Die Fä­den ver­knüp­fen

In den Dörfern des Oberwallis gibt es jahrhundertealte Wohn- und Landwirtschaftsbauten, die meisten aus Massivholz. Sie auf einen zeitgemässen Stand zu bringen ist aufwendig. Die Berner Fachhochschule hat mit Partnern das Projekt «VetaNova» mit Leitfäden und Referenzobjekten erarbeitet. Eine zentrale Rolle spielt das Dorf Ernen.

Publikationsdatum
29-09-2022

Bekannte Dörfer im Oberwallis wie Riederalp oder Fiesch sind für den Tou­rismus grosszügig mit Gondelbahnen, Hotels, Ferienchalets, Restaurants und Läden sowie Kantonsstrassen und Bahnhöfen erschlossen. Auf den Strassen begegnet man je nach Jahreszeit Sommer- und Wintertouristen und jungen Leuten, die einen Saisonjob in der Gastronomie gefunden haben.

Ganz anders auf der gegenüberliegenden Südseite des Rhonetals, wo sich die Dörfer in einer Art Jahrhundertschlaf befinden. Es gibt keine bezahlte Arbeit, die demografische Situation ist von Überalterung geprägt, und infolge der stillgelegten Landwirtschaftsbetriebe und der Abwanderung stehen viele Bauten leer und verfallen langsam.

Diese teils jahrhundertealten Bauten aus Massivholz (darunter Wohnhäuser, Ställe oder Lagerschuppen, Letztere «Stadel» genannt) an zeitgemässe Bedürfnisse anzupassen bietet die Chance einer wirtschaftlichen Perspektive durch das Vermieten sowie ein Einkommen für Handwerker. Wie auf der Talseite vis-à-vis könnte der Tourismus zum Aufschwung beitragen. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Art von Tourismus erwünscht, gesund und möglich ist: Eine Skidestination wird die Talseite wegen der bescheidenen Erschliessung und der fehlenden Infrastruktur kaum werden – und das ist auch gut so.

Aber der Zweitwohnungsbau und Ferienwohnungen sind attraktiv geworden, nicht erst seit Covid – doch seitdem entdecken umso mehr Städter das Landleben. Die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern, das wertvolle Erbe möglichst original zu bewahren sowie an zeitgenössische Bedürfnisse und Normen anzupassen ist eine Gratwanderung.

Zweitwohnungsgesetz
Die Zweitwohnungsinitiative wurde im März 2012 an der Urne angenommen. Vier Jahre später trat das Bundesgesetz über Zweitwohnungen und die Zweitwohnungsverordnung in Kraft. Beide sind für Walliser Gemeinden einschränkend, da 98 von 130 Gemeinden mehr als 20 % Zweitwohnungen haben.

 

Das Zweitwohnungsgesetz erlaubt es, Ökonomiegebäude umzunutzen, wenn sie geschützt (Einzelbau) oder ortsbildprägend (Baugruppe) sind. Voraussetzung für die Ortsbildprägung ist ein Inventareintrag. Die Gemeinden sind interessiert, viele Gebäude zu inventarisieren, um so Umnutzung und Erhalt zu ermöglichen. Doch der Denkmalschutz legt Wert auf ein vielseitig abgestütztes Inventar, denn in manchen Fällen ist es sogar sinnvoll, wenn Gebäude abgerissen werden. Diese Widersprüche verlangsamen die Inventarisierung und blockieren teils Baugesuche. Darum können seit der Revision des kantonalen Baugesetzes die Gemeinden einen Bau mit dem Baugesuch unter Schutz stellen – ohne vorherige Inventarisierung. Doch seit 2016 müssen Bewilligungen für Umnutzungen von Ökonomiegebäuden dem Bundesamt für Raumentwicklung vorgelegt werden. Dieses hat Bewilligungen angefochten, weil die Stallscheunen und Stadel nicht schutzwürdig seien.

 

Bestehende Wohnungen dürfen gemäss Zweitwohnungsgesetz als solche genutzt werden. Doch dies hat eine Wert- und Preissteigerung der Immobilien zur Folge, was für Personen mit durchschnittlichem Einkommen beim Immobilienkauf eine Erschwernis darstellt. Ziel des Projekts «VetaNova» ist es auch, die Kosten für Bau und Planung zu reduzieren und Wohnungen als Erstwohnungen erschwinglich zu machen. Es gibt auch die Wohnbauförderung der Gemeinden, die Erstwohnungen im Dorfkern bei Sanierungen unterstützt. Generell besteht aber ein Trend zum Erstellen von neuen Erstwohnungen am Dorfrand.

Andreas Müller von der Berner Fachhochschule (BFH), Departement Architektur, Holz und Bau, hat sich mit seinem Team und verschiedenen Partnern mit Unterstützung der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung Innosuisse im dreijährigen Projekt «VetaNova» mit der Gebäudeerneuerung befasst. Leitfäden und Referenzobjekte sollen es Bauherrschaften und Planern ermöglichen, die alten Gebäude mit weniger Zeit- und Kostenaufwand umzubauen und zu sanieren – aus Altem, «Veta», soll Neues, «Nova», entstehen.

Dass dies nötig und erwünscht ist, zeigte sich anlässlich einer Veranstaltung in Ernen im Frühling 2022, an der die Fachhochschule und ihre Partner das Projekt vorstellten. Die Resonanz war gross und der Mehrzwecksaal über den letzten Platz hinaus belegt. Dies verdeutlichte die Verunsicherung mancher Hausbesitzer darüber, was bei einer Renovation möglich und erlaubt sei und wie man am schnellsten zu einer Baubewilligung komme. Die acht Leitfäden sollen Anhaltspunkte schaffen und konkrete Beispiele aufzeigen. Sie umfassen die Theman Gestaltung – hier in der Folge näher betrachtet –, aber auch Projektdokumentation, Baubewilligungsprozess, Gebäudeanalyse, Umbaukonzepte, Brand- und Erdbebenschutz sowie Bauphysik.

Jahrhundertealte Tradition

Ernen ist ein gutes Beispiel dafür, wie ambivalent die Entwicklungskriterien im Oberwallis sind, wie rasch sie in die richtige oder falsche Richtung führen – und wie verworren die Auffassungen darüber sind, was richtig oder falsch sei. Schon die Ausgangslage, der die heutige Situation zugrunde liegt, geht auf die Polarität zwischen Fortschritt und Tradition zurück. Der Bau einer Strasse Mitte des letzten Jahrhunderts und später der Eisenbahnlinie setzte Ernen und die Dörfer auf der Südostseite des Tals verkehrstechnisch ins Abseits, was in der Folge zum wirtschaftlichen Rückgang führte.

Doch das ist nur eine Seite der Geschichte. Die ausbleibende zeitgenössische Entwicklung liess Ernen ein traditionelles Dorf bleiben – dessen Vorzüge ausgerechnet tief in einer anderen verkehrsstrategischen Standortgunst verwurzelt sind: Vorteilhaft zwischen den Pässen Albrun, Gries, Furka und Grimsel gelegen, profitierte es jahrhundertelang als Verkehrsumschlagplatz. In dieser Zeit entstand ein kulturelles, soziales, bauliches und landschaftliches Erbe, das das Dorf bis heute auszeichnet. Von der ehemaligen Bedeutung und dem Reichtum des Orts zeugen auch einige herrschaftliche Steingebäude wie das Rathaus (1762) oder das Tellenhaus (1578), das die ältesten Tell-Fresken der Schweiz zeigt. Diese Häuser und Ernen als Gebiet sind im ISOS mit Erhaltungsziel A eingestuft.

Das Klavier im Heuschober

In der Arbeitsgruppe für den Gestaltungsleitfaden waren neben der Denkmalpflege des Kantons Pascal Abgottspon von Abgottspon Werlen Architekten, David Ritz von Summermatt Ritz Architekten und Markus Zimmermann vom Kompetenzbereich Bauen im Bestand und Denkmalpflege der BFH beteiligt. Sie befassen sich seit vielen Jahren mit historischen Bauten. Der entwickelte Leitfaden beinhaltet Empfehlungen, wie ein Gebäude renoviert oder umgebaut werden kann. Viele Massnahmen sind feine Interventionen, die aber in ihrer finanziellen Tragweite und ihrer Eingriffstiefe nicht zu unterschätzen sind. Dreizehn Referenzobjekte1, darunter renovierte, aber auch wenige neue Bauten, sind Teil der Dokumentation.

-> «Erhalten und weitertragen» – Umbau Stallscheune: Das Alte erhalten und in eine zeitgenössische Wohnform überführen.

Sie zeigen auf, wie individuell die Herangehensweise bei einer Renovation ist. Das «Hüs uf der Flüe» am Dorfrand von Ernen wurde von Abgottspon Werlen Architekten integrativ und sorgfältig instand gesetzt. Bis auf den Eingangsteil im Schuppen erfolgten keine sichtbaren grossen Eingriffe. Die dunklen Räume stellten wie bei vielen Wohnhäusern ein Problem dar. Spielraum zur Verbesserung der Belichtung im Innenraum bestand zwar, war aber je nach Umfeld eng. Indem ein altes Fenster links und rechts durch ein gleichformatiges ergänzt wurde, entstand eine neue Dreierreihe, die in der dörflichen Umgebung zurückhaltend wirkt.

Dass auch formal neuartige Öffnungen möglich sind, zeigt ein Stadel in Ernen. Bei diesem Typus sind Veränderungen einfacher als bei Wohnhäusern, da sie wegen ihrer landwirtschaftlichen Funktion oft bereits Tore haben. In diesem Fall wurde der Eingang verbreitert und verglast, damit ein Steinway-Flügel hineingeschoben werden konnte. Wo einst Heu und Korn lagerten, üben nun die Gastpianisten des Erner Festivals ihre Stücke. Der Umbau einer Stallscheune zu einem Atelier auf der Riederalp von Atelier Summermatter Ritz spricht mit einer strukturellen Öffnung im Erdgeschoss eine ähnlich moderne Sprache.

Die Sorgfalt am Dach

Dem Dach kommt eine vielfältige Bedeutung zu: Ausbildung und Dekoration der Dachkante, charakteristisch mit Fenstern und Türen gegen die Gasse hin, weisen auf den Stand der Familie und die Epoche hin, in der das Dach erstellt wurde.

Es spielt aber auch für das Innere eine Rolle. In fast allen alten Häusern lässt die niedrige Raumhöhe von knapp 1.90 m wenig Platz für Wärmeisolation, um schiefe Böden zu begradigen oder eine Tragstruktur zu ergänzen, falls zum Beispiel eine Wand entfernt wird. Hier werden im Leitfaden verschiedene Umbaustrategien vorgestellt, bei denen das Dach miteinbezogen wird. Ein Haus im Haus, bei dem eine tragende Innenstruktur, etwa ein zweiter Strickbau, der äusseren einverleibt wird, so wie bei der Stallscheune auf der Riederalp von Atelier Summermatter Ritz. Das nur von innen sichtbare, eingebaute Unterdach hat für die Durchlüftung eine andere Neigung als das äussere. Die Isolation kann zwischen oder über den Balken angebracht werden. Welche Varian­te angestrebt wird, muss situativ entschieden werden – auch das ein wichtiger Schluss des Gesamtprojekts.

Ganzheitlich gesehen

Wie eingangs erwähnt, ist der Gestaltungsleitfaden mit sieben Disziplinen verknüpft, denn die Gestaltung isoliert zu betrachten wäre nicht zielführend. So stellte Martin Geiser von der BFH, der mit seinem Team Untersuchungen zur Erdbebensicherheit durchführte, fest, dass Blockhäuser eine hohe Dämpfung haben – sich also im Erdbebenfall kaum bewegen. Mancher vergangene Umbau wurde demzufolge wohl statisch überdimensioniert. Das könnte künftig das Problem mit den geringen Raumhöhen etwas entschärfen, da statische Teile weniger dick sein müssen.

Auch beim Brandschutz ist der Spielraum mit den kleinen, niedrigen Räumen eng. Der Leitfaden weist auf einfache Dinge hin: ein luftdichter Windschutz, um die Übertragung des Feuers auf die Gassen zu verhindern, Hydranten im Winter nicht im Schnee versinken lassen. Auch vereinfachte Bau- und Planungsprozesse sollen Projekte schneller auf die Zielgerade bringen. Künftig ist eine Fach- und Koordinationsstelle geplant, um das erarbeitete Wissen an Bauherrschaften, Planerinnen und Gemeinden weiterzugeben. Die Instrumente von «VetaNova» – die Leitfäden und die Referenzobjekte – sind weder Anleitungen noch Musterlösungen, aber sie schaffen einen nötigen Rahmen und erleichtern die Orientierung für Bauherrschaften und Planer im Umgang mit dem baulichen Erbe.

Die Bildung dieses Erbes erfolgt auf behördlicher Seite, also von den Gemeinden, in den Stufen Inventarisierung, Klassierung und Unterschutzstellung. Im ersten Schritt werden die Objekte erfasst und in eine Bewertungsstufe von 1 bis 7 eingeteilt. Mit der Klassierung werden Objekte in hoch bewerteten Stufen vom Staatsrat genehmigt und von Kantonen oder Gemeinden unter Schutz gestellt. Die Unterschutzstellung gibt zu jeder Stufe die Erhaltungsvorschriften an und wird durch die angepasste BZO wirksam.

Geschichte kommt von Schicht

Nicht die möglichst lückenlose Renovation und Erneue­rung von Bauten in einem Dorf, sondern die Balance zwischen Neugestaltung und Belassen von Altem, ihre selbstverständliche und lebendige Verbindung sind für das Gesamtbild des Dorfcharakters bedeutend. Ob dieser gelungen ist, hängt – wenn auch nicht ausschliesslich – vom Perfektionsgrad der Renovationen ab. Es wäre bedauerlich, wenn sich die Dörfer in den kommenden Jahren in Open-Air-Museen mit homogen und perfekt gelifteten Hüllen verwandeln würden. Vor allem sollten die Häuser ihre kraftvolle Präsenz wie bisher aus den lokalen, natürlichen Materialien Holz und Stein schöpfen, ihr Alter beweist ja, dass dies möglich ist.

Die Taktik, Häuser aussen wegen des Denkmalwerts möglichst original zu erhalten und innen den Komfortwünschen der Bauherrschaft auf einen modernen Standard zu bringen, mag verständlich sein. Doch die Authentizität eines Baus hat auch mit einem selbstverständlichen Mit- und Nebeneinander von innen und aussen, Alt und Neu, Landschaft und Artefakt zu tun. Ein modernes Fenster am richtigen Ort, ein neuer Eingang oder ein Anbau sind Hinweise auf Veränderungen. Neben den Anpassungen der Vergangenheit schreiben sie Geschichten facettenreich und lebendig weiter. Denn so wie Raum nur am Widerstand seiner Konturen messbar wird, ist Geschichte nur durch Schichten, Flecken, Patina, Brüche und Erweiterungen erfassbar.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 31/2022 «Walliser Holzbaukultur».

Hüs uf der Flüe, Ernen
Bauherrschaft
Diana Pavlicek

 

Architektur
Abgottspon Werlen Architekten, Visp

 

Holzbau
Holzbau Weger, Münster

 

Atelier, Riederalp
Bauherrschaft
Familie Vergin

 

Architektur
Atelier Summermatter Ritz, Brig

 

Statik
Alpec Engineering, Brig

 

Holzbau
Holzbau Noll, Brig

 

Übungsstadel, Ernen
Architektur
Abgottspon Werlen Architekten, Visp

 

Statik
Martin Rösti Ingenieure, Frutigen

 

Holzbau
Hallenbarter, Obergesteln

Anmerkung

 

1 Charles von Büren, «Heidenhaus, neu erfunden», Danielle Fischer, «Goldzwiebeln und Lärchenschindeln».

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