«Der Müll­berg wird uns über­flu­ten»

Auch Glasfaserverbundwerkstoffe sollen sich in den Kreislauf der Zirkulär­wirtschaft einfügen. Wie komplex ihre Wiederverwendung ist, zeigt sich ­exemplarisch bei Rotorblättern: Einerseits fehlen Standards, andererseits sind Forschungslücken vorhanden. Fachleute aus verschiedenen Bereichen arbeiten hartnäckig daran, das Einsatzfeld nach der Erstnutzung zu ­eruieren.

Publikationsdatum
03-11-2023

Die Zukunft des Bauwesens wird zweifellos durch die Fortschritte im Recycling und der Wiederverwendung von Glasfaserverbundwerkstoffen mitgeprägt sein. Rotorblätter von Windkraftanlagen stehen stellvertretend dafür. Ihr intensiver Gebrauch, ihre relativ kurze Nutzungsdauer bei langer Lebensdauer des Materials und ihre grosse Menge bedingen, dass sich Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachgebieten zusammentun, um Lösungen für ihre Weiterverwendung zu entwickeln.

TEC21: Welches Potenzial haben Rotorblätter als kreislauffähiges Bauteil?

Tim Hoffmann: Die Wiederverwendung von Rotorblättern als Bauteile deckt eine Nische ab, die bisher wohl übersehen wurde und die Erweiterungen von bestehenden Gebäuden durch Anbauten, Balkone und Aufstockungen umfasst. Trotz dieses Nischen­daseins tragen auch sie als Secondhand-Bauteile dazu bei, das Bewusstsein für den sinnvollen branchenübergreifenden Re-Use zu schärfen.

Clemens Waldhart: Ein entscheidendes Anliegen ist es, nicht nur das Recycling von Rotorblättern zu fördern, sondern auch ernsthaft darüber nach­zudenken, wie genau diese Sandwichelemente viel­fältig wiederverwendet werden können. So beispielsweise als äussere Stützenkränze zur Verschattung von Gebäuden. Es ist klar, dass sie nicht alle herkömmlichen Bauteile ersetzen können, insbesondere nicht bezüglich der Traglast. Aber ihre Wiederverwendung kann kreative Möglichkeiten bieten, den ökologischen Fussabdruck zu reduzieren.

Pamela Voigt: Wie wir mit Materialien und Bauteilen umgehen, die bereits existieren, erfordert eine grundlegende Überarbeitung unserer Entwurfsansätze und eine Bereitschaft, verschiedene Formen und Materialien gleichzeitig im Entwurf zu integrieren. Dabei müssen die bestehenden Bauteile richtig «gelesen» werden: Rotorblätter sind beispielsweise keine Stützen, sondern Kragarme. Aber es ist erstaunlich, wie viel wir über Materialien lernen können. Das führt zu kreativen Ansätzen, die wir dringend benötigen. So ist die Rückkehr des Leichtbaus in die Architektur und das Ingenieurwesen zentral für die ziel­gerichtete Entwicklung der Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. Die Schweiz hat in diesem Bereich Pionierarbeit geleistet, insbesondere durch Persönlichkeiten wie Heinz Isler und Heinz Hossdorf. Es passt, zu sehen, dass die Schweiz eine der ersten Nationen ist, die jetzt mit der Wiederverwendung von Rotorblättern in der Architektur experimentieren. Es ist eine Möglichkeit, die Expertise und das Wissen aus der Vergangenheit zu nutzen und gleichzeitig in die Zukunft zu blicken.

Valentino Vitacca: Es mag auf den ersten Blick einfach erscheinen, ein Bauteil wie das Rotorblatt als Stütze, Kragarm oder Balken zu verwenden. Das ist es aber nicht. Es müssen Alternativen gesucht werden, denn die erstbeste oder naheliegendste Lösung passt oft nicht. Diese besonderen Bauteile bieten aber nicht nur die Chance, Aufmerksamkeit zu erregen. Darum sollten wir sie nicht als lustiges Ready-made-Element betrachten, sondern mit ihnen ernsthaft die Prozesse und bürokratischen Hürden kritisch hinterfragen. In der Realität müssen diese Bauteile einer umfassenden Prüfung und Genehmigung unterzogen werden, und selbst geringfügige Abweichungen erfordern erneute Prüfungen. Es gibt viele bürokratische Hürden, die es zu bewältigen gilt. Jetzt ist die Gelegenheit und der Moment, dieses Thema auf politischer und reglementarischer Ebene anzugehen.

Anastasios Vassilopoulos: Rotorblätter sind in ihren Abmessungen und in ihrer Anzahl in den letzten 20 Jahren enorm gewachsen, bedingt durch das 20 bis 30 %-ige Wachstum der Windindustrie. Diese investierte jedoch nicht entsprechend in die Weiterentwicklung, sodass Rotorblätter heute eher als lowtech betrachtet werden müssen, überdimen­sio­niert und zu schwer sind. Aber sie sind äusserst langlebig, vorausgesetzt, sie werden nicht bereits im ersten Jahr beschädigt und weisen keine Herstellungsfehler auf. Sie sind robust und können vielfältig angewendet werden, sei es als Stützen, Fassadenelemente oder Träger. Das Hauptproblem liegt aber darin, dass es keine tragwerkspezifische Normen gibt. Auch die fehlende Standardisierung und Klassifizierung der Eigenschaften behindert die Anwendung solcher speziellen Bauelemente erheblich, da sie konservativ, ohne Normen nachgewiesen werden müssen. Im Eurocode gibt es kein Kapitel über die Wiederverwendung von alten Verbundwerkstoffen. Die Ingenieure müssen mit den Codes für Stahl und Beton arbeiten, obwohl sich Konstruktionen in Verbundwerkstoff ganz anders verhalten. Insofern stellt sich insgesamt nicht nur die Frage, wo Rotorblätter eingesetzt oder wiederverwendet werden können, sondern vielmehr auch, wie man sie einsetzen kann, damit ihre einzigartigen Eigenschaften voll zum Tragen kommen.

Kevin Rahner: Es erfordert kreative Ansätze, um Rotorblätter mit ausreichender statischer Sicherheit effizient in neue Strukturen zu integrieren. Denn sie sind nicht nur nicht genormt, sondern auch unterschiedlich hergestellt, und wir haben wenig Informationen über Materialstärken und Geometrien. Um die Eignung als Tragelemente zu prüfen und ihre neue Rolle umfassend analysieren zu können, sind Bauteilversuche notwendig (vgl. «Auf dem Prüfstand»). Erste solche Versuche haben wir durchgeführt. Die Ergebnisse waren aber relativ ernüchternd, insbesondere im Hinblick auf die Eignung als Biegeträger. Das wundert nicht, denn mit den Rotorblättern setzen wir das Bauteil in einem komplett neuen Anwendungsfeld ein. Das ist herausfordernd, denn eigentlich wird das Rotorblatt als Kragarm in einem dynamischen Kontext verwendet. Nun soll es plötzlich unter statischen Einwirkungen funktionieren. Tritt bei einer Windkraftanlage ein Fehler oder ein Mangel auf, arbeitet die Anlage nicht mehr so effi­zient. In der Regel wird das Rotorblatt dann ausgesondert. Im neuen Kontext muss es Sicherheit und Stabilität gewährleisten sowie menschliches Leben in einem Bauwerk schützen. Die Anforderungen an das Bauteil sind also vollkommen anders.

Als wir begannen, nach Verwendungsmöglichkeiten im Projekt «Crap Sogn Gion» (vgl. «Re-Use auf dem Crap Sogn Gion») zu suchen, griffen wir zuerst zur naheliegendsten Lösung und betrachteten die Rotorblätter als potenzielle Biegeträger. Weil sie aber nicht leisten konnten, was sie in diesem Fall hätten leisten müssen, beschränkten wir uns auf den Einsatz als Stützen – hilfreich für die CO2-Bilanzierung, aber durchaus ein gestalterisches Korsett.

Sind die Versuchsergebnisse also enttäuschend?

Voigt: Nein, denn wir lernen, indem wir praktisch arbeiten, statt nur theoretisch zu diskutieren. Vielleicht war es strategisch nicht optimal, die Versuche mit den eher kleinen Rotorblattspitzen zu beginnen. Die grossformatigeren mittleren Teile bergen das grössere Tragpotenzial. Die geplanten Tests für weitere Teile wurden aber leider aus finanziellen Gründen nicht durchgeführt, obwohl die Ergebnisse grundsätzlich überraschend positiv waren. Zu teuer sind die Transport- und Testkosten für diese grossen Prüfkörper. Aber wir bleiben hartnäckig dran.

Rahner: Ist es denn sinnvoll, den mittleren und kräftigen Teil der Rotorblätter zu verwenden? Ist der Massstabssprung überhaupt für Gebäude geeignet?

Vitacca: Durchaus, wobei sich in der Tat die Frage nach der spezifischen Architektur stellt. Welche neue Ästhetik kann erreicht werden? Welche zusätz­lichen Funktionen kann eine Stütze erfüllen – als Raumtrennelement oder Beschattungssystem? Das erfordert eine andere Lesbarkeit und geht über den Fokus auf Schlankheit und Leichtigkeit hinaus.

Lesen Sie auch: «Das Ro­tor­blatt als Res­sour­ce»Ausgemusterte Rotorblätter häufen sich in den nächsten Jahren zu einem enormen Abfallberg. Was tun damit?

Hoffmann: Der Schönheitsbegriff wird sich künftig verändern. Bisher lag der Fokus auf Raumwirkung, Nutzung, Funktionalität, Optik und Haptik, weniger auf der Wiederverwendbarkeit. Die Architektur wurde oft von der Grobform bestimmt, ohne viel Gedanken über lokale Materialien, CO2-Fussabdrücke oder die Auswirkungen auf das Gebäude aufzuwenden. Lieferketten, Transportkosten und graue Energie wurden selten bepreist und bilanziert. Der Preis des Bauteils selbst war entscheidend, während die spätere Verwertung oft vernachlässigt wurde. Jetzt ändert sich das, und solche Überlegungen werden endlich zu einem wichtigen Teil der Gleichung. Es entsteht eine neue Ästhetik, bei der Gebäude nicht mehr als Grossform, sondern von den Bauteilen her gedacht werden. Und die Gesellschaft beginnt, den Wert der Wiederverwendung anzuerkennen, was Schönheit neu definiert. Fügungen und Verbindungen werden nicht vergossen oder versteckt, sondern sind sichtbar verschraubt. Die Idee einer «cleanen», fugenlosen Ästhetik entspricht nicht mehr dem Wesen eines konsequent nachhaltigen Bauens. Dieses zeichnet sich vielmehr dadurch aus, das Weiterführen zu ermöglichen, anstatt die lange Wertschöpfungskette am Ende mit einer beständigen Architektur abzuschliessen. Projekte wie «Crap Sogn Gion» ermutigen dazu, das Bauen neu zu denken und die Zusammen­arbeit über das Bauwesen hinaus zu fördern.

Voigt: Wiederverwenden ist in Gesellschaften mit knappen Ressourcen oder einem umweltbewussten Denken üblich. Dort wird ein Holzchalet nie zerlegt, um das Holz gleich zu verbrennen. Anderswo wird hingegen oft abgerissen und weggeworfen. Der Fokus liegt auf Neuem, möglicherweise beeinflusst durch Werbung und Konsumkultur. Es ist an der Zeit, diesen Trend umzukehren.

Könnte die Reduktion der Lebensdauer eines Gebäudes den Einsatzbereich erweitern, da dann geringere Sicherheitsniveaus erfüllt werden müssten?

Rahner: Man darf bei Bauwerken mit kurzer Lebensdauer niedrigere Sicherheitsniveaus berücksichtigen als bei solchen mit 100-jähriger Nutzungsdauer. Das spart Material. Es ist daher sinnvoll, von Beginn an zu überlegen, wie lange das Gebäude genutzt werden soll – zwei Monate, ein halbes Jahr, oder muss es einem 50-jährlichen Sturmereignis oder dem nächsten Grosserdbeben standhalten? Projekte mit einer reduzierten Nutzungsdauer oder einer Restnutzungsdauer werden aber noch nicht ausreichend akzeptiert – man vertraut ihnen oft nicht. Öffent­liche Bauherrschaften bevorzugen daher Neues gegenüber Altem, auch wenn spezifische Bauteile getestet und für gut befunden wurden und die Kon­struktion über Jahrzehnte hinweg ihre Tragsicherheit und Ge­brauchs­tauglichkeit bewiesen hat. Das ist verheerend, weil nicht korrekt, nicht nachhaltig, nicht zielführend und schliesslich weder ökonomisch noch ökologisch. Unabhängig von der Lebensdauer wird die Robustheit und Redundanz eines Tragwerks – ob wiederverwendet oder neu – über alle Bau- und Betriebsphasen hinweg nämlich durch ein cleveres statisches System geschaffen, das zum Beispiel überbestimmt ist. Falls eine Verbindung versagt, lagert sich bei einem robusten Tragwerk der Kräftefluss um. Es kommt nie zu einem Einsturz, höchstens vielleicht zu einer Rissbildung und zum Schaden auf Ebene der Gebrauchstauglichkeit.

Waldhart: Dabei ist es in vielen Fällen für Bauherrschaften gar nicht riskant, Strukturen mit nicht genormten Bauteilen zu bauen. Es gibt bereits Konzepte und Unternehmen, die ressourcentreue Planungsansätze verfolgen. Oft wird nicht nur eine Erstnutzung, sondern auch eine Zweit- oder sogar eine Drittnutzung mitgeplant. Diese Entwicklung sensibilisiert auch andere Bauherrschaften. Was wiederum hilft, dass sie begleitende Konzepte und tragwerkspezifische Experimente unterstützen.

Rahner: Da bin ich mir auf tragwerkspezifischer Ebene nicht so sicher, weil das zulasten der Effizienz geht. Das Auseinandernehmen eines eingesetzten Bauteils ist einfacher, wenn es sich beispielsweise um einen Einfeldträger handelt. Bei Durchlaufträgern wird dies komplizierter, aber sie sind statisch effizienter. Die Bauherrschaft müsste allein für das Tragwerk etwa 20 % mehr bezahlen. Das betrifft auch Bauteil- und Deckenhöhen. Welche Bauherrschaft kann und will sich das leisten, 10 % mehr Bauvolumen für denselben Ertrag zu finanzieren?

Vitacca: Es gibt für die Hersteller der Rotorblätter einen klaren Business Case, der für Vorab­investition spricht: die Entsorgung. Anstelle von Entsorgungskosten könnten sie dank Vorabinvestitionen die Rotorblätter nach der Erstnutzung für eine Weiternutzung verkaufen. Investierten die Unternehmungen in die Kreislaufwirtschaft, hätten wir das Problem mit den Rotorblättern bald nicht mehr.

Vassilopoulos: In der Tat besteht langfristig das Potenzial darin, das Design der Rotorblätter zu überdenken und sie für mehrfache Wiederverwendung zu optimieren. Dies erfordert ein umfassendes Redesign mit neuen Materialien und Verstärkungen, um spezifische Anwendungen zu ermöglichen. Ein solcher Ansatz ist wirtschaftlicher als das blosse Recycling der alten Blätter.

Waldhart: Irgendwann kommt ausserdem die CO2-Bepreisung. Spätestens dann ist es State of the Art, diesen Mehraufwand zu betreiben, der dann auch bezahlt wird. Unternehmen, die Bürogebäude mieten, werden den Energieausweis wegen ihrer CO2-Reputation vorweisen wollen. Der Stein kommt also ins Rollen.

Voigt: In Bezug auf die aktuelle Wiederverwendung harzt es momentan aber noch. Die grossen Hersteller haben zwar ein schlechtes Gewissen. Da hört es dann allerdings leider auch schon wieder auf. Sie zeigen durchaus Interesse, die Forschung zu unterstützen, und sie sind sich ihrer Entsorgungskosten bewusst. Aber sie beteiligen sich nicht finanziell, sondern liefern nur die aussortierten Rotorblätter und möchten, dass Forschungsprojekte die gesamten Kosten – auch die Entsorgungskosten – übernehmen. Es fehlt letztlich also an Forschungs­geldern. Und ohne sie ist die Umsetzung konkreter Projekte schwierig, es mangelt weiterhin an Grund­lagenwissen.

Vassilopoulos: Die Hersteller sind derzeit weniger an der Zirkularität auf Bauteilebene interessiert. Möchten Planende die Rotorblätter in ihren Tragwerken nutzen, so fehlen Informationen über ihre Konstruktion, weil die Hersteller schweigen. Ihnen stellt sich die Frage nach der Verantwortung und Haftung, wenn ihre Rotorblätter für andere Konstruktionen genutzt werden. Es wäre insofern wichtig, Tools oder Protokolle zu entwickeln, die die Leistungsfähigkeit der Rotorblätter für andere Anwendungen bewerten. Die Windindustrie konzen­triert sich vielmehr auf die effiziente Rotorblattproduktion, um die Wirtschaftlichkeit zu verbessern.

So werden Rotorblätter immer länger – 120.2 m, 120.5 m, es ist ein regelrechter Wettstreit um Abmessungsrekorde. Die Industrie sollte sich aber stärker auf clevere Konstruktionen und Wiederverwendbarkeit konzentrieren. Dadurch könnten sie langfristig von ihren Investitionen profitieren. Ein konkreter Anwendungsfall mit zweckgebundenen Resultaten wäre für die Forschung entscheidend. Nicht unbedingt One-off-Projekte, denn sie sind zwar statisch machbar, aber kostspielig.

Voigt: Innenarchitektonische Projekte und Kleinbauten wären einfach umsetzbar, weil sie wegen der Zulassungen eher realisierbar sind. Gewünscht ist nicht eine einzige perfekte Lösung, sondern vielfältige Möglichkeiten.

Vassilopoulos: Ohne Projekte, die sicht- und greifbar sind, erkennen wir nicht, welches Potenzial in der Wiederverwendung steckt. Die Lösung liegt in realitätsnahen, wiederholbaren Projekten, die als «Proof of Concept» dienen. Dies erfordert allerdings ein Budget und Fundraising, was sich als Herausforderung erweisen kann. Die EPFL bemüht sich zwar, Forschungsprojekte im Bereich der Rotorblätter zu initiieren, doch die Akquisition von Forschungs­geldern ist hart umkämpft und durchaus politisch. Ausserdem ist die Situation komplex. Wir müssen ein grosses Problem lösen, können es aber nur in kleinen Schritten angehen. Teilbereiche eines Rotorblatts sind schlicht unbrauchbar, weil sie keine Steifigkeit haben, die Spitze kann man praktisch nur für kleine Projekte verwenden wie Pergolen, Überdachungen oder Lärmschutzwände. Der mittlere Teil ist kaum tragend einsetzbar, weil er weder als Biegeträger noch als Stütze ausreichend funktioniert. Wie bereits erwähnt, sind also kreative Lösungen gesucht.

Inwiefern ist die Schweiz der ideale Ort für Pionierarbeit im Rahmen von Rotorblättern?

Vitacca: Auch wenn der Müllberg an Rotorblättern nicht ausschliesslich ein schweizerisches Problem darstellt, sehen wir es als unsere Verantwortung, als Fachleute und Architekten ihre Entwicklung und Weiterverwendung voranzutreiben, da wir über die Ressourcen und das Know-how verfügen, um die Praxis der Wiederverwendung zu fördern. Rotorblätter sind schliesslich auch ästhetisch ansprechend und daher attraktiver als manch anderes Re-Use-Bauteil.

Ist ein vom Blitz getroffenes oder durch Hagelschlag verbeultes Rotorblatt ästhetisch genug? Oder anders gefragt: Bleibt genug Material, das weiterverwendet werden kann, um den Abfallberg zu verkleinern?

Waldhart: Man sollte nicht vergessen, dass Re-Use auch immer mit Repair, also mit Wiederauf­arbeitung einhergeht. Früher stand ausser Frage, dass man Holzbalken oder Teile davon repariert und wiederverwendet. Das gilt auch für aussortierte Rotorblätter. Die Schäden haben ein grosses Spek­trum – von relativ grossformatigen Löchern bis zu kleinen Dellen. Es geht darum, das alte Blatt mit wenigen Handgriffen aufzuarbeiten, damit es wieder etwas taugt.

Wie können Bauingenieure das Vertrauen in ältere Bauteile schaffen und sicherstellen, dass diese noch voll funktionsfähig und im besten Alter sind?

Rahner: Wir sehen es als eines der grösseren Schweizer Ingenieurbüros als unsere Verpflichtung, die Grenzen zu verschieben und neue Baustoffe zu etablieren. Dabei sollten wir darauf abzielen, dass alle wiederverwendbaren Baustoffe in der öffent­lichen Wahrnehmung als ebenso neuwertig angesehen werden wie neue Bauteile, so wie es der Recyclingbeton geschafft hat – er ist gleichwertig zum gewöhnlichen Konstruktionsbeton. Es gibt viele Facetten der Wiederverwendung, sei es die alte Bestandsfassade des Kaispeichers beim Projekt Elb­philharmonie oder einzelne Bauteile wie Holzbalken oder die Weiterverwendung einer bestehenden ­Gründung. Immer lautet die zentrale Frage, was die bestehende Struktur noch zu leisten vermag. Allenfalls ist die Fassade nicht mehr dampfdiffusionsdicht, so wie es die heutige Wohnkultur verlangt. Dann sollte das Bauteil mit minimalem Aufwand angepasst werden, um wieder neuwertig zu sein. Dies gilt es auch mit Rotorblättern anzustreben – was können sie, wo sind sie gut einsetzbar, was muss angepasst werden, damit sie im Einsatzbereich der nächsten Nutzungsphase neuwertig sind? Re-Use von Rotorblättern ist kein Spleen, sondern könnte durchaus breit genutzt werden. Es geht darum, das Optimum hinsichtlich Gestaltungsfreiheit, Energie­reduktion, Tragwirkung und Effizienz zu erreichen und eine geeignete Balance zwischen diesen Zielen zu finden. Und bezahlbar für Bauherrschaften zu sein.

Es scheint eine Botschaft an alle am Bau Beteiligten zu sein, längerfristig sparsam zu denken.

Voigt: Schon 2015 wurden Warnungen vor dem wachsenden Müllberg von Rotorblättern abge­geben, und es gab damals bereits Evaluierungen und Berechnungen, die zur heutigen Forschung im Recycling führten. Recycling bedeutete in diesem Fall allerdings, das Material zu zerkleinern. Das ist für faserverstärkte Kunststoffe total bescheuert.

Es ist billiger, die Fasern – in der Regel Glasfasern – neu herzustellen, als sie zu extrahieren, und die teuren und wertvollen Harze sind nicht auflösbar, obwohl es Versuche gibt, thermoplastische Harz­systeme zu verwenden, die aufgeschmolzen werden können. Forschungsinitiativen, die darauf abzielen, Carbonfasern aus alten Rotorblättern zurück­zugewinnen, sind zwar lobenswert, machen jedoch nur einen kleinen Teil des potenziellen Baumaterials aus – das sind 5 % Material in einem Rotorblatt.

Hoffmann: Wichtig ist, die Relevanz zu sehen. Ja, man braucht Forschung. Ja, man braucht ein Re­design. Und ja, man sollte an neuen Materialien forschen. Es gilt aber zu beachten, wie teuer diese neuen Rotorblätter im Vergleich zu konventionellen, billig produzierten Blättern sein werden und ob sie sich dann durchsetzen können. Ausserdem dauert die Entwicklung marktreifer Rotorblätter der neuen Ge­­neration noch mindestens sechs bis sieben Jahre, und solange diese nicht auf dem Markt sind, haben wir immer noch dasselbe Problem. Wir befinden uns also nicht in einer kurzfristigen Übergangsphase von etwa fünf Jahren, für die es sich kaum lohnt, Forschungsgelder zu akquirieren. Im Gegenteil, es handelt sich um einen Zeitraum von einer ganzen Generation. Wir werden noch mindestens 30 Jahre mit den aktuellen Blättern umgehen müssen, und wir erwarten zudem ein exponentielles Anwachsen dieses Abfallbergs an Rotorblättern. Der Müllberg wird uns überfluten. Daher ist es wichtig, das Thema nicht als vorübergehendes, sondern als langfristiges Problem zu betrachten. Wir sollten Rotorblätter daher schnellstmöglich als Ressource denken.

Die ausführliche Version dieses Artikelst ist erschienen in TEC21 36/2023 «Rotorblatt wird zum Bauteil».

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