Bri­tisch-mus­li­misch, öko­lo­gisch-mo­dern

Cambridge bekommt eine Moschee – die Londoner Architekten Marks Barfield und Blumer Lehmann aus Gossau erstellten die Freiform des Dachs aus 30 stilisierten Bäumen.

Publikationsdatum
03-05-2018
Revision
03-05-2018

Architektonisch ist Cambridge für seine gotischen Universitätsbauten aus Backstein bekannt, darunter das King’s College mit der imposanten Kapelle. Doch nun entsteht in einem zentrumsnahen Wohnquartier eine der Hochschule an­gegliederte moderne Holzmoschee. Was im ersten ­Moment überraschen mag, ist auf den zweiten nachvollziehbar: Rund 7000 Muslime aus 60 Nationen wohnen, studieren oder arbeiten hier.

Obschon die Baustelle kaum über den Rohbau hinaus ist, spürt man wenig von der an solchen Orten sonst üblichen Hektik. In den Pfützen auf dem Betonboden spiegeln sich durch die provisorisch mit Plastik abgedeckten Oberlichter die Wolken am Himmel. Vielleicht herrschte eine solch kontemplative Atmosphäre mit einem Gewirr aus hölzernen Hilfsgerüsten auch um die sich im Bau befindlichen Steinstützen gotischer Kathedralen oder iranischer Freitagsmoscheen, bevor die fertigen Gewölbe in den Himmel ragten. In Cambridge gliedern 30 «Bäume» aus Schweizer und EU-Holz hain­artig die Innenräume des Neubaus. Natürlich handelt es sich nicht um wirkliche Bäume, sondern um die ­bauliche Interpretation des Themas als hölzerne Freiform.

Die Bauweise in dieser Form ist – ein wenig wie damals die gotischen Gewölbe – charakteristisch für unsere Zeit. Statt in Kathedralen macht sie jedoch Furore für repräsentative Cooperate Architecture wie beim Golfklubhaus in Yeoju in Südkorea, auf öffentlichen Plätzen wie dem Metropol Parasol in Sevilla oder bei dem sich im Bau befindenden Firmenhauptsitz von Swatch in Biel. In Cambridge kommt sie für einmal beim Dach eines Sakralbaus zum Einsatz.

Nicht nur der formale Ausdruck war schon ein gotisches Thema, sondern auch der Symbolgehalt von Stämmen, die eine Decke tragen, und Kronen, die ein Dach bilden und so Himmel und Erde verbinden. Er ist darüber hinaus aber viel älter – ein historischer Beschrieb des Hauses des Propheten Mohammed besagt, dass sein Dach auf Palmstämmen ruhte. Da er von seinem Hof aus predigte, gilt es als erste Moschee.

Würdevoll das Erbe weitertragen

Ursprünglich sahen die Architekten Marks Barfield im Wettbewerbsentwurf einen Massivbau vor. Doch schon bald stellte sich heraus, dass ein so ausgeführtes Baumthema zu teuer war. Statt darauf zu verzichten, sahen sie sich nach einer alternativen Bauweise um und wandten sich an die auf Freiformen spezialisierte Firma Blumer Lehmann aus Gossau, die sie von früher realisierten Projekten kannten.

Trotz dem nachträglichen Entscheid für eine hölzerne Tragstruktur ist vom massiven Ausgangsentwurf manches geblieben: Die Aussen- und Zwischenwände sind mit einer 20 mm starken Fassade aus Klinker­steinen verblendet, um den Eindruck zu verhindern, es handle sich um ein Provisorium. Obschon vom Hauptcampus durch die Bahnlinie getrennt, ist die Moschee Teil des Gebäudebestands der Cambridge University, die sich durch die erwähnten herrschaftli­chen Backsteinbauten auszeichnet.

«Ein Stück weit mit ­diesem würdevollen Erbe mithalten sollte das Bauwerk schon», meint Gemma Collins, leitende Architektin bei Marks Barfield. Aber bis zum Hauptcampus muss man nicht gehen, die Kombination Backstein und Holz findet ihre Referenz unmittelbar vor der Tür des Geländes: Viele Reihenhäuser bestehen hier aus einer mit Backstein verkleideten Holzstruktur.

Eine klassische Aufgabe

Eine traditionelle Moschee gliedert sich in eine Waschzone vor der Gebetshalle, die längs der gegen Mekka gewandten Gebetsrichtung, der sogenannten Qibla, angeordnet ist. In der Mitte der Qibla liegt das Mihrab, eine Nische, vor der der Iman steht, während er das Gebet vorsagt; ausserdem gehört zur Moschee meist ein Minarett. Gemma Collins meint: «Überall auf der Welt prägten neben religiösen auch kulturelle und regio­nale bauliche ­Einflüsse die Architektur von Moscheen.» Die Hallen-, Kuppel- und Iwanmoschee sind drei Grundtypen. Die Architekten haben sich für eine Mischung aus den ersten beiden entschieden.

Aber wie kommt es, dass englische Architekten mit christlichem oder jüdischem Hintergrund eine Moschee bauen – noch dazu eine, die der im späten Mittelalter gegründeten Cambridge University angegliedert ist? Vielleicht vermag die Tatsache, dass ein islamisches Gotteshaus nicht wie eine Kirche eine geweihte Stätte ist, sondern pragmatisch ein religiöser, politischer und kultureller Versammlungsort, dies ein wenig klären. Nach Einhalten seiner Gesetze – wie der Ausrichtung nach Mekka und der Kennzeichnung der Qibla – kann ein Gebetsraum in jeden bestehenden Ort eingefügt werden.

Tatsächlich gibt es in Cambridge bereits eine Moschee, die wie viele andere in England in einem entsprechend umfunktionierten Bau untergebracht ist. Timothy Winter, Professor am Cambridge Muslim College und Vorsitzender des Muslim Academic Trust, bestätigt, dass die Bauherrschaft sich als offene Gesellschaft betrachte, die Experten aus jeder Tradition und jedem Land willkommen heisse. Die Cambridge Mosque ist die erste neu geplante und gebaute Moschee im Land.

Trotzdem beängstigen die 1000 während des Ramadans zu erwartenden Muslime viele Anwohner. In der Tat wirkt die Position des Baus mitten in einem Wohn­quartier auch für Aussenstehende zunächst erklärungsbedürftig, ist aber nach der Erläuterung durchaus verständlich: Wie Timothy Winter sagt, beten viele Mo­scheebesucher bis zu fünfmal täglich, daher sei es wichtig, dass der Bau von der Uni aus schnell erreichbar ist. Das Quartier um die Mill Road, das bereits viele mus­­li­mische Bewohner hat, sei daher ein guter Standort. 30 Jahre, so sagt er, habe die Gemeinschaft nach einem geeigneten Grundstück und nach Geldgebern gesucht. Er betont auch, die Community werde nicht von einer einzelnen muslimischen Ausrichtung dominiert, sondern sei sehr heterogen. Dies sieht er als günstige Voraussetzung, um eine «britische Moschee» zu bauen.

Ökologisch und angepasst

Wie eine britische Moschee im Kontext der aktuellen Zeitfragen um den Islam aussehen soll, war ein zentraler Punkt, mit dem sich Architekten und Muslim Acade­mic Trust auseinandersetzten. Angesichts der gros­sen Anzahl Muslime in England sei es Zeit, über diese Bauaufgabe nachzudenken, sagt auch die Architektin.

Britisch an dem Bau, oder vielmehr europäisch modern – denn eine zeitgenössische britische Archi­tektur gebe es nicht mehr, ergänzt Timothy Winter –, sei der Anspruch, eine Ökomoschee zu bauen. Die Räume können im Sommer quergelüftet werden, und über 63 Oberlichter fällt Tageslicht ins Innere. Das Dach ist begrünt; für die Toiletten wird Regenwasser verwendet. Wärmepumpen sorgen in Kombination mit einem Heiz- und Kühlsystem für angenehme Temperaturen, und ein Energiemanagement gehört ebenfalls zum ökologischen Gotteshaus.

Neben der architektonisch modern interpretierten Bauaufgabe wurden mit dem Muslim Academic Trust auch inhaltliche Anpassungen in Richtung eines zeitgenössisch britischen Islam vorgenommen: Hier sollen Imame ausgebildet werden, um Inhalt und Form der Ausbildung in England zu steuern. Für die Studenten sind die Wohn­räume im oberen Stockwerk vorgesehen. ­Neben der Moschee, die ohnehin jeder betreten darf, ist auch das Café in der Eingangszone öffentlich. ­Weiter sind im Gegensatz zu traditionellen Moscheen die Gebetsbereiche der Männer und Frauen nur durch eine hüfthohe Wand separiert. Zusätzlich gibt es im ­oberen Stock ein durch eine Glasbrüstung vom Haupt­raum abgetrenntes Zimmer, in das sich die ­Frauen für das Gebet zurückziehen können.

Logistisch austariert

2011 kamen die Architekten mit dem Entwurf auf Blumer Lehmann zu. Sie erteilten ihnen ein Mandat für die Vorstudie von Statik und Design. Das war eine ideale Ausgangslage, sagt Jephtha Schaffner, Projektleiter bei Blumer Lehmann – so konnte die Firma das Projekt von Anfang an begleiten und erhielt dank offerierter Qualität und Preis den Zuschlag für die Ausführung.

Wegen des Transports per Lkw durfte der Raster nur ein maximales Mass von 8.10 m haben. Die angelieferten, mit dem Ingenieurbüro SJB Statik entwickelten Elemente messen einen Drittel der Gesamtlänge und sind mit 2.70 m per Lkw gerade noch transpor­tierbar. Nach der Herstellung in Gossau brachte man sie nach Schaffhausen und von dort nach Rotterdam. Der Lastwagenanhänger wurde mitsamt den Elementen auf die Fähre verladen.

Schaffner erzählt, dass es eine grosse Herausforderung war, alles einen Monat im Vor­aus zu planen. Jeder der 80 Lkw war eine Woche unterwegs, zwei ­Wochen vorher musste er die Bewilligungen bei den Zollbehörden in Deutschland, den Niederlanden und Grossbritannien einholen. Am Ende der Produktionskette wollten die Arbeiter in Cambridge nicht tagelang auf die Elemente warten, die aus Platzgründen in der engen Wohnstrasse just in time angeliefert wurden. Die Montage des hölzernen Rohbaus ist seit Januar 2018 fertig – bis die Moschee eröffnet wird, dauert es aber voraussichtlich noch bis Ende 2018.


Stilisierter Wald

Die Begegnungsstätte Cambridge Mosque ist aus Holz gebaut und besteht aus einem Konglomerat von Trag­werks­strukturen. Die Wände bestehen aus Holzrahmen-, die Decken aus Rippenkonstruktionen. Zwei Bereiche fallen be­sonders auf. Die Moschee enthält näm­lich zwei markante Räume, die von einer beeindruckenden und bemerkenswer­ten Holzkonstruktion geprägt sind – die Eingangs- und die Gebetshalle. Das Tragwerk hier besteht aus einer Freiform, bei der sich die Stützen nach oben ausweiten und fliessend in die Dach­konstruktion übergehen. Die Säulen sollen an Bäume mit Stämmen und Baum­kronen erinnern. Wie Bäume lässt sich auch das Tragwerk in drei fliessend ineinander übergehende Ebenen abstufen: Das Fundament als Wurzelwerk, die darauf stehenden Stützen als Stamm und das verästelte Dachtragwerk als Baumkrone darüber.

Reduzierte Anzahl Typen

Die Holzkonstruktion besteht aus gekrümmten Brettschichtholzträgern, die sich komplex, aber dennoch systema­tisch verflechten. Das regelmässige Stüt­zenraster von 8.10 × 8.10 m ermöglichte trotz der gegebenen architektonischen Komplexität eine symmetrische Trag­struktur. Die Symmetrie wird nur vereinzelt, entlang der Ränder und über den Trennwänden, gebrochen. Weil die Planenden diese Bereiche geschickt detaillierten, konnten sie die für die Tragkonstruktion notwendigen 2746 Träger­­segmente – und mehr als 6000 Verbin­dun­gen – letztlich bis auf 145 Typen reduzieren. Diese wurden wiederum aus nur 23 BSH-Rohlingen CNC-gefräst. Diese dennoch hohe Vielfalt an Elementen bedingte eine absolut prä­zise Koordination von Produktion, Montage und Logistik.

2000 m2 Dachfläche

Die 3 × 4 baumartigen Träger im Atrium und die 4 × 4 in der Gebetshalle stehen jeweils auf der Geschossdecke über dem UG und tragen das frei geformte und verästelte Dach. Dabei steigt die Stütze aus 16 einzelnen Segmenten aus dem Fundament wie ein Trichter empor. Am Stützenfuss bündeln sich die Segmente, die über eine Fussplatte aus Stahl die anfallenden Lasten in den Gebäude­sockel aus Beton abtragen – über die Geschossdecke in die Betonstützen des UG und die Bodenplatte sowie über die Pfahlfundation in das Universitäts­gelände. An den oberen Enden der
16 Stüt­zensegmente schliesst nahtlos das frei geformte Tragwerk der 2000 m2 grossen Dachfläche an – die Baumkronen.

Vorgefertigte Freiform

Der Trägerverlauf hält sich an die typischen, achteckigen Muster der islamischen Architekturtradition. Die einzelnen Brettschichtholzträger verzahnen sich bei den Schnittstellen regelrecht ineinander, sodass sich alle einzeln fabrizierten Trägerabschnitte zu langen gekrümmten Durchlaufträgern und alle Baumkronen zu einem gesamten Freiformtragwerk zusammenfügen. Vormon­tiert wurde dieser Tragwerksteil auf dem Boden, danach auf den Kranz der 16 Trägerenden der Stützen aufgesetzt und mit weiteren Trägern ergänzt. Über­blattungen, Schrauben oder Nagelplatten verbinden in der Regel die Träger. Die Anschlüsse sind weder gelenkig noch biegesteif, sondern die Ingenieu­re dimensionierten diese Knoten des Tragwerks mit einer spezifisch für die Knotenverbindung ermittelten Federsteifigkeit. In sich steif trägt die Freiform alle vertikalen Lasten aus Eigengewicht, Nutz- und Auslasten. Die horizontalen Lasten aus Wind und Erdbeben tragen die flankierenden Wände ab.

Über dem sichtbaren Dachtragwerk lagert die Flachdachkonstruktion aus Holzrippenelementen. Als ortho­go­naler Trägerrost aus Primär- und Sekundärträgern liegt es im Bereich des Kranzes der 16 Stützenträgerenden auf.

Die von den Architekten entworfe­ne und von den Ingenieuren optimierte Form des Tragwerks vermeidet statisch ungünstige Flachstellen im Gewölbe. Dadurch tarierten die Ingenieure den Kräftefluss aus Zug, Druck und Biege­beanspruchungen in den Holzträgern aus und ermöglichten kleinere Trägerquerschnitte (max. BSH 160 × 250 mm). Ein schlankes und filigranes Tragwerk wurde möglich. Ausserdem bilden die drei Ebenen – Wurzelwerk, Stamm und Baumkrone – ein Ganzes. Mit diesem verflochtenen und dennoch einheitlichen Ausdruck der verholzten Pflanze schaffen die Tragelemente in den sakralen Räumen die Atmosphäre einer geschützten Waldlichtung.
(Clementine Hegner-van Rooden, Dipl. Bauing. ETH, Fachjournalistin BR und Korrespondentin TEC21)

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