Vom Sta­hl zum Be­ton

Viele Konstruktionen Nervis greifen formal auf Ingenieurformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, wie der Bauingenieur Jürg Conzett erläutert. Nervi arbeitete oft wie ein historistischer Architekt mit Zitaten oder Anspielungen, nur benutzte er als Formenschatz die Werke von Ingenieuren.

Data di pubblicazione
05-09-2013
Revision
30-10-2015
Jürg Conzett
dipl. Bauingenieur ETH / SIA, Mitglied der Geschäfts­leitung Conzett Bronzini Partner, Chur

Die Baustatik ist erst wenige hundert Jahre alt. Sie kann Ingenieuren dazu dienen, die Sicherheit und Leistungsfähigkeit gegebener Formen zu verbessern. Mit diesem Instrument können sie neue, intuitiv nicht unbedingt verständliche Formen schaffen. Doch viele Entwicklungen in der Konstruktionsgeschichte waren zunächst Extrapolationen bekannter Formen auf andere Materialien oder Verfeinerungen bestehender Konzepte. So waren Henri Labroustes Pariser Bibliotheken (1843––1868) innovativ in der Verwendung des Eisens und der dadurch entstehenden neuen Proportionen, die Grundformen seiner Bauten zeigten aber offensichtliche Bezüge zu historischen Bauten aus Stein und Holz.

Ein Gegenbeispiel für eine neue Form war die «Kegelschale», die Sir Christopher Wren in der St. Paul’s Cathedral (erbaut von 1666 bis 1708) konstruierte: «... the design must be regulated by the art of statics» bemerkte er. Wir wissen nicht genau, wie er beim Entwurf dieses Baus vorging. Die Schöpfung dieser neuen Form setzte Wissen über die Gleichgewichtsverhältnisse in räumlichen Gebilden voraus. Im Gegensatz dazu waren Anwendungen der statischen Theorie zur Bestimmung der idealen Form von Gewölben mithilfe von Seilpolygonen eher eine Bestätigung und Präzisierung des bereits vorhandenen Wissens.

Fachwerke als Vorbilder

Eine Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts war der «Schwedlerträger», ein Fachwerk, dessen gebauchter Obergurt so geformt war, dass in den Diagonalen nur Zugkräfte auftreten – was Material einsparte. Die Form des Schwedlerträgers ist intuitiv nicht zu verstehen, sondern setzt genaue Kenntnisse der statischen Verhältnisse in Fachwerkträgern voraus. Seine bedeutendste Anwendung fand er in weitgespannten Eisenbahnbrücken; für Hochbauten hingegen brachte er keine Vorteile.

Die Architekten des 19. Jahrhunderts taten sich meist schwer mit Stahlfachwerken, die eine Hauptaufgabe der damaligen Ingenieure bildeten. Wenige Ausnahmen bestätigten die Regel: Jules Astruc benutzte sichtbare Fachwerke in der Kirche Notre-Dame-du-Travail (Paris, 1902), und Victor Horta feierte die ästhetische Wirkung einer fachwerkförmigen Rahmenkonstruktion in der Maison du Peuple in Brüssel (1899). Dramatisch war die Wirkung der halb gezeigten Fachwerkträger im Zürcher Hallenstadion von Karl Egender und Robert Naef (1939), der damals weitestgespannten Halle Europas. Alle diese Bauten sind interessanterweise als Orte der Arbeiterbewegung bekannt geworden. Für bürgerliche Bauaufgaben erinnerte das Stahlfachwerk offenbar zu stark an Industrie. 

Zitate und Anspielungen in Beton 

Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand diese soziale Konnotation der Fachwerke. Mies van der Rohes Convention Hall (IIT, 1954––1956) war frei von derartigen Zuordnungen. Und auch Nervis betonierte Fachwerke waren einfach unerhörte, neuartige Bauwerke. Dabei machte Nervi etwas durchaus Ähnliches wie Labrouste: Er wechselte das Material einer bereits bekannten Form. Kein anderer Ingenieur hatte sich derart intensiv mit Fachwerken aus Beton auseinandergesetzt. In Nervis Busterminal von 1963 an der George Washington Bridge in New York erhielten die relativ konventionellen Dreiecksfachwerke des Dachs eine neue, noch unbekannte Wirkung durch ihre Ausführung in Beton, ihre Funktion als Lichtspender und ihr spannungsvolles Verhältnis zu den Stahlfachwerken der Pylone der grossartigen Hängebrücke von Othmar Ammann von 1931.

Oft bezog sich Nervi auf formale Muster der Ingenieurgeschichte, was für sein Schaffen charakteristisch war. Im Gegensatz zu Robert Maillart, der versuchte, sich von Formen der Vergangenheit zu lösen, arbeitete Nervi wie ein historisierender Architekt mit Zitaten oder Anspielungen – nur benutzte er als Formenschatz nicht die griechische Klassik, sondern Konstruktionstypen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Deutlich wurde dies in seinem Entwurf für die Brücke über die Meerenge von Messina von 1969. Im Unterbau erschien das Vorbild der russischen Türme, die seit Schuchows Fernsehturm in Moskau von 1922 international bekannt waren, darauf standen verspannte Rohrstützen in der Art Ivan Leonidovs.

Dieser Brückenentwurf war eine Collage aus Elementen des russischen Konstruktivismus, die Nervi in Beton übersetzte. Das Konstruktionskonzept der Türme bot ingenieurmässig keine Vorteile – es wäre mit den vielen Kabeln und geneigten Tragebenen schwierig zu bauen gewesen. Aber dies interessierte Nervi hier weniger, vielmehr war dieser Entwurf ein Manifest für eine Ingenieurklassik, entstanden aus Formen, die erst Ingenieure mithilfe der statischen Theorie entwickeln konnten. Die architektonische Grundhaltung der Brücke war den burgenartigen Portalen der wilhelminischen Rheinbrücken verwandt. Der wesentliche Unterschied war, dass das Pathos hier mit formalen Mitteln des Ingenieurbaus, nicht der Architektur erzeugt wurde. 

Rippen und andere Ornamente 

In den «isostatischen Rippendecken» folgten die Rippen den Richtungen der Hauptmomente einer konstant starken Platte. Statisch war diese Rippenanordnung nicht notwendig, denn in einer Rippendecke folgen die Momente zwangsläufig der Richtung der Rippen; der Ingenieur ist frei in ihrer Anordnung. Die Entscheidung Nervis war nicht nur statisch, sondern auch ornamental begründet. In der Wahl ingenieurmässiger Formen für Repräsentationszwecke stand Nervi nicht allein. Der rationalistische Architekt Giuseppe Terragni versah die hängenden Fassaden seines Wettbewerbsentwurfs von 1934––1937 für den römischen Palazzo Littorio mit Edelstahlbändern in der Richtung der Hauptspannungstrajektorien: Anwendungen der Baustatik lieferten Formen für die italienische Moderne.

Nervis Drang nach einem über das Pragmatische hinausweisenden Ausdruck der Ingenieurarbeit zeigte sich auch in der von 1961 bis 1964 erbauten Papierfabrik «Cartiera Burgo» bei Mantova: Der Wunsch nach einer stützenfreien Halle wäre mit einer leichten, quer über den Raum gespannten Dachkonstruktion einfach zu befriedigen gewesen; doch Nervi hängte das Dach an ein längs laufendes hängebrückenartiges Tragwerk, dessen zwei betonierte Pylone sich schräg der Resultierenden der Tragketten entgegenstemmten: ein weithin sichtbares, wunderbares Zeichen für die Fabrik und die bildnerische Kraft der Ingenieure.

Bild, Modell und Wirklichkeit sind nicht dasselbe

Dass Form und statische Funktion bei Nervi bisweilen auch auseinanderklafften, zeigt die Halbkuppel des Turiner Ausstellungsgebäudes Salone Principale (1948––1949). Die von unten sichtbaren Rippen waren in der Art einer Schwedlerkuppel radial auf den zentralen Punkt im Scheitel ausgerichtet. Da es sich aber um eine Halbkuppel handelte, fehlte diesen im Normalfall auf Druck wirkenden Rippen der kraftausgleichende Gegenpart.

Tatsächlich war die Tragwirkung der Halbkuppel jener einer Schar paralleler Ringe wachsender Spannweite quer zur Gebäudeachse vergleichbar. Die Rippen übernahmen eine aussteifende Funktion, die jedoch mit der durch ihre Richtung suggerierten Wirkungsweise wenig zu tun hatte. Interessant war, wie Nervi diese Diskrepanz mit einem breiten glatten «Gurtbogen» zwischen Halle und Halbkuppel sozusagen abfederte; bis zu einem gewissen Grad wäre dieser durchaus in der Lage, einen längs gerichteten Horizontalschub der gebündelten Rippen aufzunehmen. Nervis Werke lebten von der Spannung zwischen Bild, statischem Modell und nicht immer klar erfassbarer Wirklichkeit; diese Spannung ist eine der Qualitäten, die in der Auseinandersetzung mit seinem Werk faszinieren.


Der Text ist die überarbeitete und gekürzte Fassung des Vortrags vom 1. Februar 2013 «Bemerkungen zum Werk von Pier Luigi Nervi» im Rahmen der Veranstaltung «Das Prinzip Nervi» an der TU Berlin. 

Dieser und weitere Beiträge zu Pier Luigi Nervi sind erschienen in TEC21 37/2013 «Pier Lu­i­gi Ner­vi»

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