Lehm: be­schei­den, am­bi­tio­niert, zu­ver­sicht­lich

In Chur fand vom 5. bis 7. Mai 2023 das erste Lehmbau Symposium statt. Es zeigte: Wir beginnen erst damit, das Potenzial des Materials auszuschöpfen. Und: Die Schweiz hat Aufholbedarf. Initiiert wurde der Anlass von der ibW Höhere Fachschule Südostschweiz, der IG Lehm und dem Fachverband Lehm Schweiz.

Publikationsdatum
16-05-2023

Lehm kann vieles. Er eignet sich für innovative Entwicklungen, ist traditionell, ein Trigger für soziale und gesundheitliche Fragen und kann Oberflächenmaterial oder strukturelles Bauteil im Grossformat sein. Bedeutend ist er auch hinsichtlich Zirkularität und weil er kaum Emissionen verursacht. In diesem Zusammenhang bezog sich Charlotte Bofinger von Zirkular in ihrem Vortrag auf den Anfang 2023 erschienenen Circularity-Gap-Bericht: Die Schweiz kann bei ihrem Materialverbrauch gerade mal mit 6.9% Zirkularität aufwarten. 93% kommen dagegen aus neuen Ressourcen, wovon 80% auf das Konto des Bauens gehen. Mit jährlich über 500 kg pro Person ist unser Land regelmässig unter den fünf grössten Betonverbrauchern der Welt. Den Soll-Wert von 7.2 kg CO2 pro Jahr, der nötig wäre, um die Klimaziele zu erreichen, erfüllen im Moment nur wenige Bauten. Und hier, so Charlotte Bofinger, kann Lehm einen Beitrag leisten, indem der Bestand jeweils nur bis auf das Stahl- oder Beton-Tragwerk zurückgebaut wird und im neuen Innenausbau dann Lehm zum Einsatz kommt. 

Der Baubiologe Holger Längle beschäftigt sich mit dem Wohnumfeld. Die meisten Menschen verbringen 80% ihrer Zeit in Innenräumen, darum ist es wichtig, dass diese ein gesundes Umfeld darstellen. Jede dritte Erkrankung hängt mit schädlichen Umwelteinflüssen u. a. aus Materialien in Wohnungen oder am Arbeitsplatz zusammen, so das Urteil des Gesundheitsministeriums und der Krankenkassen in Deutschland. Eigentlich alarmierend, denn die zahlreichen Wohngifte sind messbar: Formaldehyd in Holzteilen, Lösungsmittel in Kunststoffen, Biozide in Textilien und Schwermetalle in Farben, die über die Luftfeuchtigkeit in die Haut gelangen. Die Liste der Krankheiten und ihrer möglichen Auslöser ist lang: Depressionen, Krebs und Verhaltensstörungen werden möglicherweise durch Styrol verursacht, Leberschäden durch Phosphorsäureester und Allergien durch Tenside.

Meist sind die Grenzwerte über Studien erarbeitet, die von der Baustoffindustrie mitfinanziert oder zumindest beeinflusst wurden. Eine Verbindung zu Materialien in der Wohnumgebung ist im konkreten Fall schwierig nachzuweisen, denn für jedes Argument gibt es eines dagegen – Gene, Zigaretten, Stress oder schlechte Ernährung. Von der Ernährung stellt Längle einen so einfachen wie plausiblen Zusammenhang zum Wohnen her: Was man beim Kochen immer öfter berücksichtige – biologische, regionale und natürliche Rohstoffe anstelle von Convenience-Food – sollte auch beim Bauen selbstverständlich sein, indem man nur das einplant, was man am Schluss auch «drin» haben möchte, zum Beispiel unbehandeltes Holz oder Lehm.

Lehm verbindet die Generationen

Soziale Zusammenhänge sind das Thema des ersten Blocks am Nachmittag. Am Vortrag von Saikal Zhunushova sind zwei Dinge äusserst spannend: einerseits ihr Ansatz der baulichen Einfachheit, des schlicht Notwendigen, Sinnvollen und Natürlichen. Anderseits lässt sie der Renovation eines kleinen Bads mit Verputzabplatzungen durch Schimmelbefall – solche Aufträge erhält Zhunushova viele – und einem mittelgrossen Schulhausneubau in Kirgistan, ihrer zweiten Heimat, die gleiche Wichtigkeit und Sorgfalt zukommen.

Den Auftrag für den Neubau der Schule akzeptiert sie unter der Bedingung, dass dieser nur aus natürlichen Materialien besteht: Stroh, Stein, Holz und Lehm. Der Bau verfügt über ein schützendes Vordach und eine Stampflehmwand, die ihn längs teilt, ist mit Wolle isoliert und hat in den sieben Klassenzimmern einen dunklen Boden, der die Sonnenwärme speichert. Die Kommunikation zwischen Kirgistan und der Schweiz erfolgte meist über den Bildschirm. In einem Moment der Ungeduld sagte Zhunushova zum Bauleiter: «Holt einen Bagger, dann geht es schneller.» Er antwortete: «Nein, das kostet zu viel, dafür zahle ich lieber die Löhne von zusätzlichen Arbeitern.»

Dass die Erstellung einer Stampflehmwand körperliche Schwerstarbeit ist, veranschaulichte auch der Zimmermann Hubert Heinrichs anhand des Weleda-Logistikzentrums in Schwäbisch Gmünd. Das Komprimieren von 10 cm Lehm auf 6 cm, bei Sonne oder Regen und in einem langsam in die Höhe wachsenden Ring von 240 Laufmetern, erfolgte mit 105 Personen in Sechsergruppen. Jeden Montag kamen neue «Stampfer», während etwa ein Drittel des alten Teams blieb. Dieses lernte in einer Art Vorarbeiterfunktion die Neuen an. Heinrichs betreut auch in Weissrussland Wohnhausprojekte. Freiwillige fachen deren Wände und Dächer aus Ständerwerk mit Lehm und Schilfrohr aus. Die Helferinnen und Helfer, darunter Grossmütter, Kinder oder Langzeitarbeitslose, wachsen an ihrer Arbeit. Heinrichs plädiert dafür, sich auch in Deutschland ein halbes Jahr Zeit zu nehmen und sein Haus eigenhändig zu bauen. Die Zwickmühle «Geld oder Zeit» lasse sich heute – zumindest in Deutschland – mit der Elternzeit lösen.

Rahmen und Schlüssel

Der Ingenieur Christof Ziegert erhält häufig Anfragen zur Wiederverwendung des Aushubs bei einem Bau. Da gibt es viel zu beachten. Verglichen mit einem Massivbau stellen zum Beispiel Schalungs- und Bewehrungspläne für Lehmbauten keinen Mehraufwand dar und rechtfertigen deshalb auch kein höheres Honorar. Beim Innenausbau seien Lehmplatten zwar teurer als solche aus Gips, doch um die gleichen bauphysikalischen Werte zu erhalten, benötige man anstelle von drei Lagen Gips nur eine einzige aus Lehm. Diffusionsoffen und weich, ist Lehm auch das ideale Füllmaterial für Fachwerke – deshalb, so Ziegert, sei es auch falsch, ihm Kalk oder Zement beizumischen.

All das und vieles mehr ist in Deutschland in der dritten Normengeneration für Lehmsteinmauerwerk geregelt. Sie umfasst unter anderem die Reinheit des Materials, damit es später in den Boden zurückgeführt werden kann. Recycling-Granulat aus Beton oder chemisch nicht reversible Stabilisatoren wie Zement, Kalk oder Gips sind in Lehmbauprodukten verboten. Viergeschossigen Lehmgebäuden steht in Deutschland nichts im Weg – was zeigt, dass in der Schweiz Nachholbedarf besteht.

Für Martin Rauch von der Firma Lehm Ton Erde Baukunst ist das Werkzeug der Schlüssel zum Erfolg. In Schalung, Verdichtung, Trocknung, Transport und Montage sieht er Innovationspotenzial. Er ist daran, Lehmbau ökonomisch und maschinell umzusetzen. Doch er gibt zu bedenken: «Wir produzieren heute Lehm, wie man vor 80 Jahren Beton verbaut hat – wir müssen noch viel lernen.» Dafür hat er eine Maschine entwickelt, die Wanddicken von 6 bis 85 cm stampft und verdichtet. Die Blöcke werden dann auf der Baustelle versetzt. Etwas Risikobereitschaft gehört dazu, so hat er auch auf eigene Verantwortung für den Alnatura Campus in Darmstadt ein Hebegerät für Blöcke entwickelt. Er stellt auch klar, dass Lehmbau nicht teuer sei, sondern die Kostenwahrheit verzerrt. Konventionelles Baumaterial sei viel zu billig, weil die fossile Energie noch immer preisgünstig ist. Dagegen werde die menschliche Arbeit viel zu hoch besteuert, deshalb sei sie bei uns so teuer.

Erhellende Leuchttürme und Grenzen

Von der Sprachfindung der Lehmarchitektur erzählt der Architekt Roger Boltshauser. Viele Spuren führen in die Vergangenheit – und zum Beispiel in die Ostschweiz. Die dortige Häufung von Lehmbauten sei kein Zufall, meint er, denn über die Verbindungen der Textilindustrie nach Lyon seien auch die Bautechniken nach St. Gallen gelangt. Seine Bauprojekte wie das neue Hallenbad in Oerlikon mit zwei mehrgeschossigen seitlichen Wassertanks aus Lehm lassen vorerst noch auf sich warten. Doch der neue Ausdruck, das Spiel um Leichtigkeit und Schwere ist bereits in den Plänen nachvollziehbar. Und eines ist sicher: Lehm als nachhaltiges Baumaterial braucht neue Leuchttürme; sie sind ein Mittel, um die in den letzten Jahren etwas dünn gewordene Aufmerksamkeit wieder zu bündeln.

Aber Lehm kann auch kein Allerheilmittel sein, um die vergangenen Verfehlungen des Bauens zu richten. Er ist ein Mittel von vielen, die es jeweils im richtigen Kontext einzusetzen gilt. Deshalb ist auch die an diesem Symposium oft gemachte, etwas euphorisch erscheinende Aussage «Lehm gibt es überall in Hülle und Fülle» zu relativieren. Sie erinnert an die optimistische Einschätzung zur Verfügbarkeit des Baustoffs Holz in Europa noch vor einigen Jahren. Will man mit Aushub vor Ort arbeiten und auf Transporte verzichten, dann gibt es sehr wohl ein Limit – vor allem in dicht besiedelten Gebieten oder in armen Ländern, wo kein Keller ausgehoben wird. Das zeigt auch ein Beispiel, das Christof Ziegert in seinem Vortrag vorstellte: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland aus Mangel an anderen Materialien eine grosse Lehmbaubewegung. Doch einige Genossenschaften bewilligten nur zweigeschossige Mehrfamilienhäuser, weil das Material des Kelleraushubs nicht für die eigentlich machbaren drei reichte – sicher eine weise Entscheidung.

Infos zum Programm sowie Referentinnen und Referenten finden Sie hier.

 

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