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Negrellisteg Zürich, Einstufiger Studienauftrag im selektiven Verfahren

Das Team um Conzett Bronzini Partner gewinnt den zweiten Wettbewerb für die Gleisüberquerung vor dem Zürcher Hauptbahnhof. Die Kombination aus austariertem Durchlaufträger und edlem Geländer überzeugte die Jury.

Publikationsdatum
09-08-2018
Revision
09-08-2018
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

Die Durchmesserlinie mit dem Bahnhof Löwenstrasse und die Baustellen um Europaallee und Zollstrasse zeugen von einer rasanten Stadtentwicklung beim Zürcher Hauptbahnhof. Zugleich trennt das 170 m breite Gleisfeld die beiden Stadtkreise 4 und 5 nach wie vor stark voneinander. Nun soll voraussichtlich im August 2022 der Negrellisteg in Betrieb genommen werden, den täglich geschätzte 2500 Fussgänger über­queren werden. Zudem wird ein bestehender Stadttunnel für den Velo­­verkehr umgenutzt.

Diese modal getrennte Lösung hat ihren Ursprung in der planerischen Sackgasse, Fussgänger und Velos gemeinsam über die Gleise zu führen: Das Siegerprojekt des ersten, von der Stadt Zürich 2011 organisierten Negrellisteg-Wettbewerbs sah vor, ein 140 m weit gespanntes, perforiertes Rohr aus Ultra-Hochleistungs-Faserbeton (UHFB) über die Gleise zu führen (vgl. TEC21 19–20/2011). Das innovative Projekt scheiterte nicht an der technischen Machbarkeit – die zwar nicht restlos geklärt war –, sondern hauptsächlich an den monumentalen Anfahrtsrampen für die Velofahrer, die die Gesamtbaukosten auf 30 Mio. Franken trieben.

Gleiche Lage, neue Vorgabe

Aufgrund der differenzierten Verkehrsführung lancierte die SBB als Bauherrin im Zusammenarbeit mit der Stadt dieses Mal einen Wettbewerb für eine reine Fussgänger­brücke. Rahmenbedingungen wie etwa der Perimeter, die Nachbarschaft zum denkmalgeschützten Zentralstellwerk von Max Vogt von 1963, die städtebauliche Lage als Eingangstor zur Wirtschaftshauptstadt und der Bau während des Bahnbetriebs blieben quasi unverändert. Die finan­zielle Beteiligung der SBB setzte nun aber ein Design-to-Cost-Verfahren voraus, das für die Erstellung lediglich 6.5 Mio. Franken vorsieht.

Pläne und Visualisierungen der rangierten Projekte finden Sie hier

Der Wettbewerb wurde als Studienauftrag im selektiven Verfahren mittels Präqualifikation durchgeführt. Fünf Planerteams, bestehend aus einem federführenden Ingenieur, einem Architekten und weiteren Fachplanern,  reichten ihre Vorschläge ein. Ein Dialog­verfahren zwischen Bauherrschaft und den Projektverfassern fand während des Entwurfs statt, um sowohl die gestalterische Freiheit zu garantieren als auch die komplexen Vorschriften im Gleisbereich zu erfüllen. Das Projekt «96» der Ingenieure Conzett Bronzini Partner, Diggelmann + Partner und 10 : 8 Architekten erhielt den Zuschlag der Fachjury.

Zeichenhafte Beiträge

Sämtliche Entwürfe erfüllten die gestellte Aufgabe. Bei ihrer Beur­teilung legte die Jury ein besonderes Augenmerk auf die Effizienz des Konzepts bis in die Details sowie auf die Gesamtwirkung von Brücke und Kopfbauten im städtischen Gefüge.

Der Entwurf «96» des Teams um Conzett Bronzini Partner dif­ferenziert sich mit seiner gewölbten Form von der Umgebung. Die Treppentürme sind minimalistisch gehalten und entlasten die dicht bebauten Kopfbereiche. Sowohl die einheitliche Gesamtgestaltung als auch die sorgfältig ausformulierten Geländerdetails überzeugten die Jury. Dazu kommt ein konventionelles, integrales Tragsystem, das zudem die niedrigsten Erstellungs- und Unterhaltskosten aufweist.

Mit dem «Flying Dutchman» setzt das Team um Fürst Laffranchi Bauingenieure ein poetisches Objekt ins städtische Gefüge. Zugleich erweist sich der umgekehrte Fink­träger als effizient und wirtschaftlich. Leider fehlen die städtebaulichen Be­züge, und den Kopfbauten gelingt es nicht, die elegante Geste auf den Boden zu bringen, was bereits bei der Jurierung eines ähnlichen Entwurfs für die Personenüberführung Rotkreuz / Risch bemängelt wurde (vgl. TEC21 42–43/2017).

Das «Wurmloch» des Teams um Ingphi ist ein Hybrid aus Bogen, Hängewerk und Vierendeelträger, das sich auch durch einen spektakulären Bauvorgang auszeichnet. Der funktionale Vorteil eines Gleisbereichs ohne Stützen kompensiert jedoch nicht den städtebaulichen Nachteil der massiven Kopfbauten.

Das Projekt «Luigi» des Teams um Cowi UK zeigt ein tek­tonisch anspruchsvolles Bauwerk, als einziges mit integriertem Dach. Der selbstbewusste, aber heterogene Entwurf wirkt jedoch im stark belasteten Stadtraum zu unruhig.

Den überdimensionalen Fahrleitungsträger «Vinci» entwickelte das Team um DIC ingénieurs aus seinem Entwurf des ersten Wettbewerbs weiter. Die klare Form der Brücke mit ihrer Materialisierung aus wetterfestem Stahl und grossformatigen Schutzgläsern harmoniert jedoch nicht mit den verspielten Kopfbauten. Ebenso wurde die Wirtschaftlichkeit in Erstellung und Unterhalt hinterfragt.

Innovation versus Kosten

Mit der prämierten, gemäss Jury «äus­serst funktionalen, ja fast pragmatischen Konzeption» setzte sich der Auftraggeber offensichtlich andere Ziele als beim ersten Wettbewerb. Dort faszinierte das Siegerprojekt «durch Grosszügigkeit, techni­­sche Innovation und Kühnheit. (…) Der derart realisierte Negrellisteg wird eine starke Ausstrahlungskraft besitzen und Zürich mit einem unverwechselbaren Brückenbauwerk bereichern.»

Tempi passati. Mit dem neuen Verfahren wurde aber immerhin eine architektonisch hochwertige Brücke mit Gesamtbaukosten von bloss 11 Mio. Franken in Auftrag gege­ben. Aufgrund des Kostendrucks bleibt zwar die Innovation auf der Strecke, nicht aber die Ingenieurbaukunst, die sich in edlem Gewand an prominenter Lage präsentieren wird.

Wie ist es, das gleiche Projekt unter neuen Vorgaben zu denken? Davon und von ihrem Umgang mit dem anspruchsvollen Kostenrahmen erzählen die Ver­fasser des Siegerentwurfs, Gianfranco Bronzini, Georg Rinderknecht und Mathieu Paratte. Das Interview lesen Sie auf espazium.ch/interview-negrellisteg.

Auszeichnung
 

«96»: Conzett Bronzini Partner, Chur; Diggelmann + Partner, Bern; 10 : 8 Architekten, Zürich
 

Weitere Teilnehmer
 

«Flying Dutchman»: Fürst Laffranchi Bauingenieure, Aarwangen; Ilg Santer Architekten, Zürich


«Wurmloch»: Ingphi, Lausanne; SNZ Ingenieure und Planer, Zürich; Nunatak Architekten, Fully


«Luigi»: Cowi UK, London; WaltGalmarini, Zürich; Locher Ingenieure, Zürich; Explorations Architecture, Paris


«Vinci»: DIC ingénieurs, Aigle; Borgogno Eggenberger + Partner, St. Gallen; Brauen Wälchli Architectes, Lausanne
 

FachJury
 

Lisa Ehrensperger, Architektin, Zürich (Vorsitz)


Anita Emele, Amt für Städtebau, Zürich


Mario Fontana, Bauingenieur, Zürich


Walter Kaufmann, Bauingenieur, Zürich

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