglich des dokumentierten Anteils von Alt-Hohlglas beim Exportgut. Diese Exportzahlen sind hilfreich bei der Abschätzung, denn ein Grossteil des Schweizer Altglases, egal ob Hohl- oder Flachglas, wird ausserhalb der Schweiz aufbereitet. So kommt man auf knappe 20%. Die anderen 80% landen auf der Deponie. Dabei wäre Glas zu 100% kreislauf­fähig – theoretisch.

Von der Baustelle zur Aufbereitung

Das Problem beginnt schon auf der Baustelle: Wenn Fenster kaputtgehen, ersetzt oder zusammen mit einem Gebäude abgerissen werden, werden sie selten separat gesammelt, sondern landen in einer Mulde für Bausperrgut, in der verschiedenste Materialien zusammenkommen. Das hat mit den Abläufen, dem Platzbedarf und der Baustellenlogistik zu tun – eine separate und saubere Glassammlung auf der Baustelle ist aufwendiger.

Das gemischte Bausperrgut aus der Mulde wird in einem nächsten Schritt sortiert. Das Glas wird von Rahmenresten und anderen Fremdstoffen getrennt und kommt anschliessend in die Glasaufbereitungsanlage, wobei die BAFU-Studie hier erhebliche Unterschiede je nach Rückbauunternehmen feststellt. So beschreibt ein Interviewpartner, dass Rahmenprofile und Verglasung sauber getrennt und der Grossteil des Glases in die Aufbereitung und Verwertung gegeben werden, während zwei andere Interviewpartner berichten, dass sie die Ware direkt auf der Deponie entsorgen.

Auch in der Glasaufbereitungsanlage werden nochmal 20% aussortiert, die auf der Deponie landen. Fenstergläser sind im Gegensatz zu Flaschenglas Hightechprodukte, perfekte, grosse, durchsichtige, glatte Flächen, die verklebt, beschichtet, bedruckt und mit Gasen gefüllt werden. Bevor sie zerkleinert werden können, müssen sie von stofffremden Resten wie Beschichtung, Verklebung, Emaillierung usw. befreit werden. Das alles ist aufwendige Arbeit, die kostet und sich nur lohnt, wenn erstens eine genügend grosse Nachfrage besteht und zweitens die Recycling-Rohstoffe gegenüber den Primärrohstoffen günstiger und qualitativ gleichwertig sind.

Die Absatzmöglichkeiten für Altglas sind heute aber sehr eingeschränkt. Eine deutsche Studie des Insti­tuts für Fenstertechnik ift Rosenheim zum Recycling von Flachglas im Bauwesen kommt zum Schluss, dass in Deutschland nur ca. 11% des hergestellten Flachglas-Rezyklats wieder der Flachglasherstellung zugeführt werden. Rund die Hälfte der Flachglas-Scherben gelangt in den Hohlglas-Kreislauf, die restlichen 30% gehen in andere Bereiche wie die Herstellung von ­Mineralwolle, Schaumglas, Glasperlen, Glasmehl und Schleifpapier.

Scherbenanteil in der Flachglasproduktion

Wie hoch ist nun aber der Scherbenanteil in neu hergestelltem Fensterglas? Die bereits erwähnte deutsche Studie des ift Rosenheim kommt auf einen Scherbenanteil von 20–30%, grösstenteils bestehend aus sauberen Scherben, die direkt in der Flachglasproduktion anfallen, sogenannten Eigenscherben. Auch Fremdscherben sind meist direkt aus der Industrie zugekauft und fallen beispielsweise im Zuge der Glasverarbeitung bei Beschichtung, Fenster- und Fassadenbau an.

Lesen Sie auch: «Neue Rohstoffe aus alten Häusern» – Wiederverwertung von Beton

Auffällig ist, dass die meisten Glasproduzenten auf ihren Websites darauf hinweisen, dass Glas zu 100% recycelbar sei. Weitergehende Informationen zum verwendeten Anteil an Altglas in den eigenen Produkten fehlen dort aber, auch unter den Schlagwörtern Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft. Auf Nachfrage bestätigt etwa der Schweizer Glashersteller Glas Trösch Scherbenanteile von bis zu 30%, sowohl aus Eigen- wie auch aus Fremdscherben. Dieser Anteil lässt sich nicht mehr beliebig steigern: Je effizienter die Produktion, umso weniger Eigenscherben fallen an. Aus demselben Grund wächst auch der Markt an Fremdscherben aus der Produktion kaum, während der Altglasmarkt beim Rückbau nicht einmal annähernd ausgeschöpft wird.

Andreas Scheib von Glas Trösch sieht primär die Qualität der Recyclingscherben als Herausforderung: «Generell sind zu wenig für die Produktion ge­eignete Glasscherben vorhanden.» Denn nur ein sehr kleiner Teil des Flachglas-Rezyklats erreicht überhaupt die Qualitätsanforderungen, die Glashütten für die Herstellung von Flachglas an die Fremdscherben stellen. Als Sekundärrohstoff kommt nur reines Flachglas infrage. Die Toleranzgrenzen für Verunreinigungen sind mit ca. 5g pro Tonne deutlich tiefer als bei Hohl­glas, das etwa 20g Verunreinigungen pro Tonne verträgt. Trotz Unmengen an Altglas und bestehender Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Sekundärrohstoffen scheint also eine weitere Steigerung des Scherbenanteils in der Flachglasproduktion gar nicht so einfach, obwohl dies in mehrfacher Hinsicht Vorteile mit sich bringen würde.

Selbstregulierung in den Niederlanden

Was könnte helfen, Branchen wie die Glasindustrie kreislauffähig zu machen? Es zeigt sich eine gewisse Schachmatt-Situation, die wohl auf andere Materialkreisläufe übertragbar ist: Für eine flächendeckende und bessere Aufbereitung fehlt die Nachfrage, aufseiten der Produktion bestehen Unsicherheiten hinsichtlich der Qualität. Ein regulatorischer Eingriff scheint naheliegend, aber auch die Branchen selbst könnten sich der Problematik annehmen.

In den Niederlanden etwa hat die Glasindustrie selbst ein Sammelsystem eingeführt. Für den nationa­len Markt wurden die Kosten für die sorgfältige Trennung ausserdem vorverlagert: Über einen Recyclingbeitrag von 0,30€/m² auf Isolierglas finanziert der niederländische Recyclingverband ein flächendeckendes Sammelsystem sowie die Glasaufbereitung inklusive Qualitätskontrollen für alle Arten von Flachglas. Eingeführt als System für Verbandsmitglieder, ist die Zahlung dieses Beitrags seit Januar 2023 für alle Her­steller und Importeure von Glas und Fenstern allgemein verbindlich. Aus einer Branchenlösung entstand also eine nationale Regulierung, hinter der alle Beteiligten stehen.

Ähnliches kennen wir in der Schweiz für die Entsorgung von Elektroschrott, bei dem Händler, Hersteller und Importeure verpflichtet sind, Geräte gratis zurückzunehmen: Durch eine freiwillige Branchenlösung ist im Kaufpreis aller Elektrogeräte eine vorgezogene Recyclinggebühr enthalten, die die Sammlung, Aufbereitung und Entsorgung finanziert.

Kreislauffähige Partnerschaften

Die Qualitätssicherung der aufbereiteten Rohstoffe ist der Schlüssel, um Wertstoffkreisläufe in Schwung zu bringen. Abgesehen von einem flächendeckenden System und unabhängigen Qualitätskontrollen kann dies auch durch direkte Zusammenarbeit zwischen Aufbereitung und Produktionsbetrieben sichergestellt werden. Je enger die Geschäftsmodelle von Glasherstellern und Recyclingunternehmen verzahnt werden können, umso kleiner werden die Risiken auf beiden Seiten. Die Hersteller können auf die Scherbenqualität vertrauen, die Recyclingunternehmen auf eine genügend grosse Nachfrage, und auch die Logistik zwischen Aufbereitung und Glashütte kann optimiert werden. Die Transportwege sind nicht zu unterschätzen, bis zu 30% der Kosten eines recycelten Sekundärrohstoffs gehen laut der Studie von ift Rosenheim auf die Logistik zurück.

So hat etwa der grösste europäische Flachglashersteller Saint-Gobain 2022 eine Partnerschaft mit dem skandinavischen Wertstoffunternehmen Ragn-Sells kommuniziert. Ziel ist, den Scherbenanteil aller Produkte von heute 20–30% bis 2040 auf 40% zu steigern. Einzelne CO2-reduzierte Glasprodukte sollen sogar bis zu 70% auf Scherben basieren. Gesammelt werden soll das Altglas vorwiegend in Schweden und Norwegen, die Aufbereitungsanlage befindet sich in der Nähe von Stockholm. Verarbeitet werden die Scherben im sächsischen Torgau, wo auch heute schon das als CO2-reduziert vermarktete Glas «Oraé» hergestellt wird.

Zur Ökologie beim Fenster­ersatz

 

Nicht allein die Rohstoffe für Glas, sondern eine Reihe weiterer Faktoren sind für die ökologische Betriebs- und Erstellungsbilanz eines Fensterersatzes entscheidend: Wie Sie heizen, wie dicht Ihre aktuellen Fenster sind, wie gut das Gebäude gedämmt ist, welche neuen Fenster Sie verbauen würden und wie diese hergestellt sind. Eine Studie der ETH, die verschiedene Sanierungsstrategien anhand verbreiteter Schweizer Gebäude­typen verglich, kommt zum Schluss, dass sich die Weiterverwendung von Fenstern oft lohnt. Sie betont, dass bei keiner der als optimal qualifizierten Lösungen die Fenster ersetzt werden, unabhängig vom Heizsystem und der Energieperformance des Gebäudes. Der reflexartige Ersatz von Fenstern lohne sich aufgrund der ­hohen Kosten und grauen Emissionen weder aus ökonomischer noch aus ökologischer Sicht, da die Heizeinsparungen zu gering seien. Die zielführendste Strategie sei der Ersatz der Heizquelle auf eine fossilfreie und erneuerbare Energie.

 

Alina Galimshina, Maliki Moustapha, Alexander Hollberg et al., «What is the optimal robust environmental and cost-effective solution for building renovation? Not the usual one», in: Energy and Buildings, Volume 251, 15.11.2021.

Keine Lösung in Sicht

In der Schweiz scheint aktuell weder die Branche noch die Politik hinsichtlich Flachglas-Recycling einen Handlungsbedarf zu sehen, obwohl der Fensterersatz als eine der zentralen Strategien im Hinblick auf die Gebäude­sanierungen vorangetrieben wird. Es wird wohl noch viele Partnerschaften und gewichtige Anreize brauchen, um die Bauindustrie bei allen Wertstoffen in Richtung Kreislaufwirtschaft einzuspuren. Ganz ohne Regulierung wird es wohl kaum gehen – zumal die Rohstoffe für die finanzkräftige Schweizer Immobilienbranche wohl noch lange nicht knapp sein werden.

Der erste und wichtigste Schritt wäre, unseren heutigen Rohstoffverbrauch und die Berge von Abfall, die wir produzieren, als ernst zu nehmendes Problem anzuerkennen. Denn die Abfallmengen nehmen seit Jahrzehnten zu, Tendenz weiter steigend. Weltmeister im Recycling wird nur, wer Unmengen an Waren und Wertstoffen entsorgt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 26/2023 «Rohstoff Abfall».

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