Der Herz­schlag von Sta­hl­be­ton­brüc­ken

Das Halbtagsseminar der Wissenschaftlich-Technischen Arbeitsgemeinschaft für Bauwerkserhalten und Denkmalpflege WTA in der Umwelt Arena in Spreitenbach Mitte Oktober war ein Erfahrungsaustausch und eine Potenzialabschätzung für den Erhalt von Stahlbetonbauwerken.

Data di pubblicazione
29-11-2021

Stahlbetonbrücken sind eine Schlüsselkomponente des schweizerischen Strassennetzes. Im Allgemeinen ist ihr Zustand gut. Kommen sie aber in die Jahre, entspricht ihre Tragsicherheit meist nicht mehr oder nur noch knapp den aktuellen Normen. Zeigen sich zudem Schäden, stellen sich oft Fragen, ob die Tragsicherheit gefährdet sei oder wie die Ermüdung oder die Bewehrungskorrosion das Tragverhalten beeinflusse.

Das Halbtagsseminar der WTA – Wissenschaftlich-Technische Arbeitsgemeinschaft für Bauwerkserhalten und Denkmalpflege – ging diesen Fragen nach, indem es insbesondere alternative Wege in der Erfassung des tatsächlich vorhandenen Tragvermögens von Stahlbetontragwerken thematisierte. Die geladenen Referenten deckten auf, welche Bedeutung Mess- und Berechnungsverfahren beim Erhalt von Stahlbetontragwerken haben und wie diese vor einem Rückbau gerettet werden können. Schon mal vorweggenommen: Die Möglichkeiten sind vielschichtig, vielversprechend und noch nicht einmal vollends ausgeschöpft, wie die anschliessende Podiumsdiskussion zeigte.

Istzustand zerstörungsfrei aufdecken

Sven Flütsch, Sektionsleiter Kunstbauten, TBA Kanton Zürich, beleuchtete die Sicht des Anlageeigentümers. Er wünschte sich langlebige Bauwerke und ein gemeinschaftliches Herangehen an die Herausforderungen. Die Verkehrsinfrastruktur kommt in die Jahre, und heutiges Wissen gab es zur Bauzeit teilweise noch nicht. Ausserdem steigt das Verkehrsaufkommen stetig. Beides lässt künftig einen hohen Bedarf an Erhaltungs- und Ertüchtigungsmassnahmen an Infrastrukturbauwerken erwarten. Um die Infrastruktur massvoll aufrechtzuerhalten, braucht es fundiertes technisches Fachwissen und ein hohes Mass an Erfahrung.

Ein wesentlicher Indikator, welches tatsächliche Tragvermögen das Stahlbetontragwerk noch hat, ist der Zustand der Bewehrung. Weil die Bewehrung aber versteckt im Innern liegt, ist es nicht immer einfach, Klarheit über den effektiven Zustand zu erhalten. Komplexe Mess- und Berechnungsmethoden können helfen, die Zuverlässigkeit von Zustandserfassungen und darauf basierenden Massnahmenempfehlungen zu erhöhen. Ziel ist es, bestehende Bausubstanz im Sinn der Nachhaltigkeit so lang wie möglich zu erhalten und dabei die Sicherheit zu gewährleisten.

Dabei – so Flütsch – sei es für eine Anlageeigentümerin immer eine Herausforderung, Bewährtes zu behalten und weiterzuführen und zugleich Neues zuzulassen und zu fördern, ohne in Sackgassen zu gelangen. Für eine Bauherrschaft sind die lückenlose Dokumentation und die Nachvollziehbarkeit der erarbeiteten Resultate von grosser Bedeutung, da Massnahmen an Infrastrukturobjekten in der Regel in zeitlich grösseren Abständen erfolgen und sich damit sowohl die Projektbeteiligten als auch die Technik verändert haben.

Ivan Markovic von der Abteilung Bauingenieurwesen der Ostschweizer Fachhochschule Rapperswil und Mitorganisator der Veranstaltung, erläuterte die Zustandserfassung, das Berechnungsmodell und die Erkenntnisse aus der Berechnung des Tragverhaltens einer bestehenden Strassenbrücke mit korrodierter Bewehrung im Kanton Aargau. Darüber hinaus stellte er das BIM-Modell der bestehenden Brücke vor sowie die Erfahrungen, die sich aus der Nutzung dieses Modells für die Erhaltungsplanung ergeben haben.

Die Berechnung mit nicht linearen Finite-Element-Modellen (FEM) zeigte, dass die untersuchte Brücke ein grosses Reservetragvermögen aufweist. Die Bewehrung war konstruktiv korrekt durchgebildet worden, und die Bewehrungskorrosion der statisch unbestimmten, robusten Brücke war nicht kritisch hinsichtlich der Tragsicherheit. Zu bedenken gilt es aber bei den Untersuchungen immer, dass sie eine Momentaufnahme liefern – Korrosion findet weiterhin statt – und dass die Zustandserfassung auf Stichproben basiert.

Das Potenzial bei der Anwendung von nicht linearen FEM ist dennoch gross, denn es ist möglich, das komplexe Tragverhalten der korrodierten Bewehrung zu modellieren, insbesondere die reduzierte Duktilität und den Verbund. Dabei ist allerdings eine korrekte Kalibrierung von Input-Parametern von wesentlicher Bedeutung. Das BIM-Modell der bestehenden Brücke beinhaltet die Brückengeometrie, ihre Eigenschaften und die vorliegenden Schäden, was als Basis für alle weiteren Planungen einer Instandsetzung oder einer Ertüchtigung dient.

Insofern, meinte Markovic, helfe BIM, das wertvolle Wissen auf lange Sicht zu bewahren, denn im Modell sehe man den Istzustand mit allen aktuellen Messergebnissen. Das ist neu und ermöglicht ein gutes Aufwand-Nutzen-Verhältnis. Dies wiederum stellt eine wichtige Entscheidungshilfe für künftige Instandsetzungsmassnahmen dar. Denn dieses Modell, das alle wichtigen Angaben zum Bauwerk zentral enthält, ermöglicht es, Eingriffe zu optimieren und zu priorisieren.

Auch Spyridon Sokolakis von der F. Preisig AG aus Zürich bestätigte, dass ausgefeilte Messtechniken den Erhalt stützen können, was wiederum nachhaltig ist. Können wir Bausubstanz für weitere Jahrzehnte beibehalten und weiter nutzen, so ist Reparieren und Instandsetzen in den meisten Fällen nachhaltiger als ein Neubau. Denn zum Kerngedanken der Nachhaltigkeit gehören die Wiederverwertung, Zweitnutzung und Verlängerung der Lebensdauer. Hier kann ein wesentlicher Beitrag für eine bessere Klimabilanz und ein schonender Umgang mit den Ressourcen geleistet werden.

Sokolakis gab einen vertieften Einblick in die Ermüdungsnachweise der Dauer- und Betriebsfestigkeit und erläuterte die Ermittlung der Restnutzungsdauer anhand der Schadensakkumulation. Dabei stellte er die Untersuchungen an der Fahrbahnplatte des Strassentunnels Rosenberg vor, bei denen man mit Messungen, Berechnungen und Parameterstudien zur Erkenntnis kam, dass kein Soforteinsturz der Fahrbahnplatte zu erwarten sei. Experimentelle Forschungen und Untersuchungen an bestehenden Bauwerken bezüglich Rissverhalten des Bauteils und bezüglich Ermüdungsverhalten von Bewehrungsmatten lohnen sich in Hinblick auf die Erhaltungsplanungen und Optimierung von (allenfalls unnötigen) Verstärkungsmassnahmen.

Reflektiert planen – Potenzial nutzen

Wichtig ist der planerische Rückblick, die Reflexion: Die gewonnenen Erkenntnisse aus den Bauwerksanlaysen, die Grundlage für die Instandsetzungsarbeiten sind, sollten in die Konstruktion der Neubauten einfliessen. Denn das Ziel einer jeden vertieften Untersuchung des Istzustands ist letztlich, unnötige und/oder kostspielige Verstärkungen zu vermeiden, aber auch möglichste robuste, dauerhafte, nachhaltige und in diesem Sinn langlebige Neubauten zu erstellen.

Einen bemerkenswerten Aspekt warf Panagiotis Martakis auf, tätig am Lehrstuhl für Strukturmechanik und Monitoring des IBK an der ETH Zürich. Structural Health Monitoring sei, als höre man auf den Herzschlag der real gegebenen Tragstruktur. Dabei werden Verformungen, Schwingungen, Umgebungsbedingungen, Dehnungen an kritischen Stellen, verteilte Dehnungsmessungen sowie innere und äussere Kräfte kontinuierlich überwacht. Das Ziel sei, eine Struktur zu diagnostizieren, ihren Gesundheitszustand zu ermitteln.

Die Methoden sind allerdings noch jung. Um eine robuste Diagnostik zu erhalten, gilt es weiterhin, Bauwerke zu untersuchen, Schäden zu erkennen und sie richtig einzuordnen, sodass Modellannahmen validiert und präzisiert werden können. Sind strukturelle Zustandserfassungen mittels baudynamischer Versuche und systematisierter und hochpräziser Messtechnik einmal verfeinert, ergaben sich noch aussagekräftigere Informationen zum Istzustand. Die gewonnenen Aussagen lassen sich künftig sogar für Abschätzungen von potenziellen Tragreserven von noch nicht untersuchten Brücken heranziehen. Technische Ansätze dafür sind gemäss Martakis vorhanden. Die künstliche Intelligenz könnte diese Methoden sogar weiter ausschöpfen und allenfalls einmal aus den Messmethoden ein Muster erkennen, woraus sich allgemeinen Schlüsse prognostizieren lassen könnten. Die Chancen für solche innovative Ansätze seien durchaus gegeben.

Den Wert ganzheitlich einschätzen

Eine Instandsetzung lässt sich unterschiedlich begründen – mal sind es ökologische, wirtschaftliche oder statische Gründe, mal materielle oder sogar immaterielle Aspekte, die das Potenzial des Erhalts eines Bauwerks belegen. Bei Erhalt kann oft ein radikaler Verlust des Bestands verhindert werden, denn der ist wenig nachhaltig und vermutlich in vielen Fällen auch unnötig. In jedem Fall sind aber aufwendige Aufarbeitungen notwendig. Ohne sie sind fundierte Bestandsaufnahmen nicht möglich und damit ein verhältnismässiger Massnahmenkatalog nicht realistisch. Die Schwelle des (zu) hohen Aufwands kann mit Messtechniken wie den am Seminar vorgestellten erheblich reduziert werden. Das macht künftig den Erhalt gegenüber einem Rückbau von Stahlbetonbauwerken auch aus finanzieller Sicht zu einer noch attraktiveren Variante.

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