Das Valser Anti-Objekt
Ein Familienunternehmen mit Steinbruch bestellt ein Haus und erhält eine fantastische Idee. Allen Schwierigkeiten zum Trotz hat die Bauherrschaft diese Idee in gebaute Materie übersetzt: In Kengo Kumas Bau erscheint der Valser Quarzit – nach Peter Zumthors Therme und Jürg Conzetts Brücke – in einer dritten Erfindung.
Das Valser Berggestein kann alles: nicht nur die Schwere, das Kantige, die Erinnerung an den rohen Felsen. Bei Bedarf überwindet der Stein auch die Schwerkraft und inszeniert Schwebemomente. So im hinteren Teil des Dorfs an der Fassade eines Geschäfts- und Wohnhauses, wo nun 501 Lärchenbretter und 882 Quarzitplatten an dünnen Stahlseilen, unterbrochen von steilen Vordächern aus demselben Gneis, vor einer drei- und viergeschossigen Hauswand hängen. Im Volksmund heisst das Haus Balma auch «Haus der fliegenden Steine».
Drinnen demonstriert die Wand des Treppenhauses das Gegenteil zur aufgelösten, nahezu entmaterialisierten Erscheinung des Steins draussen: 150 kg schwere, aus dem Berg gespaltene dunkle Valsergneise türmen sich in die Höhe. Wie eine Felsspalte legt sich die Öffnung diagonal durch den Bau, von oben streift das Licht über die rauen, unregelmässigen Kanten, Konturen und Oberflächen.
Diese fantastischen Konstruktionen sind die Idee der japanischen Kengo Kuma & Associates. Unterstützt vom Flimser Architekturbüro Spreiter + Partner und von Reba Fassadentechnik wurde so lang getüftelt, bis das Gebaute den Renderings des ersten Entwurfs auch wirklich glich. Die ersten Prototypen waren enttäuschend ausgefallen: Klobige Klammern verdeckten die feinen Scheiben des harten, grau bis grünlich schimmernden Steins. Die Realisierung hat den Beteiligten viel Zeit und Geduld abverlangt, doch Kompromisse waren keine Option.
Inspiration in Peking
Bis anhin waren die Büros des Familienunternehmens Truffer im Unter- und Erdgeschoss von zwei traditionellen Wohnhäusern entlang der Dorfstrasse mit dem poetischen Namen Balma untergebracht. Die Firma gewinnt und verarbeitet seit 1983 den Valser Quarzit, der infolge der hauptsächlich von Pius Truffer initiierten, von Peter Zumthor für die Gemeinde Vals entworfenen und von 2012 bis 2022 im Besitz des Investors Remo Stoffel auch umkämpften Therme weltberühmt wurde.
Erneuert wurde im Trufferschen Familienbetrieb lange Jahre nur das Werk weiter hinten im Tal, wo die weltweite Nachfrage nach dem Valser Quarzit Investitionen in neue Produktionshallen, grössere Maschinen und hochtechnisierte Verfahren ermöglichte. Auch das Team im Büro wuchs. Im Frühjahr 2022 arbeiten zwölf Personen im neuen Geschäfts- und Wohnhauses, gegenüber den nun klein wirkenden zwei Wohnhäusern auf der anderen Seite der Strasse Balma.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des Beitrags in TEC21 34-35/2022 «Die Leichtigkeit des Steins».
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Die Wahl der Architekten war eine Herzensangelegenheit: Als das Familienunternehmen Truffer einen Neubau für den Firmensitz ins Auge fasste, entschied es sich für Kengo Kuma & Associates, erzählt Artemis Anna Truffer auf dem Vorplatz des für Valser Verhältnisse grossen Hauses aus Gneis und Glas.
Als Mitinhaberin führt sie den Betrieb in zweiter Generation zusammen mit dem Bruder, dem Cousin und den Eltern. Begeistert seien Mutter und Bruder 2011 von einer Reise aus China zurückgekehrt, erzählt sie. Die beiden hatten im «Opposite House» in Peking übernachtet und waren dessen Atmosphäre und Ausstrahlung verfallen. Das 2008 eröffnete Pekinger Hotel war das erste in einer Reihe von Luxusetablissements einer Immobiliengesellschaft, die mit dem Entwurf von Kengo Kuma einen fulminanten Start wagte. Für diesen wiederum war es ein wichtiger Bau in China, wo seine Firma heute neben dem Stammbüro in Tokio und dem europäischen Ableger in Paris zwei weitere Büros führt.
Im Opposite House gibt es nicht nur ein riesiges gläsernes Atrium, sondern auch Chromstahlgeflechte, die über mehrere Geschosse Licht und Leichtigkeit inszenieren. Kuma ist nicht nur Baukünstler. Er ist auch Denker und Lehrer, seine Haltung fliesst in sein gebautes Werk ein. Das Monolithische und Hermetische interessieren ihn weniger. Der solide Beton von Tadao Andoˉs Reihenhaus in Sumiyoshi beispielsweise weckte in ihm ein Gefühl des Erstickens, wie Kenneth Frampton in seiner grossen Monografie zu Kumas Werk beschreibt. Frampton, der mit Begriffsprägungen wie der «tektonischen Baukultur» und dem «kritischen Regionalismus» mehrere Generationen von Architekturschaffenden geprägt hat, übernimmt Kumas Definition von Architektur als «anti-objektiv» respektive, je nach Übersetzung aus dem Englischen, «anti-objekthaft».
Aufgelöste Raumschichten
Das «Anti-Objekt» ist ein von Kengo Kuma geprägter Ausdruck, den er aus Überlegungen zu Phänomenen der Wahrnehmung und medialen Mechanismen der Architekturdarstellung herleitete. Kumas gebautes Werk zeigt, dass er sich mehr für die Auflösung als die Permanenz des Materials interessiert. Die Fotografin Erieta Attali versinnbildlicht diese Auflösung in ihren Aufnahmen mit Spiegelungen und Überlagerungen der Architektur, die sich dann ins scheinbar Unendliche fortsetzt.
Kengo Kuma, Jahrgang 1954, gehört nicht mehr zur jungen Generation, er ist bereits Teil der japanischen Historie. Parallel zu den in etwa gleichaltrigen Shigeru Ban und SANAA sucht Kuma nach einer Überwindung der Form. Damit führt er die Idee der Grossform des Altmeisters Kenzo Tange und deren Aufbrechen in eine «Group Form» der Folgegeneration um Fumihiko Maki, Arata Isozaki und Kisho Kurokawa weiter bis zur aufgelösten Form.
→ Lesen Sie auch: «Die dritte Valser Erfindung»
Diese Auflösung nimmt bei Kuma verschiedene Formen an. Oft inszeniert er die Elemente intensiv expressiv, bis diese ihre objekthafte Erscheinung in einer Vervielfachung ablegen. So die Valser Lamellen, die allerdings keine Neuerfindung sind. Das zeitgleich geplante und etwas früher fertiggestellte Victoria & Albert Museum im schottischen Dundee, das als letztes Werk in Framptons grosse Monografie Eingang gefunden hat, setzt steinerne Lamellen in einem noch viel grösseren Massstab ein. Die schottische Variante ist in Kunststein gegossen, womit ihr einige konstruktive Probleme erspart blieben.
Japanische Renderings fürs Valsertal
Bis sich in Vals ein Eindruck von Leichtigkeit an der Fassadenhängekonstruktion mit dem lokalen Gneis einstellte, waren vielerlei Durchgänge nötig. Am fertigen Bau scheinen die Lärchen- und Steinplatten an den 8-mm-Stahlseilen zu schweben. Die Halterungen sind unsichtbar, weil eingelassen. Die 460 Stahlseile mit einer Gesamtlänge von knapp über 1 km sind mit einer Zugkraft von je 500 kg so vorgespannt, dass sie auch bei starkem Wind oder manueller Anregung nur leicht vibrieren.
Bruchsicher ist der feinschiefrige Glimmerquarzit in dieser in der Schweiz noch nie dagewesenen Hightech-Montage, weil die 25 mm dünnen Steinplatten erst horizontal geteilt, dann in der Mitte gewebeverstärkt und dann wieder verleimt wurden. Aus der Nähe zeigen sich die zwei Schichten an den hammerbekanteten Seiten. Unten und oben sind die Flächen sandgestrahlt und gebürstet und zeigen die vielen Farben und Muster des Valsersteins.
Im Winter lägen manchmal einzelne Schneeflocken auf den Oberflächen der Steinplatten: ein schönes Bild, findet Artemis Anna Truffer. Schnee fiel auf die Prototypen und auch auf die fertig montierte Fassade immer wieder. Die Renderings der Idee von Kengo Kuma & Associates waren schneller erstellt als die Konstruktion, die nun Wind und Wetter standhalten muss. Die ersten Tests enttäuschten die Bauherrschaft genauso wie die Architekturschaffenden, immer wieder begutachteten sie gemeinsam die Prototypen auf dem Bauplatz. Kengo Kumas Büro liess sich in der Schweiz vor allem von Frauen vertreten: Kumas langjährige Büropartnerin Yuki Ikeguchi, die von Paris aus die europäischen Projekte betreut, begleitet von den zwei jüngeren Angestellten Yasemin Sahiner und Jagoda Krawczyk, besuchte Vals während der langen Bauphase etliche Male, dreimal gemeinsam mit Kuma.
Manchmal wundere sie sich darüber, überlegt die Firmenmitinhaberin heute, dass die Familie über all die Jahre nie erwog, dem japanischen Architekten härtere Vorgaben beim Zeitplan zu machen. Schliesslich haben sie ein besonderes Haus bezogen: Es hat sich wohl gelohnt.
In der Felsspalte
Gegen oben wird das Haus Balma immer privater: Im Unter- und Erdgeschoss nimmt es seine repräsentative Funktion war und ist Empfang, Showroom, Konferenzzimmer und sogar Konzertlokal. Im ersten Obergeschoss liegen das firmeneigene Büro und ein Aufenthaltsraum für die Mitarbeitenden. Im zweiten Obergeschoss und in der Dachetage gibt es zwei Wohnungen, die grössere der beiden nutzt die Familie selbst.
Die Felsspalte, die sich diagonal durch das Haus legt und die Stockwerke verbindet, ist viel mehr als ein Treppenhaus. Dank der natürlichen Variation der Steine entsteht aus der schieren Masse und den feinen Bruchstellen der Natursteine eine überwältigende Wirkung. Dabei wurde nichts dem Zufall überlassen: In Tokio und Paris entwarf das Büro am Computerbildschirm den Verlegeplan, in Vals wurden die genuteten 150-kg-Platten dann in der exakt vorgegebenen Anordnung auf die Konsolen in der Betonwand gesetzt. Nach dem Gang durch die dunkle Felsspalte, die die Truffers mit einem Steinbruch vergleichen, wirken die Räume oben heller und leichter. Eichenparkett, grosse Fensterflächen und weisser Gips kontrastieren mit der Schwere der Steine weiter unten.
Die Fassade des Hauses ist sein grösster Showroom, doch auch innen wird noch viel Besonderes vorgeführt: Empfangstheke, Böden, Wände, Bäder und Küchen aus dem traditionellen Jossagada-Stein mit seinen feinen Grauabstufungen und seinem in bestimmtem Licht grünlichen Schimmer, weiter ein erdig-dunkler Aufstrich mit den Mineralien des Quarzits unter dem Oberlicht und schliesslich Badezimmereinbauten und Wände aus dem kleineren Steinbruch Schmitteli unterhalb des Dorfeingangs. Die Familie hat ihn vor vier Jahren wieder in Betrieb genommen. Auch den Schmitteli-Stein, kontrastreicher und stärker gezeichnet, vertreibt die Firma Truffer aus dem Valsertal in die weite Welt.
Der Showroom für den Valserstein, der das Haus Balma sein soll, war während der Bauzeit vor allem ein Laboratorium. Die erst noch zu erfindenden Techniken der Konstruktion haben die Angestellten der 60-köpfigen Valser Firma zuweilen an ihre Grenzen gebracht. Trotzdem hat sich die Bauherrschaft in einzigartiger Weise auf die Ideen der Architekten eingelassen, für die Ausführung auch externe Spezialisten beigezogen und keine Mühe gescheut, den zuweilen abgehobenen Ideen treu zu bleiben. Es beschleicht einen das Gefühl, dass sich diese Leistung kaum wiederholen lässt: So wäre das Haus dann wirklich einzigartig fantastisch.
Wohn- und Geschäftshaus Truffer, Vals GR
Bauherrschaft, Steinproduktion
Truffer, Vals
Architektur
Kengo Kuma & Associates, Tokio
Ausführungsplanung, Bauleitung
Spreiter + Partner, Flims Dorf
Tragwerksplanung
Widmer Ingenieure, Chur
Fassadenplanung
Reba Fassadentechnik, Chur
Fassadenmontage
Tüfer Gebr., Küblis
Baumeisterarbeiten
Richard Schmid und Kurt Schnyder, Ilanz/Vals
Blechverkleidungen
Cava, Ilanz
Küchen
Weishaupt, Vella
Landschaftsbau
Schutz Filisur, Filisur