Das Ro­tor­blatt als Res­sour­ce

Ausgemusterte Rotorblätter häufen sich in den nächsten Jahren zu einem enormen Abfallberg. Was tun damit? Ihr Potenzial als tragende Bauteile – im wörtlichen und übertragenen Sinn – ist gegeben, der Weg dahin aber hürdenreich.

Publikationsdatum
03-11-2023
Clemens Waldhart
Affect, Co-Founder, Architekt UdK, Koordinator Nachhaltiges Bauen BnB

In einer Zeit, in der die nachhaltige Nutzung von Ressourcen und die Kreislaufwirtschaft immer mehr an Bedeutung gewinnen, steht die Windenergiebranche vor einer signifikanten Herausforderung: Wie können ausgemusterte Rotorblätter von Windkraft­anlagen zukunftsfähig wiederverwertet werden? Mit dem prognostizierten Austausch von 34 000 Turbinen, die in den kommenden zehn Jahren das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen, wird diese Frage dringend. Rund um die Schweiz, vor allem in Deutschland, Spanien, Italien und Frankreich stellen die riesigen On­shore-­Windturbinen eine enorme Ressource für den Bausektor dar. Doch während das Recycling von Beton und Stahl weit verbreitet ist und finanziell gut unterstützt wird, funktio­niert das Recycling von Verbundwerkstoffen noch nicht wunschgemäss. Die Logistik, der Transport, die statischen Aspekte und die notwendige Kreativität sind Hürden, die es für die Wiederverwendung von Rotorblättern zu meistern gilt (vgl. «Der Müllberg wird uns überfluten»).

Die Schweiz hat sich in der Vergangenheit bereits als Pionierin in der Anwendung und Forschung im Bereich von Verbundwerkstoffen im Bauwesen hervorgetan. Insbesondere glasfaserverstärkte Polymere, Materialien, die durch das Einbetten feiner Glasfasern in Harzmatrizen entstehen, fanden vermehrt Verwendung. Ihre vorteilhaften Eigenschaften wie Leichtigkeit, Haltbarkeit und Korrosionsbeständigkeit prädestinieren sie für vielseitige Anwendungen.

Ein historischer Meilenstein war die Expo 1964 in Lausanne. Hierfür entwarf der Ingenieur Heinz Hossdorf das Eingangsvordach der Sektion «Waren und Werte» in Form einer Glasfaser-Hyparschale mit einer beeindruckenden Spannweite von 18 m bei nur 3 mm Stärke. Die glasfaserverstärkten Polymere wurden aber nicht nur bei temporären Bauten eingesetzt, sondern fanden auch Eingang in dauerhafte Konstruktionen wie die Fussgängerbrücke in Pontresina von 1997 (vgl. TEC21 24/2001), das Eyecatcher-Gebäude von 1998 in Basel, das bis heute das höchste Vollverbundgebäude der Welt ist, das Eingangsgebäude des Novartis-­Campus in Basel von 2007 und die Avançon-Brücke in Bex bei Aigle von 2012.

Das Potenzial

Rotorblätter bestehen ebenfalls aus einem langlebigen Verbundwerkstoff mit Glasfasern, die in einem Harz (Duroplast) eingebettet sind. Sie bieten gute mechanische Eigenschaften bei einem relativ geringen Gewicht. So stellen sie trotz des grossen Rotordurchmessers nur rund 27 % des Gewichts einer Standard-Windkraftanlage (E-115). Ihre Hauptaufgabe ist es, Windenergie effizient in mechanische Energie umzuwandeln.

Allerdings hat die Langlebigkeit des Materials eine Kehrseite: Am Ende der relativ kurzen Nutzungsdauer als Rotorblatt von 5 bis maximal 20 Jahren stellt es ein erhebliches Entsorgungsproblem dar. Ausge­mustert, landen die teils über 100 m langen und rund 5 m breiten Blätter in den USA und Teilen Europas auf ­Mülldeponien oder werden gleich verbrannt. Dieser Umgang steht in starkem Kontrast zu den Prinzipien der Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit.

Trotz eines allgemeinen Deponierverbots in der EU wird diese Praktik nach wie vor umgesetzt. Ein Blick in die Niederlande verdeutlicht die Problematik: Obwohl der nationale Abfallwirtschaftsplan die Deponierung von Verbundabfällen grundlegend untersagt, besteht für Windparkbetreiber unter bestimmten finanziellen Bedingungen eine Ausnahme. Es gibt zwar Re­cyc­ling­ansätze, der Fokus liegt aber auch hier auf dem Zer­kleinern ausrangierter Rotorblätter, um sie als Verstärkungs- und Mikrofasern im Betonbau wiederzuverwenden oder als Brennmaterial in der Zementproduktion einzusetzen. Das verringert zwar den Verbrauch fossiler Brennstoffe, ist jedoch aufgrund des Downcyclings nicht wirklich nachhaltig. Auch der Vorstoss in Frankreich, ab 2025 für Bauanträge, die nach diesem Zeitpunkt eingereicht werden, eine Recycling- oder Wiederverwendungsquote von 55 % der Rotormasse vorzuschreiben, greift noch nicht. Diese neuen gesetzlichen Regelungen zeigen aber auf, wie dringend Lösungen für die Abfallprodukte von Windkraftanlagen benötigt und gesucht werden.

Nach wie vor mangelt es an klaren gesetzlichen Vorgaben, obwohl die EU den Schwerpunkt auf eine effektivere Kreislaufwirtschaft legt und obwohl die Recyclingrate für Kunststoffe mit unter 30 % besorgniserregend niedrig ist. Konventionelle Recyclingmethoden stossen in diesem Fall technisch und wirtschaftlich an ihre Grenzen. Daher suchen die Windindustrie und Planende nach Ansätzen zur Integration von Rotorblättern – als Teile oder Ganzes – in die Bauindustrie.

Grundlagen schaffen

Um diese Vision zu verwirklichen und Rotorblätter erfolgreich in zukünftige Bauvorhaben einzubinden, sind sowohl praktikable Lösungen als auch klare rechtliche Rahmenbedingungen erforderlich. Es geht nicht nur um technische Aspekte, sondern auch um die Bewertung der Langlebigkeit und der ökologischen Auswirkungen wiederverwendeter Verbundwerkstoffe. Mit einem soliden regulatorischen Rahmen könnten Architekten und Ingenieurinnen diese optimal in ihre Projekte wie Spielplätze, städtische Möbel oder sogar als Bauelemente in Brücken mit kleiner Spannweite integrieren. Im besten Fall ist es möglich, die Rotorblattsegmente auch als tragende Bauteile zu verwenden, die nicht denselben tragwerkspezifischen Ansprüchen genügen wie bei der Erstnutzung.

Jüngste Untersuchungen, darunter ein Vier-­Punkt-­Biegeversuch und ein Stützenversuch, haben Ergebnisse geliefert (vgl. «Auf dem Prüfstand»). Im Biegeversuch wurde eine Maschinenkraft von 34 kN erreicht, während im Stützenversuch 427 kN erzielt wurden. Bemerkenswert ist, dass dabei vorerst nur die etwa 3 m langen Blattspitzen des relativ kleinen, 20 m langen Rotorblatttyps – also die Bereiche mit dem kleinsten Blattquerschnitt – getestet wurden. Die Erkenntnisse bestärken also das noch brachliegende tragwerkspezifische Potenzial. Weitere Investitionen lohnen sich, und sie sind notwendig, um umfangreiche Lösungen zu entwickeln, mit deren Hilfe die erwarteten Abfallmengen der Zukunft reduziert werden können.

Die ausführliche Version dieses Artikelst ist erschienen in TEC21 36/2023 «Rotorblatt wird zum Bauteil».

Mehr zum Thema Kreislaufwirtschaft finden Sie in unserem E-Dossier.

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