Neue Stahl­brü­cken für das Welt­erbe

Projektwettbewerb Ersatz von drei Stahl­brücken Oberengadin

Die Infrastruktur der Rhätischen Bahn (RhB) ist aus der Kulturlandschaft Albula/Bernina nicht mehr wegzudenken. Die Gebirgsbahn illustriert als Unesco-Welterbe den Höhepunkt der Glanzzeit der Hochgebirgsbahnen. Nun sollen auf der Kernstrecke fünf Kunstbauten ersetzt werden.

Publikationsdatum
26-09-2019

Die Bahnlinie Samedan – Pontresina ist Bestandteil der Kernzone des Unesco-Welt­erbes RhB. Dieser Streckenabschnitt ist ein Verbindungsstück zwischen den beiden Linien Albula und Bernina, das die Station St. Moritz auslässt. Es wurde als separate RhB-Konzession 1908 als Auftakt zur Berninabahn eröffnet. Auf diesem Abschnitt, flach und gerade über die Oberengadiner Ebene geführt und losgelöst von den Talflanken, eröffnet sich der weite Blick auf die umliegende Gebirgslandschaft. Diese gerade Verbindung verknüpft nicht nur die Albulastrecke von 1903 mit der etwas jüngeren Bernina­strecke von 1910, sondern auch die als Gebirgsbahn für Dampfbetrieb konstru­ierte Strecke mit der innovativen ­Adaptation der elektrischen Überlandbahn auf gekonnter Trassierung im Hochgebirge. Auch hier entstanden Kunstbauten, die eine bedeu­tende Innovation der technischen ­Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts widerspiegeln. Dennoch oder gerade deswegen sind sie vor allem pragmatisch und sparsam.

Natur und Kultur sind zusammengewachsen

Über das Jahrhundert mit dem Umgebungsbild verwachsen, bilden die Kunstbauten heute eine optische Einheit mit der Topografie. Obwohl die Unterschiedlichkeit von Kultur und Natur nicht markanter sein könnte – hier die präzis konstruierten und punktuell gesetzten Tragwerke und dort die sich kontinu­ierlich über das Tal erstreckende Landschaft des Oberengadins.

Die Innbrücke und die Binnenkanalbrücke Samedan sowie die Flazbachbrücke kurz nach der Sta­tion Punt Muragl in Richtung Pontresina sind drei solcher Kunstbauten. Die Stahlbrücken bestehen aus oben liegenden Fachwerkträgern mit offener Fahrbahn und sind zwischen 90 und 110 Jahre alt. Sie haben das Ende ihrer Lebensdauer erreicht. Auch die unmittelbar an die Inn­brücke angrenzende Uferwegunterführung ist in einem schlechten Zustand. Die Unterführung unmittelbar nach der Flazbachbrücke, wo die Bahntrasse auf einem Damm liegt, soll breiter werden, damit sie als Loipenunterführung für den Engadin Skimarathon funktionieren kann. Auf einem Abschnitt von drei Kilometern Länge sind fünf Kunstbauten der wertvollen Strecke zu ersetzen.

Ziele und Vorgaben des Ingenieurwettbewerbs

Die RhB veranstaltete für dieses Vorhaben einen selektiven, anonymen Projektwettbewerb. Mit den fünf Ersatzneubauten sollten wiederum Bauwerke von aktuell hoher technischer und architektonischer Qualität in Kontext mit einer sehr guten Einbindung entstehen. Die drei Hauptbrücken sollten für die Projekterarbeitung denkmalpflegerisch als Ensemble betrachtet werden, um das Verbindungsstück auch künftig als Ganzes fassen zu können. Ausserdem war der Entwurf auf Basis von einschränkenden geologischen, konstruktiven, technischen, teilweise reduzierten geometrischen Verhältnissen und flussbaulichen Rahmenbedingungen zu entwickeln. Eine aussergewöhnliche und schöne, aber auch herausfordernde Aufgabe. Denn die Arbeit verlangte den Planungsteams ein differenziertes Denken und eine subtile Herangehensweise an die sensible Situation ab.

Die Planungsteams entwarfen unterschiedliche Überquerungen basierend auf den gegebenen Rahmenbedingungen. Keine iko­nischen Landmarken – das wäre von der RhB nicht gewünscht gewesen –, aber dennoch ganz typeigene Kon­struktionen, die ihre charakteristischen Ausformulierungen haben. Bei allen neun eingereichten Projekten weisen die drei Hauptbrücken einen gemeinsamen Bautypus auf, und der Querschnitt wurde überall als Stahltrog entworfen. Für die beiden kleineren Bauwerke, die Uferwegunterführung in Samedan und die Loipenunterführung Plattignas in Celerina, wurden jedoch verschiedene Konzepte ausgearbeitet – einerseits eine Verwandtschaft mit den Hauptbrücken, andererseits eine Eigenständigkeit suchend, aber stets statisch und gestalterisch begründet. Die ingenieurspezifischen Herangehensweise greift die Entwurfshaltung auf, die den Bauwerken der Bernina- und der Albulabahn zugrunde liegt.

Vielfalt im gegebenen Rahmen

Die Typisierung war bei allen Projekten mehr als blosses Arbeitsinstrument einer rationellen Planung und Ausführung. Sie war zugleich auch das konsequent durchgezogene gestalterische Konzept, um die gewünschte Ensemblewirkung zu erreichen. «Kontinuum» bildet sich aus einem Trogquerschnitt mit zwei geschlossenen Stahlkastenträgern, die jeweils einen konvexen Obergurt aufweisen. Die Jury findet die autonome Form, die mit grosser Designanstrengung erreicht wird, zwar attraktiv, doch zu teuer erkauft. Dieser Stil entspreche nicht dem Wesenszug der RhB – formale Aspekte sollen sich optimal mit technischen, material- und bahnspezifischen vereinen sowie sich mit der Bahnbauhistorie an diesem Ort verknüpfen. Auch «sumgiaint» ist von einfachen Balken geprägt. Hier variieren die lateralen, geschlossenen Hohlkastenträger aber linear in der Höhe und haben ein gerades Mittelstück. «Vivace» wiederum entwickelte einheitlich 38 m lange Bogenträger, die sich zum Obergurt hin zu einem Fach­werk auflösen. Sowohl «sum­giaint» als auch «Vivace» wollen eine zeitgenössische Gestaltung mit einem historischen Tragwerk vereinen. Die Projekte dokumentieren – so sieht es die Jury – die grossen und fast unüberwindlichen Schwierigkeiten des Nachzeichnens einer Brücke des 19. Jahrhunderts.

Ebenso aus einfachen Balken besteht «Viadi». Die geneigten, einheitlich 33.75 m langen Blechträger aus Cortenstahl, die dem Kraftverlauf entsprechend perforiert sind, überzeugten die Jury allerdings nicht. Der direkt bewitterte wetterfeste Stahl des Trogquerschnitts mit den scharfkantigen Öffnungen sei zu gewagt und nicht dauerhaft. Einen anderen Ansatz sieht «Ferro Via» vor: Das Tragwerk besteht aus einem Rahmen aus Stahl, dessen Stahltrog-Überbau über einen in Gehrung ausgebildeten Übergang monolithisch mit den aus Beton gebauten Rahmenstielen verbunden ist. Obwohl das Tragsystem kleine Trägerhöhen und eine leichte Brücke generiert, was sich auf die Kosten und den Montagevorgang niederschlägt (zweitgünstigste Brücke), ist für die Jury das Rahmentragwerk vor allem aus gestalterischen Gründen nicht die adäquate Tragstruktur an diesen Stellen. Zu tief sacken die Stiele in den Baugrund, zu gedrungen erscheint das Tragwerk in der Topo­grafie.

Materialgerecht denken

Ähnlich betrachtet die Jury «Tri­anguler»: ein stark vereinfachtes Fachwerk aus Stahl als seitliches Haupttragwerk. Die Jury war der Meinung, dass diese Form für eine Holzbrücke geeigneter gewesen wäre, was hier aber nicht umsetzbar ist. Deshalb wird die statische Ausformulierung bzw. die charakteristische Tragwerksform als für nicht richtig erachtet.

«nus traversains» und «Tran­siziun» nutzen die Vorteile einer Vier­endeel-Konstruktion. Ersteres besteht aus Bögen mit Zugband (Langersche Balken) und biegesteifen Pfosten (anstelle von klassischen Hängern), und Zweiteres ist aus oben liegenden, auf die Statik abgestimmten, aufgeständerten Bögen und Kastenträgern konstruiert. Es sind gestalterisch durchaus gelungene Systeme, doch beide Projekte schienen der Jury im Vergleich zu den anderen noch zu unausgereift.

Lingia cotschna

Auch das Siegerprojekt «Lingia cotschna» sieht für alle Haupt­brücken einen Trogquerschnitt mit oben liegendem Tragwerk vor. Dieser besteht aus seitlichen Blechträgern mit jeweils einem klassisch geraden Obergurt. Engmaschig angeordnete Aussteifungsrippen stabilisieren den Steg und den Flansch, auch gegen Anprall. Sie dienen vor allem auch der Einspannung des dünnen Grobblechs und ermöglichen erst dessen schlanke Gestaltung. Die Jury begrüsste den typischen, klassischen und durchdachten Stahlquerschnitt. Auch wertete sie die Profilierung mit den Rippen in der Ansicht als positiv; die tektonische Gliederung gefiel. Allerdings generiert diese Ausführung eine grosse Oberfläche, was einen aufwendigen Korrosionsschutz und einen entsprechend höheren Unterhalt bedingt. Sich diesem Aspekts bewusst, war die Jury dennoch von diesem Entwurf überzeugt.

Es sind Brücken, die sich bescheiden und zurückhaltend in die Umgebung einfügen. Den Ausschlag gab vor allem die grosszügige konzeptionelle Geste. Aus dem Bauablauf begründet, erhalten die neuen Brücken eine leicht vergrösserte Spannweite. Die daraus resultierenden grösseren lichten Öffnungen bewertet die Jury aus optischer, verkehrstechnischer und gestalterischer Sicht als vorteilhaft.

Das Projektteam rund um die Ingenieure Casutt Wyrsch Zwicky und Chitvanni + Wille fasste vor allem auch die verschiedenen Interventionen bei Samedan nämlich zu einer einzelnen zusammen, indem es die Flügelmauern und die Oberflansche der drei Brücken über die Schienenoberkante hinausragen liess. Entlang des Bahndamms werden sie zudem zu durchgehenden Seitenwänden der Bahntrasse verlängert. Damit wird der Gefahrenbereich der Bahn optisch und physisch von der Umgebung getrennt. Die Jury bewertet diese durchgezogene Brüstung nicht als Verunklärung, sondern als gelungenes durchgehendes Band, das das Konglomerat an Einzelinterventionen zu einem Gefüge zusammenbündelt.

«Die Engadiner Ebene hat eine Topografie, für welche die Unterstreichung der Horizontalen die richtige Reaktion ist», so im Jurybericht. Zusammen mit Gredig Walser Architekten und Kohler Landschafts­architektur entwickelten die Ingenieure somit mit «Lingia cotschna» ein «schlichtes und reduziertes Projekt, das radikaler ist, als es vorerst vermuten lässt».

Neue Fussgängerwege

Die Passerelle über die Kantonsstras­se bzw. entlang der Binnenkanal­brücke wird neu ostseitig (fluss­abwärts) über verjüngende Stahlkonsolen an die Brücke angehängt. Entsprechend schliesst der flache, aber kurze Rampenschwung (inkl. einer kurzschliessenden Treppe) ostseitig an die Binnenkanal­brücke an und entschärft den engen Verkehrs­knotenpunkt westlich der Binnenkanalbrücke. Damit die Bushaltestelle auf der Westseite der Bahnlinie erreicht werden kann, ist zwischen der Inn- und der Binnenkanalbrücke eine neue Personenunterführung unmittelbar vor dem Widerlager Süd der Innbrücke vorgesehen. Dank ihr bietet sich neu ein Verbindungsnetz mit kurzen Wegdistanzen (allerdings auch mit mehreren Höhenunterschie­den). Das Dorf und die Gewerbezone erhalten so eine ganzheitliche Langsamverkehrsverbindung, deren Umsetzung bereits in mehreren Anläufen versucht worden war.

Diese Ausformulierung wertete die Jury als für die Lage angemessen und betrachtete sie als gelungenen Schachzug. Allerdings gelte es, die politische und raumplanerische Situation bezüglich der Fussgängerwege nochmals zu prüfen, da Neuanlegungen und Unterführungen bereits von der Gemeinde angedacht sind.

Konsequent durchgezogenes Konzept

Die neue und die verbreiterten Unterführungen werden konsequent als schlaff bewehrte, trapezförmige Rahmenkonstruktion in Stahlbeton ausgebildet – auch die Feldweg- bzw. Loipenunterführung Plattignas übernimmt die Formensprache aus den Stahlbetonunterführungen in Samedan. Wie ein roter Faden zieht sich das Baukonzept also über den gesamten Perimeter weiter und lässt die angestrebte Ordnung in der spannenden Abfolge von verschiedenen zu überbrückenden Hindernissen entstehen. «Das ist im Kontext des Wettbewerbs für die Jury verständlich», fügt Karl Baumann, Leiter Kunstbauten der RhB, an, «betrachtet man aber die Einfügung in die Landschaft an dieser nicht mehr urbanen Stelle, so scheint diese Lösung noch nicht in allen Belangen ausgewogen.»

Das Projekt ist mit 5.81 Mio. Franken im Übrigen eines der günstigeren Projekte, weist den zweitniedrigsten Stahlverbrauch aller neun Vorschläge auf und ist schon aus diesem Grund ein wirtschaft­liches Projekt. Die zweckmässigen Brücken mit pragmatischen Ansätzen, die auch für die Ausführung und die Montage effiziente Bauphasen unter Aufrechterhaltung des RhB-­Betriebs vorsehen (Einschränkungen nur im vorgegebenen Masse), sind wohlgestaltet und ökonomisch zugleich und entsprechen so dem Wesenszug der RhB. Baumann betont diesbezüglich: «Aus der Synthese von landschaftsbezogener Gestaltung, ökologischen Belangen und technischen Standards wird gute, die Gegenwart prägende Baukultur.» Insofern besteht durchaus das Potenzial, dass die neuen Brücken erneut eine Spiegelung des heutigen kreativen Schaffens der Ingenieure auf dieser Kernstrecke des Unesco-Welterbes werden. Und in einem Jahrhundert wiederum die ingenieurspezifische Leistung und den ästhetischen Anspruch als gesamtheitliche Ingenieurbaukunst von heute aufzeigen.

Weitere Pläne und Bilder finden Sie in der Rubrik Wettbewerbe.

Auszeichnungen

1. Preis: «Lingia Cotschna»
Casutt Wyrsch Zwicky, Chitvanni + Wille; Gredig Walser Architekten, Chur; Kohler Landschaftsarchitektur, Bad Ragaz
2. Preis: «Kontinuum»
Leonhardt, Andrä und Partner, Beratende Ingenieure, Stuttgart; Dissing+Weitling architecture, København; Schønherr, Aarhus
3. Preis: «sumgiaint»
Flückiger + Bosshard, Chur; Balz Amrein / Architektur / Brückenbau, Zürich; raderschallpartner, Meilen
4. Preis: «Vivace»
Cowi UK, London; WaltGalmarini, Zürich; Moxon Architects, London; Hager Partner, Zürich

Weitere Eingaben

«Ferro Via»
Bänziger Partner, Chur; Conzett Bronzini Partner, Chur; Müller Illien Landschaftsarchitekten, Zürich
«nus traversains»
dsp Ingenieure und Partner, Uster; Spataro Petoud Partner, Bellinzona; Feddersen & Klostermann Städtebau – Architektur – Landschaft, Zürich; Nipkow Landschaftsarchitektur, Zürich
«Transiziun»
IG BHTE Basler & Hofmann / Thomas Ekwall, Zürich; Ritter Schumacher, Chur; K+D Landschaftsplanung, Muldain; Formentwicklung, Agnieszka Gut, Frankfurt am Main
«Trianguler»
schlaich bergermann partner, Stuttgart; Emch + Berger, Bern; explorations architecture, Paris
«Viadi»
DIC SA, Aigle; Pont 12, Chavannes-­près-Renens; Interval Paysage Sàrl, Chavannes-près-Renens

Fachjury

Johannes Florin, Denkmalpflege GR; Quintus Miller, Architekt, Basel; Dr. Rudolf Vogt, Bauingenieur (Moderation), Zürich

Sachjury

Christian Florin, Leiter Infrastruktur RhB (Vorsitz); Karl Baumann, Leiter Kunstbauten RhB

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